Die Welt, die meine war

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Die Welt, die meine war
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Ketil Bjørnstad

DIE WELT,
DIE MEINE WAR

Die achtziger Jahre

Roman

Aus dem Norwegischen von

Andreas Brunstermann, Gabriele Haefs,

Kerstin Reimers

und Nils Hinnerk Schulz


Titel der norwegischen Originalausgabe:

VERDEN SOM VAR MIN.

Band III. Ảttitallet

© Ketil Bjørnstad

First published by H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) AS, 2017

Published in agreement with Oslo Literary Agency.

Die Arbeit der Übersetzer/Übersetzerinnen wurde im Rahmen des

Programms »NEUSTART KULTUR« aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung

für Kultur und Medien vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.


Der Verlag dankt NORLA, Norwegian Literature Abroad, für die großzügige Förderung der Übersetzung.


Erste Auflage 2022

© Osburg Verlag Hamburg 2022

www.osburgverlag.de Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Ulrich Steinmetzger, Halle (Saale)

Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida

Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg

Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

ISBN 978-3-95510-273-9

eISBN 978-3-95510-282-1

Inhalt

1980

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

1981

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

1982

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

1983

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

1984

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

1985

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

1986

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

 

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

1987

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

1988

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

1989

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 110

Kapitel 111

Zitatnachweis

1980
1.

Er sitzt in dem kleinen Arbeitszimmer im ersten Stock am Arbeitstisch vor der Schreibmaschine und starrt über die Baumwipfel. Das Meer liegt blaugrau auf der Außenseite der Insel. Ein Dienstag im Januar. Der Schnee auf dem Boden wird unter den schweren Wolken dunkel. Obwohl er erst am Vortag über Bäume, Felskuppen und Ackerflächen gefallen ist, wirkt er bereits schmutzig. Zwischen dem Nachbarhaus und dem Haus, in dem er zusammen mit der Anderen wohnt, entdeckt er einen riesigen zerzausten Brocken von rotem Kater. Das ist Adonis, der Schrecken von Sandøya, das Herzenskind von Hans Petter auf Hauketangen. Nun weiß er, dass die Nachbarskatze Kajsa läufig ist. Er sieht sie aus einem Spalt unter dem Haus von Tore und dessen Freundin hervorkommen. Die schwarzweiße Katze wird jetzt alt, sie wittert in allen Gerüchen, die der Wind mit sich bringt, fährt zusammen beim Anblick ihres langjährigen Liebhabers, mit dem sie mehrere Kinder hat. Er ist gerührt vom erschöpften Zug in ihrem Gesicht.

Er öffnet das Fenster, denkt, er könne irgendetwas hinauswerfen, wenn es da unten auf dem Hof zu einer gar zu argen Rauferei käme. Adonis und Kajsa knurren beide warnend, starren zur Seite, als seien sie mit etwas ganz anderem beschäftigt als dem Gegenüber. Aber die Zeit ist knapp. Jetzt kann er das Geheul aller anderen Kater hören, die zwischen Sträuchern und Unterholz hervorkommen und die Adonis bisher in respektvoller Nähe gefolgt sind. Bewahre, das sind wirklich viele. Ganz vorn sieht er Movitz, den Kater aus seinem eigenen Haus, schon seit Jahren sein Bettgesell, seit das Tier den großen Sprung von der Kiefer auf den Schlafzimmerbalkon gelernt hat. Ein Krach, jede einzelne Nacht, in der Regel genau dann, wenn er sich in den tiefsten Träumen aufhielt. Im Laufe der Zeit ist es fast zu einem lieben Ritual geworden. Im Halbschlaf aufstehen, die Balkontür öffnen und den Kater hereinlassen, die Pfoten spüren, die die Decke plattdrücken, sowie er sich wieder hingelegt hat. Movitz, der auf seinem Bauch herumtritt und dabei vor Freude schnurrt, ehe er sich mitten ins Bett legt und sich die Spuren der nächtlichen Eskapaden ableckt.

Er an seiner Schreibmaschine schafft es nicht, weiterzuschreiben. Er muss beobachten, was draußen passiert. Movitz ist wie immer hinter Adonis Nummer 2 in der Warteschlange. Aber während Movitz sich bisher in respektvoller Distanz gehalten hat, bohrt er diesmal seine Nase fast in den Schritt des furchterregenden Rivalen. Hinter Movitz steht der lächerliche Kater von Sannasvingen, der immer anfängt zu humpeln, wenn er merkt, dass er von Menschen beobachtet wird. Und hinter ihm kommt ein seltsamer Bursche, der von Østergården oder aus der Nähe stammen muss. Ein gerissener Knabe mit Schildpattmuster. Er ist so geil, dass er sich auf dem Boden wälzt. Es gehören noch drei weitere Kater zu diesem brünstigen Aufzug, aber das sind Verlierer oder Stümper, die hier bestenfalls den einen oder anderen Trick lernen können. In seiner Vorstellung war Adonis lange Zeit Sonny Liston, und Movitz war Floyd Patterson. Keiner von ihnen besitzt die Leichtigkeit Muhammad Alis. Diejenigen, die sich allen Ernstes eine Chance einräumen, es mit Kajsa zu treiben, sind bereit, sich gegenseitig die Eier abzubeißen. Und nun wird das Signal gegeben! Adonis hat es geschafft, Blickkontakt zu Kajsa aufzunehmen, aber just in dem Moment, als er sich aufbläst und einen schrillen Schrei ausstößt, springt Movitz von hinten auf ihn. Die beiden Körper verwandeln sich in einen knurrenden Ball, der den Hang hinab auf Tores Schreinerei zurollt. Sofort wittert der Hinkefuß Morgenluft und macht sich ohne Zögern über Kajsa her. Doch die erfahrene Katze windet sich aus seinem Griff und schlägt ihm die Krallen in die Visage. Der kleine Schurke jagt auf den Wald zu. Jetzt versucht der gerissene Knabe von Østergården sein Glück, aber Kajsa bleibt einfach ruhig sitzen und ignoriert ihn, wendet den Kopf den beiden zu, die unten vor der Schreinerei auf Leben und Tod kämpfen. Er, der an seiner Schreibmaschine sitzt und zuschaut, denkt voller Entsetzen an Movitzens bereits zerfressenen Kopf, an Wunden aus früheren Kämpfen, die nicht ganz verheilen wollen. Er war noch kein Jahr alt, als er von einem Fuchs gebissen wurde. Die Wunde begann zu eitern, und nach einigen Tagen fiel Movitz auf einer Seite das Fell aus. Dennoch stand er an der Tür, quengelte und wollte los zu neuen Abenteuern. Später bohrten sich die Krallen anderer Kater in seine Stirn, er hatte tiefe Bisswunden im Schritt. Er schien sich aus allem nichts zu machen. Als ob er den beiden Menschen im Haus an jedem einzelnen Tag dafür dankte, dass er nicht kastriert worden war.

Die Kater sind jetzt unter der Schreinerei verschwunden. Nun ertönt ein so herzzerreißendes Geheul, dass ein Mensch eingreifen muss. Er springt auf, stürzt die Treppe hinunter und hinaus auf den Hof. Dort sieht er Adonis, der in gestrecktem Galopp auf die Straße zujagt. Movitz bleibt verwirrt zurück und wirft seinem Futtermeister einen unschlüssigen Blick zu. Dann scheint der Kater begriffen zu haben, dass er gewonnen hat. Dass er jetzt die Nummer 1 ist. Mit ruhigen Schritten, aber mit einem vor Brunst bebenden Körper geht Movitz langsam den Hang hoch auf die eigene Mutter zu. Sie hat sich auf dem Weg zwischen den beiden Häusern in den Schnee gelegt. Sie erwartet ihren Sohn.

Der Diener des Katers zieht sich langsam zu seiner Haustür zurück. Wieder rieseln große Schneeflocken zu Boden. Bald werden auch die Taten und Untaten dieses Tages vergessen und verborgen sein.

Er bleibt auf der Treppe zum Arbeitszimmer stehen. Das war also die Welt der Katzen. In der Welt der Menschen ging es oft noch brutaler zu. Für Einzelne spielte es nicht einmal eine Rolle, ob das Gegenüber beim Sex lebendig oder tot war. Selbst mit einer Leiche zu vögeln, konnte seinen Zweck erfüllen.

2.

In seiner allerersten Erinnerung steht er auf der Treppe zu Hause im Melumvei, gleich vor der Haustür. Später wird er denken, dass das in den ersten Monaten des Jahres 1955 gewesen sein muss.

Es ist Frühling.

Er erinnert sich an Staub, an die letzten Schneereste. Er erinnert sich daran, dass er zu sich selbst gesagt hat: Jetzt bin ich drei Jahre alt.

Er erinnert sich an den Zaun und das rote Haus auf der anderen Straßenseite. Er erinnert sich an die Angst vor den beiden Jungen, die dort wohnten, und vor deren schwarzem Hund. Aber vor allem erinnert er sich an das Loch in der Treppe daheim. Es war so groß, dass ein Erwachsener eine Faust hineinstecken konnte. Er konnte mit beiden Füßen hineintreten, wenn er die Schuhe auszog.

Es war so erschreckend groß.

Wie war das Loch entstanden?

Er wagte nie, seine Eltern danach zu fragen. War es ein Meteorit gewesen? Eine Atombombe? Ein vom Himmel gestürzter Engel? Oder hatten sich die Eltern gestritten und Vater oder Mutter hatte mit dem Fuß aufgestampft, wieder und wieder, in gewaltigem Zorn?

Oder war er es selbst gewesen?

Dieser letzte Gedanke ist der erschreckendste. Das Gefühl, dass mit ihm vielleicht etwas Schwerwiegendes nicht stimmt, dass Gott ein Zeichen auf die Treppe vor der Haustür gesetzt hat, damit ER in alle Ewigkeit daran denkt, dass hier einer wohnte, mit dem etwas ganz und gar nicht stimmte.

Bis ihm dieser Gedanke gekommen war, hatte er sich des Lebens freuen können, ehe er groß genug wurde, um sich sagen zu können, er sei jetzt drei Jahre alt, er müsse versuchen, sich für den Rest seines Lebens an diesen Augenblick zu erinnern.

Jetzt, da der letzte Gedanke gedacht ist, hofft er, diesen Augenblick vergessen zu können. Der Wind in den Bäumen, der Gesang der Vögel, das Hupen eines Autos in der Ferne. Die Straßenbahn nach Lijordet, die an der Haltestelle Røa vorfährt.

Sich liebevoll zu erinnern. An alle, die da waren. Die ganze Zeit. Die versuchten, sich um mich zu kümmern. Die tiefe Dankbarkeit. Dafür, dass ich wirklich die Möglichkeit erhielt, dieses Leben zu leben. Aber die Erinnerung hat ihre eigene Dramaturgie. Wir erinnern uns an das, woran wir uns erinnern wollen. Das, was wir vermissen, und das, was wir nicht verdrängen können. Deshalb werden diese Bücher über die Vergangenheit als Romane geschrieben. Genau wie das Leben hat der Roman oft ein Leitmotiv und mehrere Nebenmotive. Und wie im Leben sucht unser Gedächtnis aus, welche Erinnerungen wesentlich sind und in Erinnerung bleiben und welche vergessen werden sollen.

So entsteht eine Dramaturgie, die einem Roman zum Verwechseln ähneln kann.

Nicht das Drama an sich sorgt für die Dramaturgie. In Madame Bovary ist das Fehlen von Ereignissen ebenso wichtig wie die Ereignisse selbst. Die Langeweile an sich ist eine der Voraussetzungen dieses Buches.

Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich oft am besten an das Ereignislose: vor dem Haus im Melumvei in Røa auf einer Treppe zu sitzen.

Zumeist war ich glücklich und ahnungslos. Aber ich weiß auch noch, dass ich Unbehagen verspürte.

Meine erste bewusste Erinnerung: dass ich mich fürchtete, vor dem Leben und vor allem, was vor mir lag.

3.

Am 13. Januar 1980 landet das erste F-16-Jagdflugzeug der norwegischen Luftwaffe auf dem Flugplatz Rygge bei Moss. 71 weitere werden folgen. Sie sollen Norwegen gegen die Feinde im Osten verteidigen, gegen den großen Bären Sowjetunion. Sie sollen der Schild der NATO in der Luft sein, bereit, im Notfall ihre Bomben überall auf Europa abzuwerfen. Und später auch viel weiter weg, zum Beispiel über Afghanistan und Libyen.

Major Steinar Berg sitzt im Cockpit. Er ist 950 Stundenkilometer geflogen und hat für die Strecke von Amsterdam hierher siebzig Minuten gebraucht.

 

Verteidigungsminister Thorvald Stoltenberg ist noch besserer Laune als sonst.

Der Nebel legt sich über große Teile Südnorwegens, Dänemarks und Südschwedens. Auf Sandøya lauschen wir der Stille. Nichts ist so still wie Nebel. In Västra Götalands län, zwischen Tjörn und Stenungsund, ist der norwegische Massengutfrachter Star Clipper unterwegs zur Almöbro, der größten der drei Brücken, welche die Insel Tjörn mit dem Festland verbinden. Die Brücke ist im Nebel nicht zu sehen, aber auf dem Schiff erkennt man sie deutlich im Radar.

Dann zerbricht das Steuerruder des Schiffes.

Der Steuermann kann keinen richtigen Kurs mehr zu der Schrägkabelbrücke halten, die eine Segelhöhe von 43 Metern gestattet. Es geht auf halb zwei am 18. Januar 1980. Die Star Clipper hält genau auf den einen Brückenpfeiler zu. Bei dem Zusammenstoß brechen die tragenden Rohrbögen ein. Der Mittelteil der Brücke ist nicht mehr vorhanden. Große Mengen Beton und Armierung stürzen auf das Schiff, aber niemand von der Mannschaft kommt ums Leben. Nach und nach fahren aus beiden Richtungen bei dichtem Nebel Autos auf die Brücke. Sie können nicht sehen, dass die Mitte der Brücke nicht mehr existiert. Die Autos fallen über den Rand und verschwinden im eiskalten Wasser.

Die Mannschaft auf der in Liberia registrierten Star Clipper der Fred. Olsen-Reederei lässt Notraketen steigen, um die Autofahrer zu warnen, aber das hilft nichts.

Acht Menschen kommen ums Leben.

Erst drei Tage später werden die Wagen auf dem Meeresboden gefunden.

Nachts liegt er wach. Er denkt an die Autofahrer, was sie empfanden in den letzten Sekunden ihres Lebens, ehe der Tod plötzlich kam. Die banalste aller Fragen. Ja, was hast du empfunden? Die Meeresoberfläche, die sich näherte. Das Unbegreifliche an dem Sturz. Die Brücke, über die sie so oft gefahren waren und die plötzlich nicht mehr vorhanden war. Konnten sie noch denken, dass sie sterben würden? Und der liebe Onkel Odd, der ihnen allen so viel bedeutete. Wusste es der Onkel, als der Schlag kam? Bei der Beerdigung sah er im Gesicht des Vaters Trauer und Verzweiflung, wie er sie noch nie gesehen hatte. In all den Jahren danach hatte er versucht, dieses Weinen zu verdrängen. Er hatte sich gesagt, dass der Vater nur zweimal geweint hatte: einmal, nachdem er sich mit der Mutter gestritten hatte auf dem Weg zu einer Hütte bei Hallingskarvet, das andere Mal beim Tod der Mutter, viele Jahre später.

Aber während er schreibt, denkt er plötzlich: Nie hat der Vater so hilflos geweint wie nach Onkel Odds Tod. Hatte er das verdrängt, weil der Vater damit eine andere Seite seiner selbst gezeigt hatte? Im selben Moment erinnert er sich an andere Augenblicke, in denen der Vater geweint hatte. Was ging in seinem Kopf vor? Wie sortierte er die Erinnerungen? Wovor hatte er sich beschützen wollen?

Die Gewissheit des Todes. Er fragt sich, wie stark er wohl selbst sein wird an dem Tag oder in der Nacht, wenn es geschieht. Die 175 Menschen in der Stierkampfarena in Bogotà erhielten auch keine Vorwarnung. Die Tribüne unter ihnen brach einfach innerhalb weniger Sekunden zusammen.

Die Andere ist eingeschlafen. Movitz liegt an seinem Platz im Bett. Er schläft ebenfalls. Die Stille vor dem Haus dringt bis ins Schlafzimmer vor. Oft füllt sie das Haus mit noch mehr Stille. Und diese Stille drängt sich zwischen ihn und die Andere, nicht als etwas Unbehagliches, sondern als etwas Feierliches. Denn sie leben hier auf dieser Insel draußen am Meer wirklich ein stilles Leben. Es passiert nicht viel, es gibt nicht viel, was sie einander erzählen können, wenn sie sich an den Abendbrottisch setzen oder ihr Tagewerk erst zur Hälfte hinter sich gebracht haben. Sie versuchen, etwas zu erschaffen, alle beide. Sie webt, er schreibt an einem Buch oder spielt Klavier. Aber selbst die Flügeltöne können gegen die Stille nichts ausrichten. Die Stille ist keine Freundin. Aber sie ist auch keine Feindin. Sie steht einfach da, mitten im Raum, und sagt: Hier bin ich. Was habt ihr jetzt vor mit mir?

Er kann nicht antworten. Er denkt nur, dass er sich entscheiden muss. Entscheiden, welches Leben er leben will. Aber hat er sich nicht bereits entschieden?

Er lebt seit fast fünf Jahren auf dieser Insel.

4.

Das Telefon klingelt. Ich fahre jedes Mal zusammen. Wie haben sie es geschafft, die Leitung bis hierher ans Meer zu legen? Führt die Leitung über den Boden des Hagefjord zwischen Lippfisch, Kabeljau und Fischen, die als nicht essbar gelten? Riskieren sie nicht, dass Krebse oder Hummer die Leitung kappen?

»Morgen, du. Hier ist Kjell.«

»Welcher Kjell?«

»Es gibt ja wohl nur einen Kjell, mein Junge.«

»Ach, sicher«, sage ich, auch wenn ich noch zwei weitere kenne. Kjell aus meiner Klasse. Kjell vom Norsk Musikkforlag.

In der Leitung herrscht erwartungsvolle Stille. Fast wie in alten Zeiten, als die Telefonistin in Stangeland mithörte. Kjell Bækkelund ruft zwar nicht zum ersten Mal an, aber der letzte Anruf ist lange her, damals wohnte ich noch in Oslo. Bis hierher nach Vestre Sandøya vor Tvedestrand anzurufen ist weit, denke ich. Man ruft nicht so weit an, wenn man nicht etwas ganz Besonderes will. Die Frau in der Zentrale kratzt sich dabei im Gebührenzählerschritt, wie Trond-Viggo immer sagt.

»Wann kommst du nach Oslo?«

Er hat diese nasal lispelnde Stimme, die ganz Norwegen kennt. Nicht viele klassische Musiker sind so bekannt wie er. Bækkelund, Levin, Tellefsen, Knardahl. Das sind schon alle. Und Aase Nordmo Løvberg, natürlich. Ich setze mich automatisch gerader. »Ich komme, wenn du rufst«, sage ich.

»So gehört sich das, Junge«, sagt Bækkelund zufrieden. »Kommst du dann heute Abend? Um Punkt sieben?«

Ich schaue auf die Uhr. »Das kann ich schaffen«, sage ich. Wenn man auf Sandøya wohnt, kommt man, wenn jemand ruft. Wir, die wir uns Kulturarbeiter nennen, kommen, wenn die Mächtigen anrufen.

Bækkelund ist mächtig.

Bækkelund hat etwas mit mir vor. Aber ich weiß nicht, was. Hat er mich für eine Rolle in seinem Ränkespiel ausgesucht? Er ist nicht nur einer unserer bedeutendsten Pianisten, reist um die Welt und spielt neue norwegische Komponisten, Musik, die im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten wird, die aber gerade jetzt von Botschaften und Konsulaten geschätzt wird zwischen Kanapees und Lobesreden. Er war immer schon großzügig, hat mir vorwärts geholfen, mit fast panegyrischen Artikeln in den Zeitungen und spannenden Projekten, von denen jeder Pianist begeistert gewesen wäre. Wie damals, als er sechs der bedeutendsten Pianisten einlud, während der Festspiele in Bergen im Konsertpalé Rachmaninow-Präludien zu spielen. Er wollte daraus eine Schallplatte bei der Deutschen Grammophon machen. Fast wäre es ihm gelungen.

Als ich dann im Mirafiori sitze, im Schneegestöber bei der Raststätte Cinderella und bei Søndeled, denke ich an die hervorragende Stellung, die er bei den Sozialdemokraten einnimmt. Wenn er zu seiner Adventsparty einlädt, kommen alle. Ministerpräsident Odvar Nordli, bestimmt das gesamte Kabinett, Knut Frydenlund, Inger Louise Valle, Per Kleppe und Bjartmar Gjerde. Sicher doch! Jens Evensen und Eivind Bolle. Gro Harlem Brundtland, die junge, frische und sportliche Umweltministerin, über die alle reden und die noch dazu Ärztin ist. Bestimmt finden sich einfach alle zu diesen Festen ein. Aber keine Pianisten. Nicht ich. Mir sollte die Ehre zuteilwerden, später zu kommen. An einem kalten Januarabend, an dem der Frostnebel an der Küste anzeigt, dass das Eis vielleicht liegenbleibt.

Denn das war etwas, das alle über Bækkelund wussten. Er hatte immer einen Auserwählten. Einen, mit dem er im Frognerpark spazieren ging. Einen, mit dem er an einem Zweiertisch im Theatercafé saß. Es konnte auch eine Auserwählte sein, eine Frau. Dann war es zumeist eine, die seine nächste Ehefrau oder Lebensgefährtin werden sollte. Aber es konnte auch ein Mann sein. Dann war es ein Kronprinz. Einer, der später Kirchen- und Bildungsminister werden würde oder vielleicht sogar Außenminister.

Ich schlingere die kurvigen Straßen durch Telemark hoch auf das Gewerbegebiet bei Brevik zu. Vor meinem inneren Auge tauchen einige unfassbare Bilder auf. Soll ich Politiker werden? Ich erröte, als ich mich plötzlich hinter dem Schreibtisch des Außenministers erblicke. Hier verschiebe ich die Ordner. Eine schöne Frau in einer grünen Wolljacke kommt herein und lächelt. Es ist meine Privatsekretärin. Die persönliche. Die weiß, dass ich immer im Schrank gleich hinter mir eine Flasche vom besten Whisky stehen habe. Jetzt teilt sie mit, dass es bald Zeit wird, sich nach Gardermoen zu begeben, da auf Fornebu keine Jumbojets landen können. Präsident Jimmy Carter wird in weniger als einer Stunde mit der Air Force One eintreffen. Da der norwegische Ministerpräsident plötzlich erkrankt ist, habe ich das Oberkommando. Mit einem kurzen Telefongespräch habe ich mich von meinem üblichen fünften Platz entfernt. Jetzt stehe ich plötzlich an zweiter Stelle, bin fast die Nummer 1. Oder will er von mir etwas anderes? Will er mich zum Chef der Universitätsbibliothek machen? Will er vielleicht, dass ich Landeskonservator werde? Bækkelund ist die eigentliche Spinne im Netz derjenigen, die etwas bedeuten. Er hat Macht über den Möbelhändler in Jessheim, über das gesamte norwegische Parlament, er könnte mit den Fingern schnippen und mich im Handumdrehen zum Rundfunkdirektor machen. Aber was sollte ich in diesem Fall der Anderen sagen? Sie will doch nur auf Sandøya wohnen!

Die Machtphantasien werden immer stärker, und als ich an Larvik vorüberfahre, bin ich bereits zum Oberkommandanten aller Streitkräfte geworden. Ich sitze an einem geheimen Ort in Akershus, wo niemand mich sehen kann. Im hintersten Raum steht ein gewaltiger Steinway-Flügel. Während alle glauben, dass ich verteidigungsstrategische Angriffspläne gegen Breschnew in der Sowjetunion schmiede und mit Svein Sørensen von der Heimvolkshochschule Svanvik in Pasvik telefoniere, meinem Verbündeten, übe ich stattdessen das B-Dur-Konzert von Brahms. Das soll mein Dank an Bækkelund sein. Meine Art, ihn zu überraschen. Vielleicht freut er sich gar nicht. Vielleicht ärgert er sich, weil ich gerade in diesem Moment so viel besser spiele als er. Aber so sind die Folgen der Freigebigkeit. Man bekommt nicht das, was man verdient. Jetzt bin ich es, der Adventsfeste veranstaltet und andere anruft.

Erst als ich mich Drammen nähere, lande ich auf der Rollbahn der Wirklichkeit und merke, dass ich die Geschwindigkeitsbegrenzung um dreißig Kilometer überschritten habe. Ich bremse verdrossen, es gefällt mir nicht, wie ich ihm immer gehorche. Was soll ich eigentlich zurückzahlen? Was kostet ein Superlativ? Meine Gedanken waren noch immer düster, nach dem tristen Silvesterabend, an dem ich mich im Schnee erbrochen und mich selbst von außen gesehen hatte. Die Kontrolle, die ich in den letzten Jahren gehabt hatte, war verschwunden. Ich wusste nicht mehr, wo ich mit dem Schreiben und der Musik hinwollte. Ich wusste nur, dass ich dünner werden wollte. Noch dünner. Dass es von mir noch weniger geben sollte. Erst dann würde ich die Kontrolle haben.

Ich war einer geworden, der Angst davor hatte, etwas zu verpassen. So war es früher nie gewesen. Da hatte ich vor überhaupt nichts Angst. Jetzt hatte ich Angst vor allem. Angst, dass mir das Leben zwischen den Fingern zerrinnen würde.

Im Frognervei kamen sie aus dem Wohnzimmer gelaufen, sowie ich den Schlüssel ins Schloss steckte.

»Ketil!«

Jedes Mal, wenn Mutter meinen Namen rief, kam ich mir vor wie sechs Jahre alt. Und wenn Vater rief, war ich noch jünger.

»Ich bleibe nur bis morgen. Bækkelund will mit mir sprechen.«

»Bækkelund?«, wiederholt Vater beeindruckt, auch wenn ich die Enttäuschung in seiner Stimme höre. Er möchte so gern mit mir reden wie in alten Tagen. Bis spätabends am Küchentisch sitzen und über Politik diskutieren. Ich spüre mein schlechtes Gewissen. Sie hatten gedacht, ich würde häufiger von Sandøya herüberkommen, da ich trotz allem die Miete für die relativ teure Wohnung im ersten Stock bezahle. Stattdessen lasse ich mich immer seltener blicken.

»Aber ich komme bald wieder«, sage ich. »Und dann bleibe ich einige Tage.«

Ach, diese frommen Lügen, die gebrochenen Versprechen. Hatte ich wirklich für irgendjemanden einen Wert? Bedeutete ich etwas für andere Menschen? Der Gedanke kam plötzlich und war durchaus nicht angenehm. Ich hatte noch nie so gedacht. Es waren die anderen, die etwas bedeuteten. Mutter, Vater, Tormod, Aimée, Ida, Ole, Rotkäppchen, die Andere. Ich war es, der sie brauchte, nicht umgekehrt. So sollte es sein. So musste es sein.

Es schneit jetzt nicht mehr. Der Bürgersteig ist glatt. Ich rutsche zum Olav Kyrres plass hinunter. In der Bygdøy allé sind Eisbuckel. Ich habe es eilig. Es ist zehn vor sieben. Da sehe ich die alte Dame auf der anderen Straßenseite. Ach, diese dickköpfigen alten Hexen, die niemals aufhören, sich auf ihr Lebensrecht zu berufen. Die durch die Straßen schwanken, fast schwerelos mit ihren alten, klapprigen Skeletten und mit löchrigen Strümpfen. Für wen, um alles in der Welt, halten die sich? Für die zu früh geborenen Kinder der Ewigkeit? Werden sie denn niemals sagen, genug ist genug, sich auf stille, höfliche Weise zurückziehen, wie jeder normale Mensch es tun würde, sich von ihrem Stuhl erheben, langsam zur Garderobe gehen, nach Hut und Mantel greifen, die Gamaschen überstreifen und in der Nacht verschwinden, sich in ein Grab legen, während der Schnee rieselt, und zu Erde werden, ja, zu Erde, Gedärm und Eingeweide den Maden überlassen, diese absolut notwendige Verwesung, die Munch und Hamsun so schön beschreiben, und durch die Platz für andere geschaffen wird. Ich bin unterwegs zu Bækkelund. Er wartet auf mich, aber die alte Dame rutscht weiter über den Bürgersteig, ohne zu begreifen, dass das Projekt, auf das sie sich an diesem Abend eingelassen hat, einer Besteigung des Mount Everest gleichkommt.

Ich versuche, sie nicht anzusehen. Noch hält sie sich auf den Beinen. Jetzt gibt es nur uns beide. Sie auf der einen Seite. Ich auf der anderen. Zwischen uns liegt das Leben. Oder ist es der Tod? Wenn sie oder ich die Straße betreten, wird ein Auto kommen, und sie oder ich werden sterben. Wofür leben wir? Ich lebe, um eine wichtige Verabredung mit Kjell Bækkelund einzuhalten. Aber was in aller Welt hat sie vor?

Ich gehe schneller, damit ich an ihr vorbei bin, wenn sie stürzt. Es ist ja nur eine Frage der Zeit. Wenn ich an ihr vorüber bin, bin ich die Verantwortung für sie los. Aber gerade jetzt stürzt sie, gleich vor dem teuren Küchenladen. Mein Herz wird schwer. Sie liegt auf der anderen Straßenseite und strampelt. Beine und Arme in alle Richtungen.

»Ich komme!«, rufe ich. »Bleiben Sie ganz still liegen! Versuchen Sie nicht, aufzustehen, gnädige Frau! Dann stürzen Sie nur wieder!«

Ich finde eine Lücke zwischen den vielen Autos und Bussen, die gerade jetzt wie eine Flutwelle aus Lärm, Bewegung und Auspuffgasen hereinbrechen. Wird dieses gemeine Geschehnis meine Zukunft ruinieren? Ist es der humanistische Roboter in mir, der meine Beine über die Straße zwingt? Warum musste sie gerade heute Abend auf diese lebensgefährliche Straße hinausgehen, denke ich wütend. Sie hätte so viele andere Abende gehabt. Dies ist der Abend, an dem ich zu Kjell Bækkelund bestellt bin. Er hat Pläne mit mir. Große Pläne. Er hat mich von Sandøya herkommen lassen. Das sind zwischen drei und vier Stunden Fahrt. Niemand kann erwarten, dass jemand einer solchen Aufforderung nachkommt, wenn nichts angeboten wird. Bækkelund hat etwas mit mir vor. In seiner Nähe gibt es nur Prominente. Aber nun liegt diese Elendsgestalt da und zappelt zwischen den Eisbuckeln. Großer Gott, auch ein Mensch, denke ich, als ich mich nähere. Und als ich mich Sekunden später über sie beuge, um zu hören, ob sie sich verletzt hat, sehe ich zu meinem Entsetzen, dass dort Tante Svanhild liegt.