Buch lesen: «Novemberrosen»

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Kerstin Teschnigg

Novemberrosen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

PROLOG

Kapitel 1 15 Jahre später – 17. November

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9 Ein neues Jahr

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13 Es endet wie es begann

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20 Und wieder kommt alles anders…

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23 25. Juli – JA!

Kapitel 24 2 Jahre später – 12. Oktober

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33 – 10. November

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42 – 10 Wochen später

EPILOG

Impressum neobooks

PROLOG

Leise schließe ich das Gartentor hinter mir, es ist schon spät, sehr spät. Um ganz genau zu sein, ich bin zu spät, wie immer. Im Haus ist alles dunkel, es brennt kein Licht. Das ist gut. Ich überlege kurz, ob ich nicht besser den Hintereingang nehmen soll. Nein, keine gute Idee, Dad könnte noch in seinem Arbeitszimmer sein, und dann bin ich fällig. Ich schleiche weiter zur Tür und krame in meiner Jeansjacke um meinen Hausschlüssel heraus zu holen. Mist. Diese Scheißstufen. Ich stolpere über die erste Stufe vor dem Hauseingang hinauf, dabei fällt mir auch noch der Schlüssel, gefolgt von einem Scheppern in der nächtlichen Stille, aus der Hand. Schnell hebe ich ihn wieder auf und versuche ihn möglichst leise ins Schloss zu stecken. Bevor mir das gelingt geht die Tür auch schon mit Schwung auf. Ich stolpere erschrocken die Stufen welche ich gerade so mühsam erklommen habe wieder hinunter. Upps. Dad sieht gar nicht erfreut aus, ich muss grinsen, seine Miene sieht zu lustig aus. Ich warte auf meine Standpauke, je schneller er anfängt, desto schneller ist es vorbei. Erfahrungssache.

„Kannst du mir sagen was es zu lachen gibt? Es ist nach Mitternacht, morgen musst du zur Schule.“

Er zeigt wütend auf seine Armbanduhr. Ja, ich weiß wie spät es ist. Ich beiße mir auf die Unterlippe und verdrehe die Augen. Ich nehme die Stufen wieder in Angriff und versuche ihn zu ignorieren. Eins, zwei, drei, hopp ich bin oben, geht doch. Ich stehe dicht vor ihm, er lässt mich nicht durch und baut sich einschüchternd vor mir auf. Ich versuche nicht zu wackeln, es ist ein komisches Schauspiel.

„Du bist betrunken.“

Er schüttelt den Kopf, seine Worte klingen abwertend, was mich aber absolut kalt lässt. Seine Augen verengen sich zusehends. Ich nehme eine Haarsträhne, die sich aus meinem Zopf gelöst hat zwischen meine Zähne und kaue darauf herum, ich muss noch immer grinsen, ich kann einfach nicht aufhören, ich bemühe mich ja, aber wenn ich ihn ansehe, muss ich noch mehr lachen. Er packt mich am Ärmel meiner Jacke, zieht mich in den Flur und wirft die Tür hinter mir zu. Ich zucke kurz zusammen.

„Du glaubst du kannst machen was du willst? Du glaubst ich lasse mir das von dir gefallen? Da täuscht du dich! Für dein Verhalten wird es Konsequenzen geben, das habe ich dir schon vor ein paar Tagen gesagt, aber scheinbar interessiert dich das nicht! Mir reicht es jetzt!“ Seine Stimme erhebt sich, es ist mir egal, ich lehne mich lässig an den Türstock und lasse ihn reden. Bla, bla, bla, immer dasselbe Geplänkel, jedes Mal.

„Ehrlich, ich weiß nicht mehr was ich mit dir machen soll Luisa. Du bist fünfzehn. Ich kann dein Verhalten nicht verantworten.“ Er schüttelt verzweifelt den Kopf.

Ja ich weiß, ich bin fünfzehn, fast. Ich liebe es ihn zur Verzweiflung zu bringen, es ist wie ein Spiel. Wie lange dauert es heute bis er ausrastet? Ich bevorzuge es keine Antwort zu geben, er weiß sowieso alles besser und mein Schweigen bringt ihn noch mehr in Rage.

„Warst du wieder mit diesem Ben zusammen?“, fährt er indes fort.

Ich finde er hat genug gefragt, über Ben spreche ich sowieso nicht mit ihm, daher setze ich zum Rückzug an und versuche mich an ihm vorbei zu drängen. Ich will auf mein Zimmer gehen, er hält mich unsanft am Arm fest und schüttelt mich ein wenig, als wolle er mich zur Vernunft zwingen.

„Du bleibst hier. Wir sind noch nicht fertig.“

„Doch sind wir, lange schon. DAD.“

Ich versuche erneut an ihm vorbei zu kommen, was wieder nicht glückt.

„Ich verbiete dir jeglichen Kontakt mit diesem Jungen, er ist kein Umgang für dich. Ich werde diesen Typen anzeigen! Du bist minderjährig und er achtzehn! Sieh nur was aus dir geworden ist. “

Er mustert mich mit einem abfälligen Blick, als würde ich ihn anekeln. Ich stemme meine Hände in meine Hüften.

„Ja, was ist aus mir geworden? Ich bin nicht mehr dein süßes Mädchen und ich will es auch nicht sein. Ich scheiße auf diese falsche Familienidylle! Zeig ihn doch an, wenn dich das glücklich macht, aber dann bin ich weg. Für immer!“

Trotz allem was ich intus habe, meine ich das ganz ernst, ich lasse mir von ihm nichts mehr gefallen.

„Luisa! Deine Mutter würde…“

Seine Stimme wird immer lauter, das beeindruckt mich immer noch nicht, aber mit Mum lasse ich mir nicht drohen.

„Lass Mum da raus, sie hat damit nichts zu tun!“

Jedes Wort über meine Mutter klingt wie eine Lüge aus seinem Mund. Wenn sie nur hier wäre, sie würde mich verstehen. Er sieht mich weiterhin mit böser Mine an, sagt aber kein Wort mehr. Am liebsten würde ich ihm vor die Füße spucken, aber das ist wohl keine so gute Idee. Mein Tonfall ist scharf, auch wenn ich mich in Anbetracht meines momentanen Zustandes schwer tue einen ordentlichen Satz zu sprechen, fauche ich ihn an.

„Geh doch zu deiner geliebten Alice.“

Er schüttelt verzweifelt den Kopf, ich boxe mich endgültig an ihm vorbei und laufe die Treppe hoch in mein Zimmer, wo ich die Tür hinter mir zuwerfe, sie versperre und mich aufs Bett schmeiße. Ich hasse ihn, er ist so ein Ignorant. Es dauert nicht lange und es klopft an meiner Tür, ich reagiere nicht.

„Es ist spät. Heute lasse ich dich in Ruhe, aber es geht so nicht weiter, wir sprechen uns morgen.“

Er kann mich mal, ich will kein Wort mehr von ihm hören, nicht heute und nicht sonst irgendwann. Ich stecke meinen Kopf unters Kissen und warte. Nach einiger Zeit lausche ich, ob ich ihn noch hören kann. Alles ist ganz leise, er scheint zu Bett gegangen zu sein. Ich stehe auf und öffne vorsichtig die Tür. Alles mucksmäuschenstill. Ich schließe die Tür wieder, gehe zum Fenster und mache es mit so wenig Geräusch wie nur möglich auf. Ich setze mich auf die Fensterbank und schwenke meine Beine galant nach draußen. Geht doch, so betrunken bin ich also wirklich nicht. Dad hat wie immer übertrieben, aber er übertreibt ständig. Mit ein wenig Schwung springe auf das Vordach der Veranda und klettere das Rosengitter hinunter. Au, Scheiße, die Rosen sind ganz schön stachelig, ich springe lieber ab, bevor ich mich noch weiter piekse und lande unsanft auf meinem Allerwertesten im Gras. Na bitte, geht doch, man könnte zwar eleganter landen, aber was soll´s. Ich steige auf mein Fahrrad das in der Auffahrt steht und fahre die dunkle Straße entlang, die nur durch den Mond in ein sanftes grau getaucht schimmert. Gut, dass ich ein paar Seitenstraßen kenne, die eine Abkürzung zu Bens Haus sind. Mein Fahrrad lehne ich an den weißen Gartenzaun und öffne das Gartentürchen. Es quietscht ein bisschen. Im Haus ist alles finster, aber in Bens Zimmer leuchtet ein schwaches Licht. Rufen kann ich um diese Zeit schlecht, wenn ich nicht die ganze Straße wecken will. Ich überlege, dann hebe ich ein paar kleine Kieselsteine aus dem Rosenbeet auf und werfe den ersten an Bens Fensterscheibe und warte kurz. Keine Reaktion. Ich versuche es noch einmal und gleich noch einmal. Ah, da ist er ja, er öffnet das Fenster und schaut suchend in die Dunkelheit. Ich gehe einen Schritt näher und winke ihm.

„Luisa?“, flüstert er und sieht mich überrascht an.

Ich fuchtle wortlos mit meinen Händen, ob er nicht vielleicht herunter kommen kann. Er signalisiert mir, dass ich leise sein soll und er gleicht komme. Ein paar Augenblicke später öffnet er auch schon die Tür und steht vor mir. Er ist ganz zerzaust und trägt nur Boxershorts und ein weißes Shirt.

„Mensch Luisa…Was machst du hier? Warum bist du nicht nach Hause gegangen? Du weckst noch Mum.“

Ich dachte er freut sich, wenn ich noch zu ihm komme, sieht aber nicht so aus, meine Mundwinkel verziehen sich gekränkt.

„Ich kann auch wieder gehen…“, schmolle ich.

„Nein…sei nicht albern.“

Er kommt heraus und schließt ganz leise die Tür hinter sich, dann nimmt er meine Hand und wir gehen durch den Garten, wo zwischen Blumenbeeten idyllisch eine Hollywoodschaukel steht.

„Setzt dich. Was ist los? Ist etwas passiert?“ Er sieht mich fragend an.

„Ich dachte du freust dich, wenn ich komme.“

„Es ist ein Uhr morgens, dein Vater wird mich umbringen, wenn er merkt, dass du hier bist.

„Merkt er doch nicht. Ich war vorhin zu Hause, er hat eine Megaszene gemacht, ich bleibe keinen Tag mehr in diesem Haus. Ich habe mich rausgeschlichen.“

Ben lehnt sich seufzend auf der Schaukel zurück. Er nimmt meine Hand und zieht mich zu sich zurück und legt seinen Arm um mich.

„Du kannst nicht hierbleiben.“

Ich sehe ihn ungläubig an, das ist jetzt nicht sein ernst.

„Soll ich mitten in der Nacht wieder mit dem Fahrrad zurück?“

Er zuckt mit den Schultern.

„So bist du ja auch hergekommen, oder?“

„Gut, verstehe, wenn ich dich wirklich brauche, dann kneifst du.“

Ich springe von der Schaukel wie eine aufgescheuchte Tarantel.

Er packt mich am Zipfel meines T-Shirts und zieht mich zurück, ich stolpere dabei fast und plumpse wieder hin.

„Psssssst, wenn meine Mum wach wird, haben wir beide ein Problem.“

Ich schmolle noch immer.

„Es war ein Fehler herzukommen, ich bin eben nur irgendein Mädchen für dich, hätte ich mir denken können.“

Aus mir spricht eine leicht betrunkene fast fünfzehnjährige, ich bereue den Satz, nachdem ich ihn ausgesprochen habe, so werde ich ihm wohl kaum imponieren.

„Blödsinn, du weißt genau dass das nicht stimmt und natürlich kneife ich nicht, aber bitte benimm dich nicht wie ein launischer Teenager.“

Er sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann greift er in die Tasche seiner Boxershorts und holt einen Joint heraus, und kratzt sich hinterm Ohr, das macht er immer wenn er nachdenkt. Unter dem Sitzpolster der Schaukel zieht er eine Schachtel Streichhölzer hervor.

„Wie gut dass ich die letztens hier versteckt habe.“

Er grinst zufrieden, dann zündet er den Joint an und nimmt einen langen Zug den er genussvoll durchzieht. Er lehnt sich wieder zurück und zieht ein weiteres Mal daran, bevor er ihn mir reicht. Es ist nicht das erste Mal, dass ich etwas rauche, und trotzdem nimmt er mir den Joint nach zwei tiefen Zügen aus der Hand.

„Übertreib es nicht...“

Seine dunklen Augen funkeln im Mondlicht, ich lehne mich an ihn und lege meinen Kopf auf seine Brust. Ich fühle mich leicht wie eine Feder im Wind, da ist nur mehr er und alles andere drängt sich weit in den Hintergrund meiner Gedanken. Das gefällt mir, ich schließe meine Augen und lächle. Er streicht mir die Haarsträhne die sich aus meinem Zopf gelöst hat aus dem Gesicht und schiebt sie hinter mein Ohr. Dann beugt er sich zu mir und küsst mich. „Gehen wir rein, es ist ganz schön frisch.“

„Ich dachte ich kann nicht hier bleiben?“

Er steht auf, nimmt meine Hand, drückt den Rest des Joints in der Wiese aus und wirft ihn in den Kanaldeckel neben der Tür als wir daran vorbei gehen.

„Dein Dad bringt mich sowieso um, also was soll es, aber sei bloß leise dass meine Mutter nicht wach wird.“

Er legt mahnend den Zeigefinger auf seine Lippen. Ich ziehe meine Schuhe aus und schleiche fast geräuschlos hinter ihm die Stiege hoch. Wir verschwinden in seinem Zimmer. Die kleine Nachttischlampe brennt und hüllt das Zimmer in ein schummrig warmes Licht. Der Joint hat seine Wirkung nicht verfehlt, ich fühle mich ganz leicht und locker. Ich ziehe meine Jacke aus und lege sie auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Ben lehnt an der Tür und verfolgt mich mit seinen Blicken.

„Was soll ich nur mit dir machen?“

Er flüstert und seine Stimme klingt anders als sonst, ich zucke nur mit den Schultern. Dann kommt er auf mich zu und küsst mich.

„Es ist spät und du solltest längst schlafen.“

Ich nicke, sollte ich, aber jetzt bin ich hier. Er löst meinen Haargummi vom Zopf und wuschelt meine Haare ein bisschen durch, bevor er auf das Bett deutet, so als wolle er mir zeigen ich soll hingehen, was ich tue und mich darauf setze. Währenddessen zieht er sein Shirt aus und steht nur noch mit seiner Boxershorts bekleidet vor mir, danach legt er sich aufs Bett und zieht mich zu sich. Ich schnappe kurz nach Luft, mein Hals fühlt sich wie zugeschnürt an. Was soll das werden? Was hat er vor? Er streicht sanft über meine Haare und sieht mir tief in die Augen, bevor er mir mein Shirt über den Kopf zieht. Ich wehre mich nicht, aber ich habe ein bisschen Angst, ich merke wie meine Knie von selbst zu zittern beginnen und mir ein Schauer über den Rücken läuft. Er drückt seine Nase an meine Wange und streicht sanft damit darüber.

„Du brauchst keine Angst haben…“

Er flüstert mir die Worte ganz ruhig in mein Ohr, während er meinen Hals küsst und mit seiner Hand meinen BH Träger hinunter fährt. Ich stoppe ihn und er lässt sofort von mir ab. Ich setzte mich ein wenig auf. Ich weiß nicht ob ich das gerade wirklich will.

„Stimmt etwas nicht?“

Seine Stimme klingt jetzt ernster, ich schäme mich ein wenig, aber ich habe wirklich Angst.

„Ja…Nein…“ Ich stottere vor mich her. „Ich… Ich … Habe noch nie…Ich habe keine Ahnung was ich machen soll…“

Betreten sehe ich auf meine Hände, die sich zittrig und feucht anfühlen. Ich merke wie ich rot werde, jetzt lacht er mich bestimmt aus, ich blicke vor Scham weg.

„Vielleicht sollte ich doch besser gehen“, murmle ich beschämt, ohne ihn anzusehen.

Er fasst mein Kinn und hebt mein Gesicht, sodass ich ihm direkt in die Augen schauen muss und gibt mir einen langen Kuss.

„Bleib hier…“ Er streicht über meine Wange. „Ich mache nichts was du nicht auch willst.“

Will ich? Keine Ahnung, aber es fühlt sich nicht falsch an, wenn dann mit ihm. Plötzlich sind meine Gedanken wieder ganz klar, trotz Alkohol und Joint. Ich lege mich wieder aufs Bett und ziehe ihn zu mir. Während ich tief in seine Augen schaue, nicke ich ihm unmissverständlich zu. Ich lege meine Arme um seinen Hals, und er presst sich fest an mich. Seine Haut auf meiner fühlt sich unglaublich gut an, auch wenn ich vor Angst, oder ist es Aufregung, keine Ahnung, kaum noch atmen kann. Ich schließe meine Augen und schmiege meine Nase an seinen Hals. Kann es sein, dass er einfach nur wundervoll ist? Kann es sein, dass er der Eine ist? Kann es sein, dass ich nie wieder auch nur eine Sekunde ohne ihn sein will? Kann es sein, dass ich ihn liebe? Ich versinke ihn ihm, er in mir, wir ineinander. Niemals werde ich ihn mehr loslassen, niemals. Ich bin wie in Trance und vergesse meine ganze Angst und alles um mich herum. Irgendwann liege ich nur noch in seinen Armen und bereue nichts.

„Ben…“

Ich bin müde und aufgedreht zugleich, aber überglücklich nicht gegangen zu sein.

„Ja?“

Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn, ich kuschle mich noch fester an seine Brust.

„Ich muss gehen, es wird bald hell, wenn Dad….“

Er lässt mich nicht ausreden und legt seinen Zeigefinger auf meine Lippen.

„Jetzt noch nicht, komm her, ich lasse mein Mädchen nicht mitten in der Nacht allein draußen herumspazieren, da kann dein Dad machen und sagen was er will.“

Er zieht mich noch ein wenig fester an sich. Er zeichnet meine Lippen mit dem Finger nach und gibt mir anschließend einen langen Kuss.

Ich verlasse ihm Morgengrauen das Haus, Ben begleitet mich ein Stück, bevor ich auf mein Fahrrad steige und nach Hause fahre. Meine Haare wehen im frischen Morgenwind, vor Glück schließe ich kurz meine Augen. Ja, ich bin glücklich, mir geht es richtig gut, ich kann alles tun was ich will. Nein, ab jetzt mache ich nur mehr WAS ICH WILL. Mit ihm. Wir beide gemeinsam.

Kapitel 1 15 Jahre später – 17. November

„Ja, ja Lizzy, mach ich kein Problem, ich bin schon auf dem Weg…“

Es ist einer dieser Novembertage, keiner von den schönen an denen die Sonne den Nebel durchbricht und die letzten bunten Blätter auf den Bäumen leuchten lässt. Nein, es einer von den ungemütlichen, feucht kalten Tagen am Ende des Jahres. Der Wind bläst mir eisig ins Gesicht, ich grabe meine Nase tief in meinen warmen Schal. Meine Finger sind schon ganz starr und dunkelrot von der feuchtkalten Nebelluft. Außerdem kann ich meine Handschuhe nicht anziehen, weil ich mein Handy fest an mein Ohr drücke. Das ist bei dem ungemütlichen Wetter sogar angenehm, so kommt zumindest der Wind nicht daran. Lizzy, meine beste Freundin, quatscht mich schon zwei Straßen lang voll, wie öde ihr letzter Nachtdienst war, und dass momentan scheinbar gar nichts Spektakuläres im Krankenhaus passiert. Nicht, dass mich das nicht interessieren würde, aber ich bin einfach nicht zum Quatschen aufgelegt. Lizzy ist Ärztin im gleichen Krankenhaus in dem ich als Hebamme arbeite, und jetzt gleich habe ich Nachdienst. Ich habe ihr gerade versprochen davor noch etwas im Kaufhaus an der Ecke zu besorgen, für Andy, ihren Verlobten. Mache ich gern, liegt auf dem Weg ins Krankenhaus. Es fühlt sich so gut an als ich durch die Drehtür gehe und mir der warme Wind von drinnen entgegen weht. Es ist ein mehrstöckiges Kaufhaus in dem man alles bekommt was man braucht, oder auch nicht. Von Accessoires, Kleidung Schuhen, Taschen und natürlich auch Kosmetik. Für die meisten Menschen beginnt um diese Zeit schon der Feierabend und so tummeln sich viele geschäftig herum um scheinbar wichtige Erledigungen zu tätigen. Langsam scheint sich die vorweihnachtliche Hektik unter den Geschenkejägern auszubreiten. In der Pafumerieabteilung herrscht heute auch reger Betrieb, alle Verkäuferinnen wuseln sehr beschäftigt herum und so bleibt mir nichts anderes übrig als zu warten. Herrenbeauty, das ist eigentlich gar nicht so mein Thema. Als Single bin ich diesbezüglich nicht so auf dem Laufenden. Während mich die Kaufhausmusik berieselt schaue ich mich um. Mittig im Regal bestaune ich einen außergewöhnlichen Flacon. Wenn etwas so schön eingepackt ist, kann es eigentlich nur gut riechen denke ich mir, und lasse mich dazu hinreißen das Wässerchen auf einen Duftstreifen zu sprühen und daran zu schnuppern. Riecht ganz gut, und ja das würde mir gefallen, aber wie gesagt, kein Anlass zum Kaufen. Als ich so nebenbei in die Spiegelwand neben dem Regal schaue, fällt mir auf wie zerrsaust ich vom Wind aussehe. Meine Wangen sind ganz rot von der Kälte, meine Nase gleicht der einer Schnapsdrossel. Na toll, so bleib ich ewig Single. Mit wenig Mühe versuche ich zu retten was nicht zu retten ist, und streiche die abstehenden Strähnen die sich aus meinem Zopf gelöst haben zurecht, als mir plötzlich ein Zuschauer meines irreparablen Frisurschadens auffällt. Ein gutaussehender Mann beobachtet mich aus der Ferne. Im Spiegel sehe ich in seine Richtung. Ja wirklich gutaussehend, sehr sogar, vermutlich habe ich mich getäuscht dass er gerade zu mir sieht, aber sein Blick schweift wieder in meine Richtung. Ich drehe mich schnell weg vom Spiegel, das Parfumfläschchen immer noch fest in meiner Hand. Unauffällig, zumindest versuche ich unauffällig zu sein, mustere ich ihn aus dem Augenwinkel im Regalspiegel. Anzug, Krawatte, schwarzer Mantel, dunkles perfekt gestyltes Haar, sehr elegant und gepflegt sieht er aus. Wie ein Banker, oder Anwalt. Er steht am Tresen der Accessoire Abteilung gleich gegenüber und bespricht etwas mit der Verkäuferin die einige Schächtelchen auf das Glaspult gelegt hat, deren Inhalt ich von hier aus nicht bestimmen kann, während er immer wieder einen Blick zu mir herüber wirft. Als ich mich zum Regal zurück bewege, um das Parfum abzustellen, merke ich, dass er in meine Richtung kommt. Ich versuche ganz beiläufig zu ihm zu schauen, aber ich glaube das gelingt mir nicht so dezent, wie ich es mir erhofft habe. Shit, meint er wirklich mich? Ich sehe mich suchend um, ob da noch jemand ist, aber da steht er schon neben mir und lächelt mich an.

„Entschuldigung, Sie haben Ihren Handschuh fallen gelassen, den werden Sie noch brauchen, draußen ist es eisig.“

Ich stehe total überfordert da. Hat er mich tatsächlich angesprochen? Er ist groß und stattlich, seine tiefblauen Augen strahlen mich an. Er schaut mich immer noch erwartungsvoll ob meiner Antwort an, meinen schwarzen Handschuh in seiner rechten Hand haltend. Ich bin perplex und lächle etwas verlegen.

„Ähm… Danke, das ist mir gar nicht aufgefallen, sehr aufmerksam von Ihnen.“, stoße ich etwas unbeholfen hervor.

Meinen Handschuh immer noch in seiner Hand, zeigt er auf den Flacon, den ich noch in Händen halte.

„Und? Wie ist es?“

Ich starre auf den Flacon. Meinem Blick ist anscheinend meine Verwirrung zu entnehmen, er strahlt mich immer noch an, es kommt mir fast so vor als wäre er von meiner Überforderung belustigt.

„Eigentlich habe ich keine Ahnung von Männerkosmetik…“, stammle ich.

„Guten Tag, wie kann ich den Herrschaften behilflich sein?“, säuselt plötzlich eine blonde Verkäuferin, die als Barbie Double durchgehen könnte neben mir und platzt in unsere Unterhaltung. Jetzt habe ich endgültig den Faden verloren. Mein Handschuhretter nimmt mir den Flacon aus der Hand und gibt ihn der Verkäuferin.

„Das nehme ich bitte“, sagt er zu ihr und zwinkert mir zu.

Dann drückt er mir meinen Handschuh in die Hand und berührt dabei ganz leicht meine Finger. Kurz bin ich mir nicht sicher, ob mir heiß oder kalt ist, auf jeden Fall stehe ich komplett neben mir, unfähig ein Wort zu sagen. Der Mann muss denken ich bin nicht ganz richtig.

„Darf ich sonst noch etwas für Sie tun?“

Die Barbie schaut mich fragend an, glücklicher Weise fällt mir wieder ein, warum ich eigentlich hier bin.

„Ja, von Khiels den After Shave Balsam bitte.“

„Gerne Miss.“

Stumm folge ich der Verkäuferin, die vor uns her wieselt, er immer noch an meiner Seite.

„Sie kennen sich ja doch mit Männerkosmetik aus?“

Er schaut mich fragend an, während wir zum Regal mit der Männerpflege gehen. Mehr als ein Schulterzucken fällt mir momentan nicht ein. Er fährt unbeirrt fort.

„Mit Damenparfum kennen Sie sich aber aus, oder?“

Ob ich mich mit Damenparfum auskenne? Häh? Es wird immer skurriler.

„Wieso?“, frage ich mit bestimmt ziemlich verwundertem Blick.

„Ich brauche noch ein Geschenk, Parfum kommt doch bei Damen immer gut an, was meinen Sie womit könnte ich da richtig liegen?“

Ich habe zwar keine Ahnung, warum gerade ich ihm jetzt eine Duftberatung geben soll und ich habe wirklich keine Lust ein Geschenk für seine Frau, oder Freundin auszusuchen. Die Verkäuferin schaut auch ziemlich verdutzt aus der Wäsche, sagt aber kein Wort.

„Ich glaube, ich bin da nicht die Richtige, dafür gibt es hier wunderbares Fachpersonal.“

Die Verkäuferin lächelt gekünstelt, aber er lässt nicht locker.

„Was würden Sie denn nehmen, zum Beispiel fürs Büro, oder für die Arbeit?“

„Gar kein Parfum“, entgegne ich bestimmt nach kurzem Überlegen, was ihm wiederum einen überraschten Blick entlockt.

„In meinem Job kommt Parfum nicht so gut an“, füge ich hinzu, jetzt scheint er neugierig zu werden.

„Ich bin Hebamme“, ergänze ich, bevor er etwas sagen kann, obwohl ihn das eigentlich gar nichts angeht, aber ich versuche die Fragerei abzukürzen. „Wie alt ist denn die Dame?“

„Welche Dame?“

Jetzt sieht er mich fragend an.

„Für die Sie das Geschenk brauchen.“

„Ja natürlich…fünfundzwanzig bis dreißig“, antwortet er etwas verdutzt darüber, dass ich nun doch behilflich sein will. Also für seine Frau wird es zumindest nicht sein, von der würde er ja das Alter hoffentlich genau wissen. Ich überlege kurz.

„Nehmen Sie Miss Dior Blooming Bouquet, das passt immer.“

„Sehr gute Wahl. Darf ich Ihnen das zum Probieren aufsprühen?“, bringt sich die Verkäuferin wieder ein.

„Nein Danke, ich verlasse mich da auf den Geschmack von Mrs…“ er unterbricht sich kurz und sieht mich an. „Bitte entschuldigen Sie, ich habe mich nicht vorgestellt. Max Deveraux.“ Er streckt mir freundlich seine rechte Hand entgegen.

„Luisa Miller“, erwidere ich etwas verlegen sein Händeschütteln.

Sein Händedruck ist fest und seine Hände sind angenehm warm.

„Ich verlasse mich da auf Mrs. Miller. Ich brauche bitte drei Stück davon“, fährt er fort, nachdem er meine Hand wieder losgelassen hat.

„Wie Sie wünschen“, entgegnet die Verkäuferin.

Drei Stück?! Ich bin so blöd, was mache ich hier eigentlich? kein Zweifel, er ist charmant und sieht gut aus, aber welcher normale Mann kauft denn drei gleiche Parfums?

„Drei?“, rutscht mir ungewollt mit entgeistertem Unterton heraus.

„Ja, für alle dasselbe, dann gibt es keinen Anlass, das sich eine der Damen benachteiligt fühlt.“

Er sagt das ganz selbstverständlich, er scheint sich jedenfalls dabei nichts zu denken. Was? Hat er einen Harem? Ich glaube, ich höre nicht richtig, ich habe Mühe mich zurück zu halten, aber schließlich geht mich das nichts an. Ich kenne diesen Mann nicht und ich muss jetzt auch los, also erspare ich mir einen weiteren Kommentar. Ich lehne eine Geschenkverpackung für den After Shave Balsam dankend ab und bezahle. Er bittet die Verkäuferin seine Sachen einzupacken und mit den anderen Einkäufen aus der Accessoires Abteilung in seine Firma zu schicken.

„Natürlich sehr gerne Sir“, säuselt die Barbie.

„Also dann, ich muss jetzt auch los, auf Wiedersehen.“

Ich verabschiede mich und gehe los Richtung Ausgang, aber er folgt mir erneut.

„Mrs. Miller…“

Ich bleibe noch einmal stehen, er berührt fast freundschaftlich meinen Oberarm.

„Danke für Ihre Hilfe.“

Ich bin von so viel unerwarteter Körpernähe total verblüfft und stehe reglos da, mehr als ein „Gerne“ bekomme ich nicht heraus und das Schlimmste, seine Berührung fühlt sich gut an, richtig gut.

„Ich würde mich gerne für Ihre Hilfe revanchieren, aber mein Fahrer ist schon da und Sie scheinen es auch eilig zu haben.“

Er zeigt nach draußen wo am Fahrbahnrand eine schwarze Limousine parkt.

„Das ist nicht nötig, keine Ursache“, erwidere ich. „Ich muss zur Arbeit.“

„Darf ich Sie vielleicht ein Stück mitnehmen?“

„Nein Danke, das ist sehr nett. Ich steige gleich da vorn in die U-Bahn.“ Ich blicke auf meine Uhr. „Ich bin wirklich schon spät dran.“

Ich bilde mir ein seinem Blick ein wenig Enttäuschung zu bemerken. Ich bin ein weiteres Mal mehr als überrascht. Ich steige doch zu keinem Mann ins Auto den ich gerade mal eine Viertelstunde kenne und wenn er noch so gut aussieht. Als wir am Ausgang angekommen sind, treffen sich unsere Blicke noch einmal.

„Schön Sie kennen gelernt zu haben und passen Sie auf Ihren Handschuh auf.“

Er lächelt mich ein letztes Mal an.

Ich nicke etwas verlegen. „Ja, das finde ich auch und Danke noch einmal, ich hätte ihn bestimmt schon bald vermisst, also den Handschuh…“

„Auf Wiedersehen Luisa Miller.“

Er legt seine Hand kurz auf meine, bevor er die Drehtür durchschreitet. Ich ertappe mich dabei ihm ungewollt lange nachzuschauen.

„Auf Wiedersehen…“, sage ich noch vor mich hin, bevor ich mich besinne, ist er schon ins Auto gestiegen und fährt weg. Ich gehe nach draußen und atme die frische nebelfeuchte Luft tief ein. Was war das bitte? Noch nie hat es sich so gut angefühlt meine Handschuhe anzuziehen. Auf dem Weg in die Klinik muss ich immer wieder über diese Begegnung nachdenken. Komisch, eigentlich mache ich mir über solche Dinge gar keine Gedanken, aber ich erwische mich dabei wie ich lächeln muss.

Der Nachtdienst gestaltet sich heute ruhig. Ich habe mich auf die Betreuung von Frühgeburten spezialisiert, betreue aber auch ganz normale Entbindungen. Meine Gedanken sind heute Nacht nicht ganz bei der Sache, das war wirklich eine eigenartige Begegnung vorhin. Am liebsten bin ich im Babyzimmer und schaue in die unschuldigen Gesichter der Kleinen. Hier gibt es immer etwas zu tun und trotzdem gelingt es mir heute nicht mich abzulenken. Immer wieder muss ich an die blauen Augen und das Lächeln denken. Vergiss es, sage ich mir vor, er hat dich schon längst vergessen und verschwendet vermutlich keinen Gedanken mehr an dich, du siehst ihn sowieso nie wieder. Außerdem möchte ich nicht die Vierte sein, die ein Parfum bekommt. Ich lasse mich auf den Sessel im Babyzimmer fallen und versuche auf andere Gedanken zu kommen.

„GUTEN MORGEN!“

Meine Kollegin reißt mich voller morgendlicher Energie aus dem Schlaf. Ich bin wohl eingenickt.

„Guten Morgen, sorry ich bin kurz eingedöst, es war eine ruhige Nacht.“

„Schön, dann schau mal ins Schwesternzimmer, da ist schon ordentlich was los…von Ruhe keine Spur“, entgegnet sie mir mit schelmischem Unterton.

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Umfang:
710 S. 1 Illustration
ISBN:
9783750220904
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