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GANZ OBEN.

Reise durch ein eigentümliches Land.

K. King

epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de Copyright: © 2012 K. King ISBN 978-3-8442-4153-2

Vorwort

Dieses Buch hätte nicht geschrieben werden müssen. Es handelt von Begebenheiten, die bereits 10 Jahre zurückliegen und in Vergessenheit geraten waren. Vielleicht zu recht.

Es handelt vom Versuch eines jungen Mannes, die Leere im Leben zu füllen – vielleicht entstanden durch die fehlende Gelegenheit, einschneidende Erlebnisse wie die Eroberung fremder Ländereien mitzumachen. Dies ist den Angehörigen der Generationen, denen die „Gnade der späten Geburt“ nachgesagt wird, bekanntlich weitgehend verwehrt, angesichts der übermäßigen Inanspruchnahme dieser einstmals hierzulande sehr beliebten „Freizeitgestaltung“ durch die Altvorderen.

So wird die Zeit der Ausbildung und des Studiums so lange wie möglich ausgedehnt, um dem Hedonismus ungestört frönen zu können. Das führt jedoch unweigerlich zu Phantomschmerz und um die 30 zu dem Gefühl, etwas Entscheidendes verpasst zu haben.

Als letztes Abenteuer, bevor der Ernst des Lebens unweigerlich beginnt, schien der „Krieg auf der Straße“ ein einigermaßen akzeptables Substitut.

Man hätte es dabei, die damit verbundenen Erfahrungen gemacht zu haben, belassen können.

Nachdem ich mich allerdings nun durch mehr als 300 Seiten literarische Wanderung durch Nordspanien[1] gequält habe (der beschriebene Marsch selbst war wohl weniger anstrengend) und dieses „Ereignis“ es auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste schaffte, kann Deutschland dieses Buch nicht mehr vorenthalten werden.

Die Geschichte ist bewusst kurz gehalten. Dies entspringt der tiefen Überzeugung des Autors, dass es nur einen graduellen Unterschied bedeutet, einem anderen das Leben zu nehmen oder übermäßig seine Zeit zu beanspruchen. So gesehen stellt das erwähnte Wanderbuch möglicherweise sogar einen strafrechtlich relevanten Sachverhalt dar, was aber hier nicht weiter verfolgt werden soll. Es geht auch anders:

Ganz oben.

Samstag, 20.3.,nachmittags

„De Peter* fährt am Montachmorje um zwo Uhr fort, do fährste mit. Der weist Dr dann alles weitere“.

Mit diesen dürren Worten des Seniorchefs Alfred beginnt mein Job bei der Spedition B. in W. Die Firma hat ein gutes Dutzend Lastzüge, die Hälfte ausgeflaggt in einer Niederlassung im Kreis Halle an der Saale mit lokalem Personal am Steuer und „SK“ auf dem Kennzeichen.

Zwischen den schriftlichen Arbeiten und der mündlichen Prüfung zum ersten juristischen Staatsexamen war mir die Zeit etwas lang geworden, so dass ein „kleiner Aushilfsjob“ als LKW-Fahrer genau die richtige Beschäftigung zu sein schien.

Das Studium der Jurisprudenz scheint allgemein nicht folgenlos an den Betroffenen vorbeizugehen, gemessen an den Ideen anderer im gleichen Stadium (etwa der Entführung von Bankiers-Söhnen) erschien mir die gewählte Ablenkung jedoch noch moderat. Relativ, wie die folgenden Wochen zeigen sollten.

Montag, 22.3., 02:00 Uhr

Dass die Information am Samstag vielleicht doch etwas arg knapp ausgefallen war, stelle ich fest, als ich meinen Fahrer Peter treffe.

„Ist das alles, was De mitnimmst?“

Ich weiß nicht, worauf er hinaus will.

„Wo haste denn Dei Klamotte? Hat der Alfred Dir nix davon gesacht, dass De vor Freitag net mehr heimkommst? Das iss so typisch Alfred (lacht). Steig ein, wir müsse los!“.

Ein Beginn so richtig nach meinem Geschmack also, aber irgendwie symptomatisch, wie sich noch zeigen sollte.

Peter ist ein Trucker vom alten Schlag - das heißt, er ist von seinem äußeren Erscheinungsbild irgendwann in den achtziger Jahren stecken geblieben: lange, ungepflegte Haare, Schnauzer wie Walross Antje, knallenge Röhrenjeans, Turnschuhe - erinnert irgendwie an dunkelste Speed Metal-Zeiten.

Peter scheint aber trotzdem ganz nett zu sein, er erklärt mir alles sehr ruhig und sachlich und gibt mir gute Tipps, die sich in den folgenden Tagen und Wochen noch als wertvoll erweisen sollen.

Wir fahren mit dem Lastzug des im Urlaub weilenden Kollegen Dieter. Der Auflieger ist beladen mit Spanplatten für ein Möbelwerk in Ostwestfalen. Die Zugmaschine ist schätzungsweise 10 Jahre alt, ein Mercedes-Benz 1735 SK mit 350 PS, der Auflieger ist Baujahr 1982, so alt wie die Spedition selbst.

Unterwegs stellt Peter fest, dass die Zugmaschine keinen Retarder[2] hat - der war defekt und wurde kurzerhand ausgebaut. Ist ja anscheinend auch nicht so wichtig.

Auf der Sauerlandlinie halten wir auf einer Raststätte, um die Positionen zu wechseln. Ab jetzt fahre ich.

Peter sagt, er will noch kurz nachsehen, wieviel Diesel im Tank ist; er springt in die Büsche, bricht einen Ast ab und peilt damit den Dieselstand im Tank. Die Tankanzeige ist defekt.

So langsam komme ich mir vor wie auf dem Balkan, aber bei der Firma B. ist das anscheinend normal. Zum Glück ist es noch dunkel, so dass man nicht von jedem gesehen wird.

In Herford liegt eine Brücke auf dem Weg, die nur mit 3,8m hohen Fahrzeugen unterquert werden darf. Wir haben gut 4,0m zu bieten, fahren aber trotzdem weiter, da der Umweg zu viel Zeit kosten würde. Unwillkürlich kommen mir als Wahl-Kölner die Berichte über die gescheiterten Aspiranten in den Sinn, die bei dem Versuch, dem Horror des Kölner Autobahnrings durch eine Abkürzung quer durch die Stadt zu entgehen, an der Eisenbahnbrücke über die Innere Kanalstraße regelmäßig scheitern. Ich sehe schon die Zeitungsschlagzeilen vor mir (EXPRESS: „Deutschlands dümmster Brummifahrer...“). Ein toller Einstand also.

Doch wir haben Glück. Alles, was passiert: die Warnlampen an der Brücke leuchten auf. Jetzt darf nur keine Polizeistreife in der Nähe sein, sonst wird es teuer.

Als wir gegen halb sieben bei dem Kunden in Bad Oeynhausen ankommen, sind schon drei Lastzüge vor uns da. Es gibt nur einen Staplerfahrer, also heißt es warten. Wir müssen anschließend nach Horn-Bad Meinberg. Aus dem dortigen Spanplattenwerk der Firma H. geht ein täglicher Shuttle-Verkehr in das Werk nach Nidda. Diesen Shuttle soll ich bis auf weiteres fahren. Es wird jeweils morgens bei einem Kunden in der Nähe von Horn abgeladen, spätestens um neun muss ich dann im Spanplattenwerk sein. Da Verzögerungen natürlich nicht einkalkuliert sind, wird es schon gleich stressig.

Im Werk wird regelmäßig an vier oder fünf Stellen geladen. Die Ladung besteht aus einzelnen Teilladungen, die in Nidda auf andere Laster verteilt werden. Das bedeutet immer wieder Warten, die Ladung mühsam mit Gurten verzurren, nur um diese bei der nächsten Versandstelle wieder zu lösen. Dank der Erfahrung von Peter sind wir trotzdem relativ zügig fertig.

Dann heißt es auf die Papiere warten. Da die Ladung aus zig einzelnen Positionen besteht, müssen entsprechend viele Lieferscheine geschrieben (und vom Fahrer unterschrieben) werden. Das dauert und bringt unseren Terminplan erneut ins Wanken. Die ganze Prozedur ist ein zeitraubender Papierkrieg, der täglich aufs neue ausgetragen wird. Angesichts des Umstandes, dass wir zwischen zwei Werken einer Firma unterwegs sind, wirkt das Ganze noch grotesker.

Zeit spielt hier offensichtlich keine Rolle, die kann man ja auf der Straße wieder aufholen. Wir kommen erst nach Mittag los, um vier sollen wir in Nidda sein. Bei normaler Fahrweise braucht man dreieinhalb bis vier Stunden. Für eine Pause ist also keine Zeit.

In Nidda warten andere Lastwagenfahrer oft seit Stunden noch auf ein einziges Paket aus unserer Sammelladung. Dass sie schon halbwegs in Österreich oder sonst wo sein könnten, wenn man das Paket am Tag zuvor schon nach Nidda gefahren hätte, interessiert bei der Firma H. natürlich niemanden; „just-in-time“ ist angesagt[3].

Entsprechend „freudig“ wird man begrüßt. Dass man selbst alles gegeben hat, um pünktlich zu sein, interessiert den Kollegen natürlich nicht, da man aus seiner Sicht schon zu einer Zeit hätte da sein sollen, als man selber noch nicht einmal geladen hatte. Nicht nur die Lagerhaltung wird auf die Straße verlegt, auch der Zeitdruck entlädt sich dort – und nur dort; bei den Ladestellen hat jeder anscheinend alle Zeit der Welt. Kein Mensch interessiert sich dafür, wie die Termine eingehalten werden, das ist dann das Problem des Fahrers.

Wir fahren durchs Edertal; ich fahre, um die Strecke kennen zu lernen. Bis nach Marburg nur Landstraße, dazu landschaftlich äußerst reizvoll, fast schon erholsam. Ich halte mich weitgehend an das Tempolimit, auch weil ich erst einmal ein Gefühl für die 40 Tonnen bekommen muss; zudem sind Spanplatten mit äußerster Vorsicht zu genießen. Die Ladung ist zwar gut gesichert, aber wenn Spanplatten ins Rutschen geraten, hält sie auch der beste Gurt nicht mehr, die Dinger sind extrem glatt!

Mein „Dienst nach Vorschrift“ führt natürlich dazu, dass wir nicht um vier in Nidda sind, dafür werden wir kurz vor dem Ziel auch noch von der Polizei angehalten. BAG[4] ist auch dabei, großes Aufgebot. Die freuen sich schon über den schönen Fang kurz vor Feierabend, nach dem Motto, wer mit so einer alten Kiste unterwegs ist, kann nicht ganz „sauber“ sein.

 

Peter ist jedoch Profi und textet die Herren erst einmal gekonnt zu: die üblichen Sprüche wie „die deutschen Fahrer kassiert Ihr ab, an die Ausländer traut Ihr euch nicht ran, die müsst Ihr mal kontrollieren. Werdet schon sehen, was Ihr davon habt, wenn nur noch Russen fahren....“.

Die BAG-Beamten lassen sich davon jedoch wenig beeindrucken. Natürlich hat Peter recht, es interessiert nur niemanden. Spätestens seit dem Zusammenbruch des Ostblocks ist jegliche Fernfahrer-Romantik passé, die Branche reichlich verkommen. Die deutschen Fahrer liefern sich ein Rattenrennen, das sie nur verlieren können. Zwei Ostblockfahrer sind immer noch billiger als ein deutscher, da kann der sich noch so anstrengen. Peter ist einer derjenigen, der das Rennen aufgenommen hat, wie sich noch zeigen wird.

Seit große Speditionen aus dem Westen die ehemaligen Staatsbetriebe des Ostblocks[5] übernommen haben oder auf andere Weise ihre Flotte teilweise in den Osten ausgeflaggt haben, herrscht Krieg auf den Straßen. Die kleineren Westbetriebe versuchen durch Einsparungen bei Personal und Wartung konkurrenzfähig zu bleiben, zudem steigt der Druck durch immer rigidere Lenk- und Ruhezeitvorschriften. Auch hierbei profitieren die Spediteure, die zwei Fahrer auf den LKW setzen können, denn diese sind in der Lage, sich abzuwechseln und so wesentlich seltener von Zwangspausen betroffen.


(Mercedes NG von SOMAT Bulgaria in Österreich 1981)

Natürlich hat sich auch für die Ostfahrer viel verändert. Auch dort gelten heute die Gesetze der Marktwirtschaft.

Staatsspeditionen wie Deutrans, SOMAT, RO-Tir oder SovTransAuto hatten häufig nicht einmal einen ernsthaften Fahrauftrag, sondern kamen in erster Linie aus Spionagegründen in den Westen. Damals stand vor jeder größeren Kaserne, Militärflugplatz oder sonstiger Installation von strategischem Interesse ein Deutrans-Laster.

SovTransAuto-Fahrer aus der Sowjetunion waren oft tagelang „verschollen“, bevor sie an der Ladestelle auftauchten. Dabei wurden dann oft Pseudo-Ladungen übernommen. So fuhren Lastzüge der STA ständig Kartons voller halbfertiger Schuhe vom Frankfurter Flughafen in die Sowjetunion. Air India brachte jede Woche mehrere Jumbo-Ladungen nach Frankfurt. Dass das ganze keinen wirtschaftlich begründeten Hintergrund haben konnte, war offensichtlich.

Da wir heute ausnahmsweise zu zweit unterwegs sind und der Aushilfsfahrer relativ moderat gefahren ist, die Ladung auch nicht zu beanstanden ist, bleibt es bei einer Mängelkarte für ein loses Drucklufthorn am Kühlergrill und den üblichen Belehrungen.

Allerdings ist wieder eine halbe Stunde im Eimer. Mittlerweile hat Alfred schon ganz aufgeregt angerufen und versteht die Welt nicht mehr:

„Wie, von de Polizei angehalle worn? Die sin doch net ganz dicht! Macht, dass Ihr nach Nidda kommt.....!“

Alfred selbst hat in Nidda für einen anderen Fahrer geladen, der noch Urlaub hat und den Zug am nächsten Tag übernehmen soll. Er nimmt mich mit auf den Speditionshof, damit ich mir noch ein paar Sachen zu Hause holen kann. Er fährt sehr gemächlich, da er den Zug ja nur zu Hause abstellen will und nicht unter Zeitdruck zu einem Kunden unterwegs ist; wenn ich vorhin so lahmarschig gefahren wäre, wäre mir das Gespann Peter/Alfred wohl an den Hals gesprungen.

Ich fahre nach Hause und packe ein paar Klamotten zusammen und bringe dann Peters Zugmaschine zurück nach Nidda. „Peter der Dreckige“ (oder auf hessisch schlicht „de Dreckpeder“) hat sich seinen Namen wahrlich verdient. Die Fahrerkabine ähnelt mehr einer steinzeitlichen Höhle, mit Fellen und Essensresten überall. Ich bin froh, dass ich diese Mühle nicht übernehmen muss.

Peter’s Zugmaschine ist die stärkste im Fuhrpark, ein Mercedes 1948 mit Bullenfänger und allem möglichen Schnickschnack, nur leider völlig heruntergekommen. Aber 480 PS ohne Auflieger zu fahren ist schon was Feines, nachdem man sich den ganzen Tag mit einem 1735er und 40 Tonnen abgequält hat.

Es regnet, ich muss aufpassen, dass ich nicht übermütig werde und von der Straße fliege. An einer Steigungsstrecke gebe ich richtig Gas, der Laster macht einen Satz nach vorn und alle Straßenkarten, die der gute Peter in einem Kasten auf dem Armaturenbrett gesammelt hatte, kommen mir entgegen.

Gegen sechs bin ich wieder in Nidda. Peter hat inzwischen bei meiner Zugmaschine den zweiten Shuttle-Auflieger aufgesattelt. Seltsamerweise regt er sich ziemlich über das Chaos in seinem Laster auf. Ich hätte nicht gedacht, dass es überhaupt auffällt bei dem ohnehin herrschenden Durcheinander in der Hütte.

Ich lege eine neue Tachoscheibe ein und warte noch auf den Kollegen Dietrich, der in die gleiche Richtung fährt.

Es geht nach Bevern bei Höxter, wieder Spanplatten, wieder über 40 Tonnen. Ich komme zum ersten Mal in den Genuss der Kasseler Autobahn. Mit viel Gewicht und wenig PS ist die Fahrerei auf dieser extremen Berg- und Talbahn schon fast mit physischer Anstrengung verbunden. Schlimmer ist jedoch die psychische Belastung. Bergauf lernt man das EPS[6] schnell kennen, da man ständig am Schalten ist. Vor allem beim Wechsel in die kleine Gruppe vom fünften in den vierten Gang reagiert das EPS so träge, dass man sofort einen weiteren Gang runterschalten muss. Ich habe das Gefühl, stehen zu bleiben.

Die Kollegen mit bis zu 500 PS starken Maschinen vorzugsweise aus Skandinavien, die mit 20 Tonnen Stückgut oder Paketen durch die Welt gondeln, hängen mir im Kreuz. Bergab ist es mörderisch. Ohne Retarder, einer kaum spürbaren Motorbremse und voll beladen ist die Schmerzgrenze bei 30 km/h oft schon überschritten. Für die Kollegen scheine ich stehen zu bleiben, auch wenn ich es schon schneller laufen lasse, als zu verantworten ist. Ich stelle den Funk aus, um das Genörgel nicht länger mitanhören zu müssen.

Bis ich in Ostwestfalen bin, ist es schon nach 23 Uhr. Die Straßen sind breit und es herrscht wenig Verkehr. Ab jetzt wird professionell gefahren, im Schnitt 80 bis 90 auf der Landstraße, mit voller Beleuchtung. Die Zugmaschine hat zwei zusätzliche Lampen auf dem Dach, eingeschaltet sieht es aus wie Flakscheinwerfer im Erdkampf.

Zum Glück finde ich den Kunden ohne Probleme. Als ich endlich Feierabend mache, bin ich ca. 24 Stunden auf den Beinen gewesen, habe nichts gegessen, zwei Tachoscheiben vollgefahren, nach einem halben Tag bereits sämtliche Verkehrsregeln missachtet, die meinem zügigen Vorankommen im Wege standen; bin trotzdem „planmäßig“ zu spät gekommen. Ein Einstand nach Maß also. Um sechs Uhr geht es weiter.

Dienstag, 23.3., 06:00 Uhr

Ich habe direkt vor dem Werkstor geschlafen, immerhin ca. 5 Stunden. Das Abladen geht reibungslos, ich fahre entspannt nach Horn und beginne, die Shuttle-Ladung einzusammeln.

Dort vermisse ich auf einmal „meinen“ Staplerfahrer. Nachdem er begonnen hatte, meinen LKW zu beladen, erscheint er nach der letzten Fahrt ins Lager nicht mehr wie gewohnt und ist nun seit gut 20 Minuten nicht wieder aufgetaucht. Ich suche ihn überall, aber er ist nicht zu entdecken. Ich kehre resigniert zum LKW zurück und warte. Um 10 Uhr taucht er plötzlich wieder auf, als ob nichts gewesen wäre.

Aus seiner Sicht war auch nichts, er hat eine halbe Stunde Frühstückspause gemacht. Das sagt einem hier natürlich keiner (Ostwestfalen!). Ich bin konsterniert, dass man hier auf pünktlicher Pause besteht, obwohl ich es doch eilig habe und in Nidda alle warten.

Ich muss noch viel lernen. Vor allem, dass alle anderen Zeit haben, und es letzten Endes immer am Fahrer hängen bleibt. Und dass in derselben Firma längst nicht alle an einem Strang ziehen, es sei denn, an dessen Ende ist die Schlinge um den Hals des Fahrers einer Fremdspedition.

Die Damen im Schreibbüro haben natürlich auch viel Zeit. Ein bis zwei Stunden auf die Papiere zu warten ist normal. Also wird es wieder nichts mit Essen, denn im Werk gibt es nichts und für eine Pause zwischendurch ist es schon wieder zu spät.

Unterwegs genieße ich die Insignien der Macht eines Fernfahrers: Großraum-Fahrerhaus, C-Netz Telefon, CB-Funk.... alles da. Die einzige Freude in diesem Job, so scheint es.

Ich bin ganz oben!

Ich bin pünktlich, also aus Sicht der Wartenden zu spät in Nidda. Dort haben natürlich auch alle Zeit, außer den anderen Fahrern. Ich muss zusehen, dass mein Auflieger entladen wird, dann muss ich den vorgeladenen Auflieger für den nächsten Tag aufsatteln und die Ladung festzurren. Auch hier wieder Warten auf die Papiere. Es geht jedoch wesentlich schneller, da ich nur wenige Positionen für einen einzigen Kunden geladen habe. Die Post der gesamten Niederlassung muss natürlich auch noch mit, das spart Porto und Speditionsfahrer kann man ja schließlich nicht genug ausbeuten.

Bis spätestens 17.30 Uhr müsste ich wieder auf Achse sein, wenn ich noch durchs Edertal kommen will. Dort ist die Strecke nämlich ab 20.00 Uhr für LKW gesperrt, und zweieinhalb Stunden brauche ich bis Diemelstadt. Das interessiert in Nidda natürlich keinen, also komme ich viel zu spät weg und muss wieder über die Kasseler Berge...

Gegen halb elf abends bin ich in Schieder-Schwalenberg. Zum Glück habe ich einen Kollegen gefragt, wo genau das Möbelwerk liegt, und derjenige hat genaue Auskunft gegeben, ohne zu wissen, wovon er redet.

Ich verpasse also zielgerichtet die Abfahrt und lerne dabei zwangsläufig, einen 40-Tonnen-Sattelzug in einem Zug auf der Kreuzung einer engen Dorfstraße zu wenden. Man nennt das „kurz Herumziehen“. Bei voller Beladung ist das so richtig gut für die Reifen des Aufliegers. Zurück bleiben Radierungen eines unbekannten Meisters auf dem Asphalt.

Der Pförtner im Werk lässt mich nicht mehr herein und schickt mich stattdessen auf einen Parkplatz am Bahnhof, ich soll um halb sechs am nächsten Morgen wieder kommen. Wie sich herausstellt, ein wirklich guter Schlafplatz, denn hier fahren die Züge anscheinend im Viertelstundentakt....

Aber wen interessiert schon, ob ein LKW-Fahrer schlafen kann.

Mittwoch, 24.3.

Ich bin um 5.30 Uhr am Werkstor, und damit sind zunächst einmal alle froh. Das heißt natürlich nicht, dass jetzt zügig abgeladen wird.

Die beiden Ex-Knackis von der Warenannahme in Werk 23 fangen vor sechs Uhr grundsätzlich nicht an. Außerdem ist es kalt draußen, man traut sich anscheinend nicht so recht ins Freie. Also dauert es. Mich kotzt schon wieder alles an.

Dann versuchen die Ostwestfalen auch noch, Witze zu formulieren. Wer das Volk kennt, weiß, dass dieses Vorhaben von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Dort ist nämlich humorfreie Zone. Bis die Witzbolde in die Gänge kommen, ist es schon wieder spät. Zum Glück ist es nicht weit bis Horn, und da geht das ganze Drama ohnehin von vorne los. Effekt: Wieder kein Mittagessen.

In Nidda treffe ich auf den Kollegen Horst. Nein, nicht der nette Weihnachtsmann-Actros-Fahrer aus der Mercedes-Werbung, sondern ein Veteran der Wehrsport-Gruppe Hoffmann[7]. Horst ist ein Bild von einem deutschen Mann: Auf den einen Oberarm ein Hakenkreuz mit Reichsadler eintätowiert, den anderen Bizeps schmückt der Wahlspruch „Meine Ehre ist Treue“. Habe ich irgendwo schon mal gehört?!

Horst ist so ein harter Typ, dass er auch im Winter nur mit Träger-Shirt herumläuft, obwohl die Heizung in seinem Laster kaputt ist (wie sollte es auch anders sein, Horst fährt schließlich auch für die Firma B.). Böse Zungen behaupten allerdings, der harte Aufzug diene lediglich dazu, die ungestörte Aufmerksamkeit den hübschen Tätowierungen zuzuführen.

Ansonsten ist Horst aber ein herzensguter Kerl (die Beschreibung erinnert nur zufällig an einen Kampfhund. Man kennt das: „Keine Angst, der will nur spielen“!). Keine Ahnung, ob die Gerüchte stimmen, dass er schon mal jemanden „umgelegt“ hat. Wundern würde es mich aber nicht.

Das Ganze erinnert ein wenig an die „Gowgy-Situation“.

Gowgy habe ich als Jugendlicher in der Disco „kennen gelernt“. Gowgy war ein „Templer“[8]. Die „Templer“ traten immer in kleinen Gruppen in voller Club-Montur (Kutten) und leidlich schweren Bikes auf, waren aber trotzdem eher geduldet als gefürchtet.

Die „Templer“ konnten uns Metaler nicht leiden und es gab ständig Stress. Der Grund war, dass auch wir Kutten trugen und in kleinen Gruppen auftraten. Die Sorge der harten Rocker war, dass der durchschnittliche Spießbürger nicht zu unterscheiden wusste zwischen Rocker und Metalkids und den Ärger, den wir anrichteten, den „Templern“ anhängen würden. Seitdem hatte ich für die Typen nur noch Verachtung übrig.

 

In der Disco hielten sie sich immer in der Nähe der Klos auf, dort störten sie nicht weiter. Eines Tages war ein mir bis dahin unbekannter, sicherlich mehr als zwei Meter großer und entsprechend breiter Typ dabei. Ich schaute mir den Neuzugang etwas genauer an, was diesem irgendwann auffiel. Unsere Blicke kreuzten sich, seiner war durchdringend und hasserfüllt. Nun hatten wir die „Gowgy-Situation“.

Mir wird unmittelbar klar, wenn ich jetzt wegsehe oder blinzele, wird mein Gegenüber dies als Schwäche auffassen und mich fertig machen. Also schaue ich ihm weiter in die Augen, er erwidert den Blick und wartet, dass ich schwächele. So stehen wir uns dann eine gefühlte Viertelstunde gegenüber. Irgendwann wird dem Typen die Sache offenbar zu langweilig und er zieht ab. Ich lege es ihm als Schwäche aus und entscheide, auf Unterlegene nicht auch noch einzuprügeln.

Der wahre Grund für den Abgang war wohl, dass er sich in der gerade wieder gewonnenen Freiheit nicht gleich wieder einschränken lassen wollte. Man klärt mich anschließend auf, dass ich wohl gerade extremes Glück hatte. Dem Letzten, der dem Typen dumm kam, war dies nicht vergönnt.

Gowgy kam nämlich gerade aus dem Knast. Er wurde in Frankfurt verhaftet, als er auf offener Straße mehrere Polizisten verprügelte. Diese wollten angeblich einen Mann retten, den der nette Gowgy gerade mit Benzin übergossen und angezündet hatte. Das – so wurde kolportiert - entfachte den Hass des Rockers und er ging auf die Polizisten los:

„Ihr scheiß Bulle, haut ab und lasst mein Türk brenne!“.

Nach dieser Aktion war er dann erst einmal weg von der Straße.

Man lernt aus solchen Erfahrungen, etwas vorsichtiger zu agieren, wenn man es mit offensichtlichen Exzentrikern zu tun hat, deren Hintergrund man nicht so genau kennt.

Kollege Horst lacht sich jedenfalls kaputt, als er hört, dass ich Shuttle fahre. Shuttlefahren ist nichts für unseren Horst. Ein echter Trucker muss nämlich in die große, weite Welt.

Außerdem könnte er dann nicht jeden Abend zu Hause vorbeifahren (die große weite Welt sollte also nie zu weit weg von Mutti enden), dort schläft es sich nämlich angenehmer als im kalten Führerhaus (im Falle von Horst scheint mir dieser Begriff durchaus angebracht).

Fernfahrer Horst fährt also so gut wie täglich nach Hause zur treuen Doris. Das sieht der Alfred zwar nicht gerne, aber irgendwie hat unser Pitbull sich dieses Recht ertrotzt. Wer ihn kennt, weiß warum er eine gewisse Narrenfreiheit hat.

Man legt sich nicht gerne mit Horst N. („Nazi-Horst“) an. Jedenfalls ziehe ich es vor, zu den Leuten zu gehören, die der Horst in sein großes Kämpferherz geschlossen hat.

Ich fahre mal wieder notgedrungen über die A 5/7 Richtung Kassel. In Alsfeld fahre ich auf die Raststätte, weil ich vor Hunger kaum noch stehen kann (wozu auch, ich sitze ja sowieso die meiste Zeit). Da ich mich irgendwie immer noch nicht wie ein richtiger Trucker fühle, gehe ich zu McDonalds. Der Laden ist gerammelt voll. Als ich endlich vorne an der Theke bin, will die Buletten-Tante gerade schließen. Mein Blick und mein Äußeres überzeugen sie davon, dass es besser wäre, erst nach mir in die Pause zu gehen.

Um nicht ganz kleinbei geben zu müssen, beschließt sie, mir eine Aufgabe zu übertragen. Ich soll, wenn ich sie schon von ihrer wohlverdienten Pause abhalte, wenigstens den Gästen hinter mir mitteilen, dass nach mir die Kasse geschlossen sei.

Mittlerweile habe ich allerdings gelernt, dass man sich nicht darum kümmert, was anderen Leuten den Arbeitsalltag erleichtern könnte, und sage natürlich nichts.

Obwohl es schon halb zehn abends ist, bestelle ich einen Big Mäc, einen Royal TS, einen McChicken mit viel Pommes und Cola. Schließlich habe ich seit drei Tagen nichts Warmes gegessen. Ich lasse die Kassiererin mit einer ganzen Reihe erwartungsfroher Kunden zurück und setze mich an einen Tisch.

Zu meiner Verwunderung muss ich feststellen, dass sich mein Körper nach drei Tagen bereits damit abgefunden zu haben scheint, dass es keine warme Mahlzeit mehr gibt. Ich habe anscheinend in der Zeit verlernt, wie man kaut, mein Kiefer schmerzt bei jeder Bewegung und ich verfluche mich dafür, so eine Riesenportion bestellt zu haben.

Danach fahre ich durch bis nach Pegestorf, irgendwo in einem kleinen Seitental bei Höxter. Hier ist der Hund begraben, das Ende der Welt.

Ich kann in den Hof der kleinen Schreinerei des Kunden fahren und endlich einmal ein paar Stunden in Ruhe schlafen.

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