Leere Hand

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Funakoshi Gichin lernte Kata von meinem Vater

Bereits fünf Jahre zuvor, 1922, hatte Kanō während des Besuchs der in Tokio vom Kultusministerium veranstalteten »1. Ausstellung über die Ausbildung in den alten Kampfkünsten« eine Karatevorführung gesehen und hegte seitdem ein sehr starkes Interesse für Karate. Diese Vorführung hatte Meister Funakoshi Gichin (1869-1957) gemacht, der später als der »Vater des modernen Karate« bezeichnet wurde und dessen Kampfkunst damals auf den japanischen Hauptinseln als repräsentativ für das okinawanische Karate galt. Er blieb später in Tokio und begann, an der Verbreitung des Karate zu wirken. Dies geschah in einem Umfeld, das durch starke Vorbehalte geprägt war. Außerdem mußte Funakoshi damals in sehr ärmlichen Verhältnissen leben. Was ihn trotz aller Widrigkeiten in Tokio hielt, war Meister Kanō. Dieser herausragende Kampfkunstexperte besaß den Weitblick und das Gespür dafür, daß im Karate das Potential steckte, über seine lokale Bedeutung als Okinawa-Budō hinauszuwachsen und zu einer allgemeinen Kampfkunst zu werden.

Nachdem nun fünf Jahre später Meister Kanō durch die Vorführungen Meister Miyagis und meines Vaters auf Okinawa, im Zentrum der Kultur des Karate mit dessen Hauptströmung in Berührung gekommen war, war er natürlich noch tiefer beeindruckt. Das lag nicht zuletzt daran, daß Meister Funakoshi zu jener Zeit nur einige der Kata des Shuri-te gekannt hatte.

Um seine Kenntnisse zu erweitern, entsandte Funakoshi Gichin seinen Sohn Gigō44 nach Okinawa zu meinem Vater, damit er weitere Kata bei diesem erlernte. Meister Funakoshi Gigō war Karatelehrer an den Universitäten Takushoku und Waseda. Mein Vater hatte zwar schon einen bedeutenden Namen in der Welt des Budō, war aber um die 20 Jahre jünger als Meister Funakoshi. Deshalb fühlte er sich offenbar sehr geehrt und dankbar, daß dieser – über seinen Sohn – von ihm Unterricht angenommen hatte. Später war er auch immer sehr streng gegen Schüler, die an den Kata des Shōtōkan-Stils von Meister Funakoshi herumkritisierten. Über den Besuch von Meister Funakoshi Gigō hat mein Vater mir nie etwas erzählt. Erst nach seinem Tode erfuhr ich davon aus dem Munde meiner Mutter.

Foto 18: Funakoshi (Yoshitaka) Gigō (1906-1945) beim Training am makiwara.

Auf Drängen von Meister Kanō trat mein Vater von seinen verschiedenen Lehrämtern zurück und reiste allein auf die japanischen Hauptinseln. Das war im Jahre 1929, und er war zu jener Zeit 41 Jahre alt. Nachdem er eine Zeitlang bei Landsleuten in der Präfektur Wakayama gewohnt hatte, ließ er sich im südwestlichen Stadtteil Nishinari von Ōsaka nieder. Daß er Ōsaka und nicht Tokio wählte, hing sicher mit seinem Respekt und seiner Rücksichtnahme gegenüber seinem Landsmann und älteren Kollegen, Meister Funakoshi, zusammen, der das Karate in der Kantō-Region zu verbreiten suchte. In Ōsaka verstand man damals noch gar nichts vom Karate. Wenn die Leute Katavorführungen sahen, dachten sie, das seien irgendwelche »Kampftänze«. Erst als man anfing, Ziegel und Bretterstapel zu zertrümmern, verstanden die Leute, welche Kraft in den Karate-Fäusten steckte. Eine der damals üblichen Vorführungen war auch das Zerschlagen von Bierflaschen. Das konnte man zwar nicht den Assistenten überlassen und man brauchte etwas Geschick, aber es war eine relativ leichte Übung. Man durfte die Flasche nur nicht zu sehr fixieren. Wenn man sie halb mit Wasser füllte, flog der Flaschenhals in dem Moment effektvoll ab, in welchem die Handkante auftraf.

Foto 19: Sitzend in der Mitte Mabuni Kenwa. Stehend von links nach rechts: Funakoshi Gichin (1869-1957), Nakasone Genwa (1895-1978) Koautor des 1938 entstandenen Buches von Mabuni Kenwa), unbekannt, Konishi Yasuhiro (1893-1983), Mabuni Kenei. Die Fotografie stammt aus dem Jahr 1930.

In der Öffentlichkeit gab es damals viele kritische Äußerungen zum Karate, denn man befürchtete, daß Leute, die Karate trainierten, ihre Fähigkeiten für Schlägereien mißbrauchen und andere verletzen könnten. Außerdem gab es Stimmen, die davor warnten, Polizisten im Karate zu unterrichten, da sie z. B. bei Verhaftungen von Straftätern Karate einsetzen und zu unangemessener Gewaltanwendung verleitet werden könnten. In dieser Atmosphäre war es schwer, Karate zu verbreiten. In gewisser Weise war es eine Vorbereitungsphase dafür, die sich allerdings recht lange hinzog.

Ich war gerade in den Sommerferien nach der 6. Klasse der Grundschule, als endlich der Ruf unseres Vaters aus Ōsaka kam: »Kommt alle hierher!« Später, als ich ins wehrdienstfähige Alter gekommen war, entschied sich die ganzen Familie für die behördliche Registrierung am neuen Wohnort. Denn wäre ich weiterhin auf Okinawa gemeldet gewesen, wäre ich unbequemerweise nach Kyūshū einberufen worden.

In Ōsaka fing ich auch an, aus eigenem Willen Karate zu trainieren. Damals war ich 13, genau so alt wie mein Vater, als er unter Meister Itosu mit dem Training begonnen hatte. Und ich muß betonen, daß mein Vater mich nicht ein einziges Mal auch nur im mindesten zum Karate gezwungen hat.

Die Entstehung des Shitō ryū

Nachdem mein Vater in Ōsaka ein dōjō eröffnet und das Schild mit der Aufschrift Yōshūkan45 angebracht hatte, kam zunächst erst einmal niemand, und das Leben war ziemlich hart. Der erste Schüler kam vom Jūdō-Verein der Kansai-Universität. Er hieß Sawayama Masaru (1907-1977) und wurde später der Begründer des japanischen Kempō (Nihon-Kempō).

In dem sechs tatami 46 großen Raum wurde Tag und Nacht trainiert, und bald waren die tatami kaputt und wurden notdürftig mit Schilfmatten abgedeckt. Der Fußboden wurde zwar bald mit Holzbrettern ausgelegt, aber noch immer war man wenig bekannt, und so kamen nur zwei bis drei Leute regelmäßig, halb Schüler, halb Nutznießer. Schließlich kamen doch einige Schüler, Studenten der Kansai-Universität, ein Rechtsanwalt und der Inhaber des Reisladens aus der Nachbarschaft, der stets etwas Reis mitbrachte. – So konnte man einigermaßen überleben.

Das damalige Training unterschied sich vom heutigen allerdings erheblich. Tagein, tagaus übte man die gleiche Kata, bis der Meister sagte: »Gut so!« (yoshi). Die Kata wurden nicht wie heute bis in alle Einzelheiten erklärt. Wenn ein Schüler bei einer Technik um Hilfe bat, sagte der Meister nur: »Na los, greif an!« und ließ ihn frei stoßen oder treten und blockte dann oder wich aus. Dazu hieß es dann nur: »Na, hast du nun verstanden?!« Techniken, die nur Sekundenbruchteile dauerten, übte man nicht nur ein, zwei Mal, man wiederholte die körperliche Erfahrung so oft, bis man die Technik auf körperlicher Ebene wirklich begriffen hatte und sie in Fleisch und Blut übergegangen war.

Nachdem mein Vater auf die Hauptinsel gezogen war, hatte er auch regelmäßigen Kontakt mit erstrangigen Meistern der Kampfkünste jener Zeit wie Konishi Yasuhiro (1893-1983, Begründer des Karate Shindō Shizen ryū, siehe Foto auf S. 57), Ōtsuka Hironori (1892-1982, Begründer des Wadō ryū) oder Fujita Seiko (1899-1966, 14. Großmeister des Kōga-Ninjutsu). Sie gaben sich dabei gegenseitig viele Anregungen zur Entwicklung ihrer Stile und brachten vorbehaltlos ihre eigenen Kata als Studienmaterial ein.

Nachdem ich die Mittelschule verlassen hatte, schickte mein Vater mich für ein Jahr nach Tokio zu Meister Konishi Yasuhiro. Während ich dort beim Karatetraining assistierte, lernte ich Jūdō-Einrenktechniken47. Denn mein Vater machte sich Sorgen, daß ich womöglich vom Karate allein nicht leben könnte.

In Japan galt Karate im Vergleich zu Kendō oder Jūdō anfangs als relativ barbarische und minderwertige Kampftechnik. Der »Tempel« des Budō war damals der Dai Nihon Butoku Kai (Großjapanischer Verband für Kampfkünste). Daß Karate in diesem Verein gleich dem Jūdō eine eigenständige Stellung gewann, war vor allem den Meistern Kanō und Konishi zu verdanken. Letzterer setzte die Bemühungen von Meister Kanō mit großem Engagement fort. So kam es 1938 zur ersten Karatevorführung bei einer Butoku-Kai-Veranstaltung. 1939 wurde der von meinem Vater geschaffene Shitō-Stil offiziell bei der Butoku-Kai-Zentrale registriert. Im selben Jahr verlieh der Butoku Kai meinem Vater auch den Titel eines Karate-Großmeisters (karate jutsu renshi). Das Shitō-Karate bildete von nun an unter der Bezeichnung Shitō Ryū Kempō Karatedō eine eigene offizielle Strömung des Karate. Außerdem wurde der Dai Nihon Karate Kai (Großjapanischer Karateverband) gegründet. Nun konnte sich das Karate in klar bestimmten Bahnen entwickeln.

Auf den Spuren meines Vaters

Nachdem ich ein halbes Leben an der Seite meines Vaters mit Karate verbracht hatte, wurde ich im Januar 1940 zum 8. Ōsaka-Regiment einberufen. Einige Zeit diente ich im Stab in Ōsaka, dann auf Taiwan und schließlich auf der philippinischen Insel Cebu, wo ich das Kriegsende erwartete. Dort kam ich in ein Kriegsgefangenenlager und kehrte im Dezember 1945 wieder nach Japan zurück.

In jenen Jahren leitete mein Vater die Karateausbildung an der Kansai-Universität, an der Kansai-Gakuin-Universität und an der Tōyō-Universität. Die jungen Leute, mit denen er dort seinen Schweiß vergoß, halfen nach dem Krieg wesentlich mit beim Aufbau und bei der Entwicklung der Japanischen Karateföderation. Als ich heimkehrte, unterrichtete mein Vater an fast allen Universitäten der Region. Ich unterstützte ihn als Ausbilder und kam so an seiner Seite viel herum. Neben den genannten Bildungseinrichtungen lehrte ich auch an der staatlichen Ōsaka-Universität, der Städtischen, der Technischen und der Wirtschaftswissenschaftlichen Universität von Ōsaka, außerdem an der Universität Kōbe sowie an der Kōbe-Fremdsprachenuniversität.

 

In den folgenden sieben Jahren, vom Kriegsende bis zum Tod meines Vaters im Jahre 1952, trainierte ich Karate in größter Nähe zu meinem Vater. Ich lernte von ihm viele Techniken und viele psychologische Dinge, die ich genau genommen erst später allmählich begriff. Das soll nicht bedeuten, daß ich damals nur durch Nachahmung gelernt habe. Manches braucht eben einfach seine Zeit.

Oft wird gefragt, worin denn das Wesen des Karate liege, das die früheren Generationen gelehrt haben. Als meinem Vater einst die Frage gestellt wurde, ob es so etwas wie einen Wesenskern des Karate gebe, antwortete er vor seinen Schülern ohne Zögern, daß es so etwas nicht gebe. Und er fügte hinzu: »In gewisser Weise kann man sagen, das alles zu seinem Wesenskern wird.« Und er sagte auch: »Die Techniken sind unendlich!« 48 Dieser Satz ist wahrscheinlich der Kern seiner Lehre.

Nachdem ich die Rolle meines Vaters als Oberhaupt des Shitō-Karate übernommen habe, habe ich viel studiert und einige Techniken verändert und manchmal auch die Frage gehört, ob das »nicht ganz anders als früher« sei. Dem ist jedoch nicht so. Auch das Karate meines Vaters änderte sich in den verschiedenen Phasen seines Lebens, von der Vorkriegszeit über die Nachkriegszeit bis in seine späten Lebensjahre. Die Menschen entwickeln sich nun einmal während ihres Lebens. Und das gleiche trifft auf das Karate zu.

Die Ziele meines Vaters

Ich habe bereits ausgeführt, daß es auf Okinawa den Begriff Karate nicht gab und daß die verschiedenen Kampftechniken dort Hand (ti, jpn. te) genannt wurden. Auch habe ich schon darauf verwiesen, daß aufgrund der Herrschaft der Satsuma-Samurai über die Ryūkyū-Inseln keine Aufzeichnungen über die verschiedenen Techniken und psychologischen Mittel der Schwertabwehr überliefert wurden. Unter dem Begriff Karate wurden die te, die verschiedenen lokalen okinawanischen Techniken des Kampfes mit der bloßen Hand, zusammengefaßt. Die entsprechenden physischen und mentalen Techniken wurden geordnet, in ein dem Kendō und Jūdō vergleichbares System gebracht und zu einem großen Ideal vereint. Jedoch blieben Meister Funakoshi und auch mein Vater die Antwort auf die Frage nach dem eigentlichen Wesen des Karate schuldig, da sie ihr gemeinsames großes Ziel noch nicht erreicht hatten, als sie von uns gingen.

Meister Funakoshi hatte aus den Zeilen des Sutra Hannya Shingyō »Die Farbe ist die Leere, die Leere ist die Farbe« das Schriftzeichen für die Silben kara entnommen und so das Wort kara-te festgelegt.49 Welche konkrete Bedeutung er diesem Wort damit gegeben hat, ist aber bis heute unklar. Mein Vater hatte für die Benennung seines Stils Shitō die Anfangszeichen der Namen seiner beiden wichtigsten Lehrer, Itosu und Higaonna, den Meistern des Shuri-te und des Naha-te, verwendet und damit auch den Charakter seines Stils inhaltlich klar definiert. Das Shitō ryū sollte eine authentische Überlieferung der Kata dieser beiden Stilrichtungen, der Hauptquellen des Karate, gewährleisten. Mein Vater hat die beiden Richtungen tatsächlich aufs gründlichste studiert. Das machte ihn auch so einzigartig. Er, der den Ehrennamen »Mabuni, der Techniker« trug, war unter den Kampfkunstexperten seiner Zeit als die Koryphäe auf dem Gebiet der Beherrschung der Kata anerkannt.

Meister Funakoshi hatte, wie an anderer Stelle bereits erwähnt, vermittelt durch seinen Sohn, Meister Gigō, etliche Kata von meinem Vater gelernt. Meister Funakoshi pflegte zu sagen: »Wenn es um Kata geht, fragt Mabuni.« Auch Meister Ōtsuka, der Begründer des Wadō ryū, und Meister Konishi, der Begründer des Shindō Shizen ryū, hatten Kata bei meinem Vater gelernt. Im Nachwort zum oben erwähnten Buch meines Vaters50 hat sich Meister Funakoshi zu den Leistungen meines Vaters deutlich geäußert:

Erinnerung an die Zeit vor zehn Jahren. Von Funakoshi Gichin.

Mabuni Kenwa und ich sind engste Freunde. Mabuni ist ein für unsere Zeit außergewöhnlicher Erforscher des Karate und er ist auf diesem Gebiet einer der besten zeitgenössischen Experten. Als wir noch auf Okinawa lebten, versammelten wir Gleichgesinnte um uns, Mabuni in Shuri und ich in Naha. Überall gründeten wir Vereine, förderten gegenseitig unsere Schüler und waren dabei so rastlos, daß wir zu essen und zu schlafen vergaßen. Wir stärkten unsere Körper zu jener Zeit buchstäblich mehr durch das Training des Karate als durch Essen und Schlafen.

Unser Ruf verbreitete sich auf der Insel, und immer mehr Leute wollten sich uns anschließen. Tag und Nacht ging man bei uns ein und aus, um etwas mitzuteilen oder zu fragen.

Mabuni erwies sich als warmherziger und charakterfester Kamerad. Die früheren Richtungskämpfe kümmerten ihn nicht mehr im geringsten. Auch die Altershierarchie war ihm nicht wichtig. Wenn er etwas nicht wußte, bat er auch Jüngere um Erklärung. Wenn er etwas Neues gelernt hatte, behielt er sein Wissen nicht für sich. Bei der nächsten Gelegenheit zeigte er es anderen und brachte es ein in das gemeinsame Studium.

Er ist für Offenheit und hat sich von der früher auf diesem Gebiet üblichen Geheimniskrämerei völlig gelöst. Über lange Zeit hat er sehr viel Material gesammelt, und er kennt sich in allen heutigen Arten des Faustkampfes aus. Es gibt sicher niemanden, der ihm in dieser Hinsicht gleichkommt. Es ist nicht übertrieben zu sagen, daß er in diesem Punkt der Größte ist.

Er initiierte gemeinsame Treffen von Praktikern des Shuri-te und des Naha-te, stellte sich dabei auch der öffentlichen Kritik, verbesserte, was zu bemängeln war, und trat für gemeinsames Lernen und gemeinsame Entwicklung ein. Das brachte ihm von allen Seiten Bewunderung und Wertschätzung ein. Es gab niemanden, der irgend etwas zu kritisieren hatte.

Wie ich vor kurzem erfahren habe, ist er ist nach Ōsaka gezogen und hat dort Beziehungen geknüpft, so z. B. zur Kansai-Universität. Er leitet viele junge Menschen an und zeigt seine Entschlossenheit, sich ganz in den Dienst der Sache, unseres Landes und unserer Gesellschaft zu stellen. Glücklicherweise hat sein Engagement in jüngster Zeit endlich gebührende Anerkennung gefunden. Jetzt ist er auch in der Kansai-Region bekannt und wird dort respektiert. Deshalb sollten wir künftig noch enger zusammenarbeiten und miteinander in Verbindung bleiben, um unsere Aufgaben zu verwirklichen und unsere Ziele zu erreichen.

Diese Erinnerungen habe ich zu Papier gebracht, weil mich Meister Mabuni für sein Buch um einige Gedanken gebeten hat.

Als mein Vater den Shitō-Stil schuf, bezweckte er damit sicher nicht eine Aufspaltung in sich voneinander entfernende Stilrichtungen. Wie Meister Funakoshi in Tokio feststellte, strebte mein Vater die Schaffung eines Karate als japanischen Weg des Kampfes (Nihon Budō) an und war sich darin mit ihm vollkommen einig.

Shitō-Karate ist Budō-Karate

Mein Vater wollte deutlich machen, daß die technische Substanz und die Ideen des Shitō ryū in der Familie Mabuni weitergegeben werden. Deshalb benutzte er als Symbol für den Shitō-Stil einfach das Familienwappen der Mabuni. Nach der Erklärung meines Vaters bedeutet der äußere Ring die Harmonie (wa). Die beiden vertikalen parallelen Linien im Inneren des Kreises und die von ihnen waagerecht nach außen abgehenden Linien stehen für das Shuri-te von Meister Itosu und das Naha-te von Meister Higaonna. Das Wappen symbolisiert folglich die Harmonie zwischen beiden Richtungen.

Foto 20: Das Wappen der Familie Mabuni.

Shuri-te und Naha-te standen natürlich stellvertretend für alle te, also für alle okinawanischen Techniken des Kampfes mit der bloßen Hand. Denn mein Vater strebte von Anfang an nach einem Karate, das alle diese Techniken vereinte. Indem er dem Familienwappen so einen neuen Sinn verlieh, schuf er ein Symbol für das von ihm angestrebte Karate. Dieses war nicht nur eine oberflächliche Vermischung, sondern eine tiefgehende Fusion der beiden Richtungen.

Im Ausland bin ich oft gefragt worden, welche geistige Bedeutung das Wappen habe. Ich habe daraufhin viel über die höhere Bedeutung des Shitō-ryū-Symbols nachgesonnen. In anderen Ländern haben Wappen und Symbole immer irgendeine höhere Bedeutung. In Europa findet man z. B. oft Schwerter oder Löwen in den Wappen.51 Meine Vater hat zwar technische Bedeutungen vermittelt, aber er hat keine Lehren über den geistigen Sinn hinterlassen. D. h., er hat die technischen Aspekte des Shitō ryū systematisiert, aber nicht die geistigen. Dafür war ihm einfach nicht die Zeit geblieben. Meiner Ansicht nach können die parallelen vertikalen Linien im Kreis auch als einander gegenüberstehende Menschen gedeutet werden, der Kreis als Erdball. So könnte man zwei Menschen sehen, die gut ausbalanciert die Erdkugel stützen. Für die Wahrung der Harmonie muß genau der richtige Abstand gewahrt sein und es darf keine einseitige Bewegung nach rechts oder links geben. Das steht dafür, daß jeder Mensch ein Gefühl für das Gleichgewicht und die Harmonie mit anderen Menschen haben sollte. Eines Tages erwiderte ich, als mir während eines Karatelehrgangs wieder jemand diese Frage stellte, spontan und ohne zu zögern, daß das Wappen die »Harmonie zwischen den Menschen (wa)« symbolisiere und in diesem Sinne ein Symbol des Friedens sei. Und ich denke, das ist eine gute Interpretation. So habe ich der technischen Erklärung des Wappens noch eine geistige hinzugefügt. Ich glaube, mein Vater hätte diese Interpretation unseres Familienwappens gutgeheißen. Denn in seinem Buch aus dem Jahre 1934 hatte er geschrieben: »Das Wesen der Kampfkunst liegt im Gleichmaß (hei), ihr letztes Ziel ist die Harmonie (wa).« Beide Zeichen, verbunden zum Wort heiwa, bedeuten Frieden.

Beim 3. Treffen des Shitō-Karate im Jahr 2000 wurde auf meinen Wunsch im Informationsmaterial diese Erklärung des Wappens auf Japanisch und Englisch veröffentlicht. Damit wurde die von den Ideen der »Erneuerung des Karate« und des »Weltfriedens« bestimmte Bedeutung des Shitō-Symbols auch international bekannt gemacht.

Ich will mich jetzt noch einmal der Frage zuwenden, welche Art von Karate mein Vater anstrebte und was das Shitō ryū charakterisiert. Shitō-Karate ist Budō-Karate, ein Weg des Kampfes. Das entspricht genau der obenstehenden Formulierung meines Vaters über das Wesen der Kampfkunst. Das Karate wurde als Budō, als Weg des Kampfes, geschaffen, nicht als Freizeit- oder Wettkampfsport.

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