Leere Hand

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Die gesundheitsfördernde Wirkung des Karate

Bereits vor meiner Geburt hatte mein Vater sein Leben der Entwicklung des Karate als Methode der Körpererziehung verschrieben. In der Öffentlichkeit nannte man ihn »Mabuni, der Techniker«. Als Erbe der authentischen okinawanischen Techniken des Kampfes mit der bloßen Hand (te) galt er allgemein als außerordentlicher Experte. Sein Ziel bestand darin, Karate als Methode der Gesundheitsförderung zu verbreiten und damit zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation der breiten Bevölkerung beizutragen.

Im Unterschied zu anderen Kampfkünsten kann man im Karate seine körperlichen Fähigkeiten auf der Basis von Kata trainieren. Insgesamt gibt es etwa 50 klassische Kata. So viele muß man natürlich nicht lernen, es sei denn, man will selbst Karate lehren. Kata bestehen aus Folgen von Angriffs- und Abwehrbewegungen mit Bezug auf einen imaginären Gegner. Um sie auszuführen, braucht man keinerlei Gerätschaften. Außerdem kann man Kata leicht üben, auch in großen Gruppen und verbunden mit viel Freude. Manche Anfänger haben Angst vor Kataübungen mit einem realen Gegenüber, d. h., vor dem Training mit Partner (kumite). Aber wenn man Karate nur betreibt, um seine Gesundheit zu fördern, ist es gar nicht erforderlich, sich mit dem kumite auseinanderzusetzen. Man benötigt auch nicht viel Platz, um eine Kata auszuführen. Eine Fläche von 3½ bis 4 Tatami-Matten, d. h., etwa 7-8 m², ist ausreichend.

Das von meinem Vater entwickelte Shitō-Karate enthält die traditionellen Kata des Shuri-te und des Naha-te, der beiden wichtigsten Stilrichtungen der okinawanischen Kampfkünste mit der bloßen Hand. Was die einzelnen Techniken angeht, so sind die Unterschiede zwischen beiden nicht allzu groß. Es ist jedoch für die Kata des Shuri-te charakteristisch, daß sie viele effektive und schnelle Angriffs- und Abwehrbewegungen für einen Kampf auf lange Distanz enthalten. Typisch für das Naha-te sind dagegen der Nahkampf mit »schweren« Bewegungen und spezielle Atemtechniken, die aus dem chinesischen Fukien-Kempō5 stammen. Diese große Spannweite ermöglicht es, daß man ohne weiteres für jedes Alter, jeden Körperbau und jeden physischen Zustand geeignete Kata finden kann. Das ist der große Vorzug des Shitō-Karate.

Lange Kata enthalten etwa 70 Techniken, kurze Kata etwa 20. Eine kurze Kata dauert nicht länger als eine Minute. Es gibt keinen Teil des Körpers, der beim Üben von Kata nicht bewegt wird, und die Resultate lassen sich schon sehr bald erkennen. Männer bekommen einen ausgewogenen, starken Körper, und für Frauen ist es ein ideales Schönheitstraining. Da man weder einen besonderen Raum noch Gerätschaften oder spezielle Kleidung braucht, gibt es keine einfachere Methode, einen guten Gesundheitszustand zu schaffen. Selbst sehr beschäftigte Leute sollten die wenigen Minuten erübrigen können, die nötig sind, um sich mit dieser Methode fit zu halten. Manch einer mag nun einwenden, daß er hierfür zu alt sei. Tatsächlich jedoch kann man prinzipiell in jedem Alter mit dem Training beginnen. Ein paar Minuten Katatraining jeden Tag können ein langes Dasein garantieren. Nahezu alle Karate-Meister, ob aus Okinawa oder von den japanischen Hauptinseln, erfreuten sich eines langen Lebens.

Die Wirkung des Karate-Trainings auf den Körper

Mich selbst könnte man als lebendiges Beispiel nehmen. Ich bin jetzt 83 und war niemals ernsthaft krank. Mehrmals im Jahr fahre ich als Trainingsleiter ins Ausland. Die Zeitverschiebung spüre ich nie und trainiere immer gleich am folgenden Tag zusammen mit den jungen Leuten.6

1938 publizierte mein Vater das Buch »Einführung in die Angriffs- und Abwehrtechniken im Karate«.7 Das Werk enthält verschiedene Aussagen über die Auswirkungen des Trainings, wie z. B.: »Durch das Karate bereiten auch alle anderen Aktivitäten mehr Freude«, »Physisch schwache Personen können zu Hause trainieren und dadurch stark werden«, »Kranke und dicke Personen bekommen kräftige Muskeln und werden gesund«, »Man trinkt abends immer weniger Alkohol und arbeitet tagsüber effektiver« und »Nervenschmerzen und Nervenschwäche werden kuriert«.

Es lag meinem Vater am Herzen, Karate als hervorragende Methode der Gesundheitsförderung zu propagieren. In Zusammenarbeit mit einer medizinischen Universität gelang es ihm, die positiven medizinischen Wirkungen nachzuweisen, u. a. anhand von Blut- und Urintests. Sein Buch enthält auch Auszüge aus einem Forschungsbericht von Marineärzten, die die physiologischen Wirkungen des Karate beschrieben. Diesem zufolge fördert Karate den Stoffwechsel und die Nervenreflexe. Gleichgewichtswahrnehmung und Muskelkraft werden verbessert, und es kommt zu einer Harmonisierung des gesamten körperlichen Zustands. Damit war der positive Einfluß des Karatetrainings auf den Körper hinreichend belegt.8

Das Buch erschien, nachdem mein Vater zehn Jahre auf der japanischen Hauptinsel gelebt und dort für die Verbreitung des Karate gewirkt hatte. Das Karate, das mein Vater von Okinawa mitgebracht hatte, war sehr spirituell und religiös. Leider ist das heutige Karate in diesem Punkt weit von dem entfernt, was mein Vater damals verbreiten wollte. Die spirituell-seelische Erziehung sollte der auf Selbstverteidigung orientierten kampftechnischen Ausbildung nutzen. Am Ende des Buches schrieb er: »Wenn Sie wirklich einmal in eine Situation kommen, in der dies nötig ist, dann werden Sie handeln können.«

Karate in gefährlichen Situationen

Ich machte in meinem Leben mehrfach die Erfahrung einer spontanen Reaktion des Körpers auf eine plötzliche Gefahr. Als ich 16 oder 17 war, fuhr ich mit einem Freund an den Shirahama-Strand in der Präfektur Wakayama. Wir wollten die Aussicht von Senjōjiki genießen. Ich stand mit dem Rücken zum Meer und war gerade dabei, den Gürtel meiner Badebekleidung straffzuziehen, als plötzlich eine riesige Woge über mich hereinbrach und mich gegen einen Felsen schleuderte. Mein Freund, der die Welle kommen gesehen hatte, war weggerannt. In dem Moment, als ich begriff, daß eine Welle mich verschlungen hatte und mein Körper ein Spielball des Wassers geworden war, krallte ich mich instinktiv an den Felsen, gegen den die Brandung mich geworfen hatte. Hätte mich die Welle wieder ins Meer gesogen, wäre ich wohl nicht mehr lebend herausgekommen. Nicht wenige haben auf diese Weise ihr Leben verloren.

Später, gegen Ende des Großen Ostasiatischen Krieges9 war ich auf der philippinischen Insel Cebu stationiert. Die amerikanischen Truppen waren bereits mit großer Angriffswucht gelandet. Deshalb mußten wir zusammen mit den hier lebenden Japanern ins zentrale Hochland der Insel flüchten. Wir konnten nur nachts marschieren, denn tagsüber kreisten amerikanische Hubschrauber über der Gegend. Wir marschierten also in absoluter Dunkelheit, eine Hand am Gürtel oder auf der Schulter des Vordermannes. Plötzlich rutschte ich ab und stürzte einen Abhang hinunter. Als ich wieder zu mir kam, saß ich vier oder fünf Meter tiefer und hielt meinen Tornister umklammert. Ich war erstaunlicherweise unverletzt. Ich sagte zu mir selbst: »Ist vielleicht nicht so gut, zurückzubleiben«, kletterte den Hang schnell wieder hinauf und schloß mich den anderen an. Auch damals dachte ich, wie gut es doch sei, Karate zu trainieren. Denn auch diesmal hatte mein Körper offensichtlich spontan auf die plötzliche Gefahr reagiert und es vollbracht, daß ich den tiefen Sturz unbeschadet überstand.

Auch in vielen anderen weniger dramatischen Situationen wurde mir zutiefst bewußt, daß ich ohne Karate vielleicht mein Leben verloren hätte oder zumindest schwer verletzt worden wäre. Vielleicht wird manch einer einwenden, daß ich das gewiß nur mit einem speziellen Training erreicht habe. Das stimmt aber nicht. Jeder, der Karate ernsthaft und kontinuierlich trainiert, kann das erreichen.

Karate als spirituelle Kampfkunst

Da Karate immer mehr als Wettkampfsport betrieben wird, hat die Zahl der Frauen, die Karate vor allem zur Selbstverteidigung trainieren wollen, stark abgenommen. Aber neben der Gesundheitsförderung ist die Selbstverteidigung das ursprüngliche Ziel und nach wie vor eine wichtige Funktion des Karate.

Als mein Vater an der Meijō-Mädchenschule Karate unterrichtete, entwickelte er eigens zwei Kata für die Selbstverteidigung von Mädchen, die Meijō, »heller Stern«, benannt nach der Schule, und die Aoyagi, »grüne Weide«, Ausdruck von Eleganz und Sanftheit. Diese Kata sind sehr auf den realen Kampf ausgerichtet. Sie enthalten Techniken gegen typische Angriffe, wie z. B. plötzliche Umklammerung von vorn oder hinten, oder auch Techniken, die die Energie des gegnerischen Angriffs nutzen. Aber solche kurzen, kampforientierten Kata sind für Wettkämpfe nicht besonders geeignet und deshalb heute leider nicht mehr so beliebt.

Vor kurzem las ich einen Artikel in der Zeitung Asahi Shimbun, in dem darüber berichtet wurde, daß ein Mittelschüler in Ōsaka, der in seinem Haus von einem Einbrecher mit einem Messer angegriffen wurde, dem Angriff auswich und so die Chance bekam, wegzurennen. Dem Reporter sagte er danach: »Als ich das Messer sah, reagierte mein Körper ganz spontan. Ohne mein Karate-Training wäre ich sicher vor Angst erstarrt.«

Um Karate zur Selbstverteidigung zu nutzen, reicht es nicht, die einzelnen Techniken zu erlernen. Man muß auch eine bestimmte seelische Energie, ki,10 entwickeln, um seine Fähigkeiten genau in dem Moment zu mobilisieren, in dem sie gebraucht werden, nämlich, wenn man einer plötzlichen Gefahr begegnet. Ohne diese Energie kann man die Techniken nicht einsetzen, wie oft man sie auch geübt haben mag. Deshalb ist die psychische Entwicklung so wichtig.

 

Unter den Kampfkünsten wird gerade das Karate als Kampfkunst der Seele (ki no Budō) bezeichnet. Natürlich ist das ki nicht nur im Karate wichtig. Auch im Jūdō, Kendō oder Iaidō wird die seelische Energie entwickelt. Denn damit bereinigt man jede Art seelischer Unruhe und erlangt die Fähigkeit, die gesamte psychische Kraft auf einen Punkt zu konzentrieren. Da Karate darauf zielt, seinen eigenen Körper mit leeren Händen zu verteidigen, ist flexible seelische Energie, mit der man auf plötzliche Gefahren spontan reagieren kann, das wichtigste.

Selbstverständlich hat auch die physische Kraft Einfluß auf die Entwicklung. Grundsätzlich kann man sagen, daß Menschen, denen es an körperlichem Selbstvertrauen fehlt, anfällig sind für psychische Schwäche. Karate-Training beansprucht den ganzen Körper. Deshalb können auch Menschen, die anfangs physisch schwach sind, rasch körperliches Selbstvertrauen gewinnen.

Die Atemtechniken im Karate

Wie schüchtern und körperlich schwach man auch gewesen sein mag: Wer Karate ernsthaft betreibt, regelmäßig übt, auch wenn es immer nur ein bißchen ist, wird schnell wahrnehmen, wie sich der Körper mit Energie füllt, wie sich vom Bauchgrund her ein Gefühl des Selbstbewußtseins entwickelt und wie auf natürliche Weise Ruhe im gesamten Körper einkehrt. Das ist das Besondere am Karate.

Besonders die Atemtechniken des Naha-te (kisoku hō) zeigen, wie das Karate die seelische Einheit fördert.11 Die Atmung ist für alle Kampfkünste wichtig. Aber das bewußte Training der Atmung ist spezifisch für das Karate. Das Atmen, vor allem das Einatmen (iki o suru) ist aufs engste verbunden mit dem Leben. Das japanische Wort für »leben« (iki-ru) soll sogar abgeleitet sein von dem Wort für Einatmen. Menschen können einen Monat ohne Essen überleben. Aber ohne zu atmen lebt man bekanntlich nicht allzu lange.

Wird man in einer gewalttätigen Auseinandersetzung nervös, hat man schon verloren. Solch eine Nervosität kommt von Puls- und Blutdruckstörungen, die wiederum von Störungen der Atmung hervorgerufen werden. Aus diesem Grund sind manche Menschen auch aufgeregt, wenn sie vor einer Menschenmenge stehen. Laufen die Dinge nicht so, wie man es sich vorgestellt hat, fühlt man sich meist niedergeschlagen, deprimiert. Ohne daß man es merkt, wird auch die Atmung kurz und flach und geht kaum tiefer als bis zum Hals. Im schlimmsten Fall atmet man sozusagen nur noch mit der Nasenspitze. Wird solch eine Atmung zur Gewohnheit, braucht man nicht zu erwarten, mit einem langen Leben gesegnet zu werden.

Um die Seele zu harmonisieren, muß man die Atmung harmonisieren. Durch eine Atmung, die tief in den Bauch hineingeht, ordnen sich die Energien im Unterbauch. Wenn dort alles »ruhig sitzt«, kann man sich Hoffnung auf ein langes Leben machen. Die Wirkung richtigen Atmens erhöht sich natürlich, je besser die Atemregeln verstanden und bewußt befolgt werden. Bekanntlich gibt es mehrere Atemlehren, wie z. B. im Yoga oder im Qi Gong, die ich auch studiert habe. In diesen Lehren gilt das Anhalten des Atems (taisoku) als schädlich. Nach der Atemlehre des Karate ist es aber sehr sinnvoll. Es stärkt das Herz und fördert die Flexibilität der Atmung. Ich bin schon über 80, habe aber keinerlei Probleme beim Treppensteigen und komme nie in Atemnot.

Der Zustand der vollkommenen inneren Ruhe

Beim Karate-Training entwickelt man sich physisch, kampftechnisch und psychisch. Da diese drei Aspekte der Ausbildung in den Kata miteinander verknüpft sind, entwickelt man sich mit dem Katatraining selbstverständlich auch in dieser dreifachen Hinsicht. Solch eine Entwicklung ist ein Vergnügen, und zwar eines, das niemals enden muß.

In der Edo-Zeit (17.-19. Jh.) wurden die Samurai des Fürstentums Nabeshima im heutigen Saga auf der Insel Kyūshū auf der Grundlage des Hagakure12 ausgebildet, eines berühmt gewordenen Moral- oder Verhaltenscodex. Das erste, was ein Samurai zu beherzigen hatte, bezog sich auf seine Einstellung zum Älterwerden. Diese erste Lehre besagte, daß das Üben niemals endet. Wie gut man auch sein mag, es gibt keinen Grund zum Dünkel. Wie hoch man auch in der Hierarchie steigen mag, das Lernen hat kein Ende. Ein wirklicher Meister folgt seinem Weg ohne Ende und versucht Tag für Tag, sein ganzes Leben lang, sich zu verbessern.13

Wer nur übt, um gegen andere zu gewinnen oder besser zu sein als andere, der übt sozusagen auch für andere. Das ist nicht der wahre Weg. Wenn man jedoch Freude daran empfindet, Karate für sich selbst zu meistern, wenn man gar nicht mehr damit aufhören kann, was auch immer die anderen dazu sagen mögen, dann kann man Karate als Weg ohne Ende erleben.

Über einen solchen Zustand der Versenkung, der vollkommenen Konzentration und inneren Ruhe, zanmai,14 hat mein Vater einmal folgende Zeile geschrieben: »Ich genieße es, wenn der Geist sich leert beim Rudern zur Insel des bu«.15

Im Japanischen gibt es das Wort gunshū, das in etwa bedeutet: »Lernen durch Geruch annehmen«. Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß sich der Geruch eines Gegenstands auf die Person überträgt, die ständig mit ihm umgeht. Wenn man regelmäßig mit Holz arbeitet, nimmt man nach und nach dessen Geruch an. Was jemand immerfort tut und denkt, wird schließlich Teil von ihm selbst, prägt seinen Charakter und im übertragenen Sinne seinen »Geruch«. Wenn mein Vater als Polizist auf Okinawa die hier und da zurückgezogen lebenden Karate-Meister besuchte, oder wenn er an der Fischereischule Karate unterrichtete oder zu Karatevorführungen ging, nahm er mich immer mit und ließ mich auf seinem Schoß sitzen. Auf diese Weise habe ich zweifelsohne seinen »Geruch« angenommen.

Immer wieder sehe ich in der Erinnerung meinen Vater vor Augen, wie er mit seinen Kameraden im Licht einer nackten Glühbirne mit freiem Oberkörper trainierte, und wie sie einander dabei anfeuerten und die Welt ringsum vergaßen. Nachdem er nach Ōsaka gezogen war, wußte er nie, was der nächste Tag bringen würde. Trotzdem widmete er sich weiter ganz dem Studium des Karate, immer in Gemeinschaft mit einigen Freunden, denen er häufig auch Essen und Unterkunft bot. Seine Sorge galt auch der Pflege der tatami-Matten, die im Training schnell verschlissen. Kehrte einer seiner Schüler unversehrt aus dem Krieg zurück, war er darüber genauso glücklich, wie er es bei meiner Heimkehr aus dem Kriege war. Dieser Art ist der Geruch meines Vaters, der sich unauslöschlich an meinen Körper geheftet hat und den ich nie verlieren werde. Auch ich werde wie mein Vater den Weg des Karate gehen, der kein Ende kennt. Ich werde mein Leben lang üben, solange, wie mein Körper sich bewegt, Schritt für Schritt, Stufe für Stufe. Ich weiß nicht, wie weit ich dabei komme, ich weiß nur, daß ich gehen werde, solange ich kann. Tag für Tag besser zu werden, immer weiter voranzukommen, nur das hat Sinn und bringt Freude. Das ist es, wodurch sich das Budō-Karate auszeichnet, welches ich verbreiten möchte und das der Gegenstand dieses Buches ist.

I

1 Entstehung und Entwicklung des Karate
1.1 Karate als Kampftechnik
Formen des waffenlosen Kampfes in alter Zeit

Von allen Völkern sind Formen des waffenlosen Kampfes überliefert, so daß man davon ausgehen kann, daß es sich hierbei um ein gemeinsames Erbe der Menschheit handelt. In der ältesten japanischen Schrift, dem Kojiki16 wird von einem Kräftemessen der Götter Takemigazuchi no kami und Takeminakata no kami am Inasa-Strand von Izumo berichtet. Die Annalen des Nihonshoki erwähnen einen Kampf zwischen Nomi no Sukune und Taima no Kehaya. Dieser Kampf zwischen Sukune und Kehaya gilt als Geburtsstunde des Sumō.17 Anders als im heutigen Sumō muß es ein Wettkampf auf Leben und Tod gewesen sein, der zwar waffenlos, aber ansonsten ohne Verbote geführt wurde. Denn Sukune brach Kehaya mit Tritten die Hüfte und trat ihn dann zu Tode.

Solche Techniken des waffenlosen Kampfes gab es seit alter Zeit überall auf der Welt. Selbst aus dem alten Indien wird berichtet, daß Buddha mit seinem jüngeren Bruder gekämpft haben soll, um als Sieger ein schönes Mädchen zur Frau nehmen zu können. Ich selbst habe in Indien Kämpfe gesehen, die dem Sumō ähneln. Auch in China gab es von alters her Kempō-Faustkampftechniken.18 In der Zeit der Frühlings- und Herbstannalen (722-481 v. Chr.) hießen sie »Tapfere Faust« (kenyū) oder »Kampfkunst« (bugei), in der Zeit der Streitenden Reiche (475-221 v. Chr.) »Schlagtechnik« (gigeki) und in der Han-Zeit (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) einfach »Technik« (gikō) oder »Rundschlagen« (shubaku).

Der Shaolin-Faustkampf als Kampftechnik der Mönche

Das Shaolin-Kempō entstand im chinesischen Shaolinkloster, das im Jahr 495 (späte Wei-Zeit) von Kaiser Xiào Wén (471-499) für den aus Indien kommenden Zen-Meister Ba Tuo errichtet wurde. Es liegt in der Provinz Henan südlich vom Gelben Fluß (Huanghe) am Fuße des Songshan-Gebirges (japanisch: Sūzan) und wird deshalb auch Kloster Songshan Shaolin genannt. Das Shaolinkloster wurde berühmt durch den Aufenthalt von Bodhidharma19 (jpn. Daruma), der zum Begründer des Zen-Buddhismus in China wurde und die zazen-Meditation20 einführte. Er wurde deshalb auch – wahrscheinlich fälschlicherweise – als Gründer des Shaolintempels oder Ahnherr des Kempō bezeichnet.

In den chinesischen Klöstern gab es viele Kunstschätze und anderes Vermögen. Die Notwendigkeit, diese in dem ständig von Unruhen geplagten Land verteidigen zu müssen, hat dazu geführt, daß sich die Kampftechniken in China vorrangig in den Klöstern entwickelten. Unter dem Begriff Shaolin-Kempō sind Techniken zusammengefaßt, die aus dem Shaolinkloster bzw. aus der Region, in der es sich befand, stammen. Einige davon sind im Laufe der Zeit verlorengegangen, wie z. B. die Techniken »Durchschlagende Faust« (tsūhai ken), »Beseelte Faust« (shin i ken) oder »Kosmische Faust« (rikugō ken).

Im Shaolinkloster unterschied man zwischen Gebetsmönchen, die sich auf die religiösen Studien spezialisierten, und Kampfmönchen, die vor allem die Kriegskünste studierten. Die Kampfmönche wurden gleich bei ihrem Eintritt ins Kloster kahlgeschoren und als Mönche gekleidet. Ihre Zeit verbrachten sie in der Folge eher mit dem Training der Kampfkünste als mit dem Studium des Buddhismus. Als religiöse Übung praktiziertes japanisches Shaolin-Kempō gibt es erst seit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wurde von Meister Sō Dōshin (1911-1980) begründet.

Seit der Ming-Zeit war das Shaolinkloster im übrigen weniger für seine Fausttechniken, als vielmehr für seine Stocktechniken, Kompō21 bzw. Bōjutsu, bekannt. Andererseits wurde auch ein Fukien-Kempō überliefert, das sich in den südchinesischen Provinzen Fukien und Kanton herausgebildet hat. Auch das Fukien-Kempō soll aus einem Shaolinkloster stammen. Dabei handelt es sich aber wohl nicht um das ursprüngliche Songshan-Shaolinkloster, sondern um ein später in der Provinz Fukien errichtetes Tochterkloster.

Das Shaolinkloster von Fukien existiert heute nicht mehr. Es ist auch nicht mehr genau feststellbar, wo es sich befand. Überreste, die auf ein solches Kloster hindeuten könnten, hat man an verschiedenen Stellen gefunden. Da das Songshan-Shaolinkloster nördlich des Yangtse-Flusses lag und sich das Fukien-Shaolinkloster südlich davon befand, spricht man auch von einem Nord-Shaolin und einem Süd-Shaolin bzw. von einem nördlichen und einem südlichen Kempō.

Wie auch in anderen Ländern gab es Zeiten, in denen die Staatsmacht bestimmte Religionen förderte und Zeiten, in denen sie sie unterdrückte. Das Shaolinkloster war davon nicht ausgenommen. Es erlebte sowohl Förderung und Prosperität, als auch Unterdrückung und Brandschatzung. Sicher gab es auch Mönche, die in beiden Klöstern praktizierten und andere, die in Zeiten der Verfolgung in anderen Klöstern Zuflucht fanden und ihr Wissen über die Kampftechniken weitergaben. Es ist auch anzunehmen, daß sie die Verbreitung und das Niveau von Kampftechniken im einfachen Volk beeinflußten. In China unterscheidet man zwischen dem Kempō der Mönche, dem »zum Haus gehörenden« oder Klosterkempō, und dem »nicht zum Haus gehörenden« oder Volkskempō. Repräsentativ für letzteres ist das Taijiquan.

 

So entstand das heutige chinesische Kempō aus verschiedenen Formen und Stilen des waffenlosen Kampfes, die einen langen Entwicklungsprozeß durchliefen und sich gegenseitig beeinflußten. Aber zweifellos waren es die beiden Shaolinklöster, die in ganz China den Heldenmut entfachten. Wie im japanischen Hieizan-Kloster im ausgehenden Mittelalter bewaffneten sich die Mönche und griffen in das weltliche Geschehen ein.

Ähnlich verhielt es sich in Japan mit Minamoto no Yoshitsune und Musashi Bō Benkei zum Ende der Heian-Zeit (794-1185). Yoshitsune, als Kind Ushiwaka-maru genannt, lebte im Kurama-Kloster im Norden der japanischen Hauptstadt. Er praktizierte dort buddhistische Geheimlehren (Mikkyō)22, begann aber vor allem auch, sich mit Kampftechniken zu beschäftigen. Der Überlieferung nach wurde er vom großen langnasigen Berggeist (Dai Tengu)23 von Kurama in den Kriegskünsten unterrichtet. Um sich abzuhärten, ging Yoshitsune jeden Tag den Weg aus den Kurama-Bergen ins Zentrum der Hauptstadt zu Fuß. Dabei traf er einmal auf der Brücke von Gojō auf Benkei und besiegte ihn.24 Diese Geschichte ist in Japan vor allem durch ein Kabuki-Stück25 gut bekannt.