Erbschaftsangelegenheiten

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Katrin Heins

Erbschaftsangelegenheiten

Kurzgeschichte

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Erbschaftsangelegenheiten

Impressum

Erbschaftsangelegenheiten

Für Mutter war die Welt ein unsicherer Ort. Das wundert mich nicht. Sie war ein Kriegskind. Sie wuchs auf mit dem Gefühl, dass jedem jederzeit alles genommen werden konnte. Sie sah täglich, dass es davor keinen wirksamen Schutz gab. Am besten war es, so lernte sie aus dem, was sie sah, zu tun, was von einem verlangt wurde, und nicht aufzufallen. Aber selbst wenn man alles richtig machte, konnte das Unglück von einem Moment auf den nächsten zu einem kommen und sich auswüten.

Wenn es soweit war, überraschte es sie nicht. Als Vater starb, waren Mutter und er noch nicht einmal fünfzig. Trotzdem sagte sie: Welch ein Glück, dass wir einander so lange hatten. Sie sagte das mit Verwunderung in der Stimme, als sei es erstaunlich, dass das Unglück sich so lange Zeit gelassen hatte.

Ihr sollt es einmal besser haben. Mit diesem Satz sind wir aufgewachsen. Meine Geschwister haben das verinnerlicht. Aus ihnen ist etwas geworden, wie man so sagt, und sie sind stolz auf das, was sie erreicht haben, was sie besitzen. Es scheint, als sei ich die einzige von uns vieren, die auch den Unterton in Mutters Stimme gehört hat, ihren Zweifel, dass die Welt wirklich etwas Besseres für uns bereithalten würde. Wenn mir im Leben etwas Gutes passiert, erschrecke ich. Ich denke immer daran, wie es ist, etwas Gutes wieder zu verlieren. Das scheint mir schlimmer, als es nie gehabt zu haben. Du bist wie Mutter, sagen meine Geschwister manchmal. Aber das stimmt nicht. Das Unglück, vor dem ich mich fürchte, ist etwas Abstraktes. Mutter hatte das Unglück erlebt, aber ich erbte nicht ihre Erfahrungen, nur ihre Angst.

Wir Geschwister mochten weder Kurt noch Artus, aber wir mochten sie aus unterschiedlichen Gründen nicht.

Es war einfach, Kurt nicht zu mögen. Er war ein ungehobelter Mann mit Stammtischmentalität, der mit Vergnügen sexistische Witze auf Mutters Kosten riss. Wir sagten: Eine wie Mutter hat der gar nicht verdient. Aber im Grunde schämten wir uns, dass Mutter eine Frau war, die sich mit einem Mann wie Kurt zufrieden gab. Die ihm das Essen kochte und das Haus sauber hielt, seine Wäsche wusch und über seine Witze lachte. Die äußeren Vorteile ihrer Beziehung lagen allesamt auf seiner Seite. Wir schämten uns, dass sie das, was sie aus dieser Beziehung erhielt, sich von einem Mann wie Kurt geben ließ. Ein Leben ohne Mann empfand sie als wertlos. Erst ein Mann an ihrer Seite gab ihr einen Status als Frau. Kurt hatte sie genommen, und dafür gab sie ihm, was sie Liebe genannt hätte. Warum Kurt? Wir wussten es nicht. Sie kannten sich von früher. In ihrer Jugend soll er ein Freund von Vater gewesen sein. Er hatte lange im Ruhrgebiet gelebt, mit Frau und zwei Kindern. Die Frau war gestorben. Und plötzlich war er da, an Mutters Seite, in unserem Haus. Es gab nie eine Geschichte dazu, nur die Tatsache, dass es so war, und sie erlaubte uns nie, diese in Frage zu stellen.

Wegen Kurt schämten wir uns, aber auf Artus waren wir eifersüchtig. Artus ist der hässlichste Hund, den man sich denken kann. Seine Beine sind zu kurz für seinen massigen Körper, sein Fell ist dünn und struppig, und er stinkt. Wenn er bellt, geht es einem durch Mark und Bein, und er kann mit keinem, weder Mensch noch Hund. Aber Mutter überschüttete dieses ganz und gar nicht liebenswerte Geschöpf mit all ihrer Liebe. Zum Dank biss er sie mehr als einmal in die Hand.

Für uns war Mutters Liebe immer eine Art Tauschgeschäft gewesen. Liebesbezeugungen gab es für gute Schulnoten und unaufgeforderte Hilfe im Haushalt, Liebesentzug für Zuspätkommen und unaufgeräumte Zimmer. Das stellten wir nie in Frage, auch als Erwachsene nicht. Wir buhlten mit originellen Weihnachtsgeschenken und Anrufen zum Muttertag um sie, bis Artus kam und uns zeigte, dass auch Mutter bedingungslos lieben konnte. Das verziehen wir ihm nicht.

Nach Mutters Tod ging es mit Kurt bergab. Bis dahin gab er sich immer unverwüstlich, prahlte mit seiner Kraft. Aber dann verlor er innerhalb weniger Wochen mehr als zehn Kilo, und seine rechte Hand hörte nicht mehr auf zu zittern, ohne dass ein Grund dafür festgestellt werden konnte. Es war Mutters Haus, in dem er nun allein wohnte, und wir Geschwister hatten es geerbt. Die anderen drei wollten es so schnell wie möglich verkaufen, aber ich weigerte mich. Es war nicht nur wegen Kurt, aber auch wegen ihm. Es schien mir schäbig, ihn einfach vor die Tür zu setzen. Mutter hätte das nicht gewollt, sagte ich, aber keines meiner Geschwister akzeptierte meinen Einwand. Sollen wir das Haus ewig behalten, nur damit dieser Idiot ein Dach über dem Kopf hat, sagten sie.

Aber Mutter hätte ohnehin nicht gewollte, dass das Haus verkauft wird. Nach Vaters Tod war es für sie schwierig gewesen, die Raten allein aufzubringen. Aber sie hatte immer gewollt, dass die Familie, also wir Kinder, einen Ort hatten, der unser aller Zuhause war. Und tatsächlich war es sogar bei meinen Geschwistern so, dass sie sagten, sie kämen nach Hause, wenn sie von unserem Elternhaus sprachen, obwohl sie längst eigene Häuser, eigene Familien, jeder ein eigenes Zuhause hatten. Schließlich sagte ich, dass ich dort einziehen wolle. Und Kurt, fragten sie, und ich sagte, auch zu meiner Verwunderung, der bleibt, wo er ist.

So erbte ich nicht nur Mutters Haus und den Garten, sondern auch ihr Auto, ihren Lebensgefährten und ihren Hund.

Jetzt im Sommer saß Kurt meist mit seinen Kumpels im Schatten der überdachten Terrasse. Welch ein Anblick, dachte ich, wenn ich mit dem Fahrrad um die Ecke bog. Vier Männer zwischen siebzig und achtzig in Shorts und Unterhemden, nicht das erste Bier vor sich auf dem Tisch und eine Schnapsflasche, die regelmäßig von einem zum anderen wanderte.

Artus bellte. Bei jedem anderen Hund hätte sein Verhalten Freude ausdrücken können, aber Freude war keine Gefühlsregung, die man mit Artus in Verbindung brachte. Im besten Fall schien es eine Art von aufgeregter Ungeduld, dass sein nachmittäglicher Gassigang und das anschließende Fressen unmittelbar bevorstanden.

Sieh an, grölte Kurt, meine bessere Hälfte kommt nach Hause. Die anderen lachten. Ich wünschte mir – nicht zum ersten Mal – mit einem schlagfertigen Witz parieren zu können. Aber ich konnte nichts anderes als mein Fahrrad ohne ein Wort in den Schuppen zu schieben und mich still zu ärgern. Auf dem Rückweg nahm ich einen möglichst weiten Weg um den Tisch herum, damit er wenigstens keine Möglichkeit hatte, mich in den Po zu kneifen. Ich ging ins Haus und versuchte, das Gelächter von der Terrasse zu ignorieren. Vielleicht lachen sie gar nicht mehr über mich, sagte ich mir.

Artus war mir gefolgt. Er saß auf der Schwelle zur Küchentür und sah mich an. Es war beunruhigend, wenn er so ruhig war. Sein Blick bekam etwas Durchdringendes, als läge meine Seele vor seiner ganzen Hundeweisheit bloß. Ich griff in die Dose mit den Leckerlis. Hier, sagte ich und hielt ihm eines hin. Zufrieden beobachtete ich, wie seine Weisheit von Gier verdrängt wurde. Bist doch nur ein Hund, sagte ich, doch er beachtete mich nicht mehr.

Ich nahm den Weg durch die Wiesen. Es war der einsamste, und ohne die Begegnung mit anderen Hunden oder Menschen waren die Spaziergänge mit Artus am erholsamsten. Ich ließ ihn in Ruhe und er mich. Er ging seinen Hundeinteressen nach, schnüffelte hier, pinkelte dort, und manchmal hörte er eine Maus am Wegesrand, dann legte er einen perfekten Mäusesprung hin und steckte die Schnauze tief ins Gras.

Ich hing meinen Menschengedanken nach. Ich dachte an Mutter, wie ich ihr Leben führte und doch wieder nicht. Ich war überrascht, wie sehr ich sie vermisste. Wir hatten in den letzten Jahren nur wenig Kontakt gehabt. Erst wegen Kurt und später wegen ihrer Krankheit. Ich glaube, dass sie eine Ahnung hatte, lange bevor die Krankheit diagnostiziert wurde. Ich glaube nicht, dass sie sterben wollte, aber sie war des Kämpfens müde. Sie hatte beschlossen, die Symptome zu ignorieren, bis es nicht mehr ging. So stelle ich es mir jedenfalls vor. Vielleicht war es auch ganz anders. Vielleicht hat sie die Beschwerden einfach auf die leichte Schulter genommen, auf das Alter oder das Wetter geschoben. Ich weiß es nicht, werde es nie wissen.

Anfangs machte ich mir Vorwürfe. Es ist so einfach zu sagen, ach, hätte ich doch, und mir vorzustellen, dass wir lange, intime Gespräche miteinander führten, alles aussprachen, was unausgesprochen geblieben war. Es ist einfach, und es ist kitschig. Das sind nicht wir, die das tun. Wenn ich sie häufiger besucht hätte, hätten wir bei Kaffee und Kuchen gesessen und stumm Kurts Stammtischtiraden über uns ergehen lassen. Und wenn er uns endlich allein gelassen hätte, wäre das Schweigen trotzdem zwischen uns geblieben. Wir hätten über das Wetter gesprochen, ich hätte vom Büro erzählt oder Mutter, was meine Geschwister in den letzten Telefonaten berichtet hatten. Und selbst wenn ich gefragt hätte: Mutter, geht es dir auch gut, du siehst so müde aus in letzter Zeit. Dann wäre sie aufgestanden und hätte das Kaffeegeschirr abgewaschen, natürlich, hätte sie gesagt, Unkraut vergeht nicht, das weißt du doch. So denke ich es mir.

 
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