Buch lesen: «Reden wir über das Sterben»
Über dieses Buch
Als Kathryn Schneider-Gurewitsch zum dritten Mal an Krebs erkrankt, weiß sie, dass er diesmal unheilbar ist und sie nicht mehr lange zu leben hat. Wie viele Menschen wünscht sie sich einen guten Tod. Aber was heißt das konkret, wenn es dem Ende zugeht?
Sie beginnt ihre Erfahrungen als Ärztin, die jetzt eine Patientin ist, niederzuschreiben. Als Fachfrau, die beide Seiten kennt, geht sie den wichtigen Fragen am Lebensende nach: Was wünschen sich Sterbende, und was erleben sie in Realität? Wie sterben Ärztinnen und Ärzte selbst? Was verhindert, dass sich Ärztin und Patient am Lebensende verstehen? Sie erörtert sinnlose und nutzlose Therapien, das Machbare und das Bezahlbare, die Patientenverfügung, den assistierten Suizid, die Nöte der Patienten wie der Ärzte. Und sie beschreibt, was Menschen auf dem Weg in den Tod hilft.
«Reden wir über das Sterben» hat einen Informationswert und eine Authentizität, die ihresgleichen suchen, und das Buch macht Mut, sich mit diesen letzten Fragen auseinanderzusetzen.
Foto Felix Räber
Dr. med. Kathryn Schneider-Gurewitsch (1951–2014), geboren in Schenectady, NY (USA), aufgewachsen in der Schweiz, studierte Medizin in Zürich. Sie führte eine Praxis für Innere Medizin und Psychosomatik in Basel. Ihre beruflichen Erfahrungen, die eigene Krebserkrankung und ein Master in Health Administration schärften ihren Blick auf das Leben, Sterben und den Umgang mit Schwerkranken in unserer Gesellschaft.
Kathryn Schneider-Gurewitsch
REDEN
WIR
ÜBER
DAS
STERBEN
Vermächtnis
einer Ärztin und Patientin
Herausgegeben von Marianne Recher,
Pavel Schneider-Gurewitsch und Cécile Speitel
Limmat Verlag
Zürich
«Times get rough, and they sure will.
I will be there watching from above. Always.
Keep living! Enjoy it.
Make the best of it. You only have this one life.»
Kathryn Schneider-Gurewitsch
einige Monate vor ihrem Tod an ihren Sohn
Julian Anatol
Einleitung
Die meisten von uns sind nicht Ärztinnen, Pflegende oder Juristen und stolpern am eigenen Schicksal erstmals in die Situation eines sich abzeichnenden Todes – unserer Eltern, unserer Freunde oder des eigenen. Die meisten sind nicht vorbereitet. Erstmals konfrontiert mit existenziellen Fragen, unter Umständen plötzlich und überraschend, sind wir auch als Angehörige hoffnungslos überfordert und entscheiden emotional. Oft aus Unwissen und oft zum Nachteil der betroffenen Sterbenden. Hier hilft einzig die vorzeitige Beschäftigung mit diesen schwierigen Themen, und sie lohnt sich in jedem Fall. Mir liegt am Herzen, dass sich die Menschen rechtzeitig auf den Weg machen, dass sie – soweit überhaupt möglich – Weichen stellen. Denn nur so können wir helfen, unwürdige Situationen und Kämpfe zu vermeiden.
Als krebskranke Ärztin, die in den letzten zwei Jahren dreimal knapp dem Tode entkommen ist und sehr von den Segnungen der modernen Medizin profitiert hat, glaube ich, dass ich etwas zu sagen habe. Ich habe auch die Freiheit zu sagen, was ich denke, Themen zur Diskussion zu stellen, bei denen sonst meine Hände vor lauter Rücksichtnahme gebunden wären. Ich möchte unbekanntere Informationen und besondere Erzählungen mitteilen, die das Interesse für die Fragen am Lebensende belohnen. Das Feld ist groß. Das Feld ist sehr komplex. Das Feld ist umstritten. Die Kost ist zum Teil schwer verdaulich. Aber ich mute sie Ihnen zu. Denn nur wer informiert ist und eine Ahnung hat, was ihn erwarten könnte, wer sich seiner individuellen Wertvorstellungen und Bedürfnisse bewusst ist, kann qualifiziert Stellung beziehen und Einfluss nehmen. Wenn ich in dieser Schrift ein Plädoyer halte gegen unsinnige Therapien am Lebensende, so will ich nicht missverstanden werden. Es geht mir um Therapien, die unter Umständen das Leben und gleichzeitig das Leiden verlängern und dem Patienten schaden. Therapien, die den Menschen um einen guten Tod betrügen.
Die Auseinandersetzungen über die Fragen am Lebensende haben in den letzten Jahren zugenommen. Wo man hinblickt, toben Glaubenskriege. In vielen Ländern gelangen aufgrund von unklaren Gesetzen oder unüberbrückbaren Differenzen zwischen Ärzten, Patienten und Angehörigen diese Themen in Form von Klagen vor Gericht. Kaum das, was wir uns im Zusammenhang mit dem Sterben wünschen. Es ist bemerkenswert, dass ein erwachsener Mensch bis vor Gericht gehen muss, um Behandlungen abzuwehren, die er nicht will.
Wir sind alle aufgerufen, uns Meinungen zu bilden. Das Thema geht uns alle an. Die Bandbreite reicht von denjenigen, die befürchten, vorzeitig in den Tod geschickt zu werden, zu denen, die Angst haben, gegen ihren Willen dazu verdammt zu sein, durch lebensverlängernde Maßnahmen am Leben erhalten zu werden. Heute sehe ich nicht mehr so sehr die Gefahr, dass man die Menschen zu früh ins Jenseits befördert. Vielmehr sehe ich das viel größere Missbrauchspotenzial darin, die Menschen unnötig lang am Leben zu erhalten, ihnen unsägliches Leid zuzumuten und sie um einen friedlichen Tod zu betrügen.
Was Sie in Händen halten, meine Gedanken zu Entscheidungen am Lebensende, ist auf eine Art mein Vermächtnis. Im Wissen um die schlimmen Erfahrungen, die viele Menschen beim Sterben machen müssen, die auch die Angehörigen nicht weniger betreffen, will ich mithelfen, das Schweigen zu beenden, damit es irgendwann in der Zukunft normal sein wird, über das Unausweichliche zu sprechen, über das Sterben und den Tod.
Mein medizinisches
«Credo»
Vielleicht ist es hoch gegriffen, aber es kommt mir immer wieder das Wort «Credo» in den Sinn. Ich will es nicht verstanden wissen als Bekräftigung eines «rechten Glaubens». Das wäre hochmütig, und mir ist vielmehr nach Bescheidenheit zumute. Das Credo besteht in der Überzeugung, dass wir alle Verantwortung übernehmen müssen: für unser Leben und für unseren Tod.
Leben heißt für mich gestalten. Das kann man auch, wenn man krank ist, auch wenn man alt ist, auch wenn man alt und krank ist.
Mein Credo ist, dass Offenheit immer der beste Weg ist. Offenheit bedeutet, dazu zu stehen, dass wir vieles nicht wissen und nie wissen werden. Medizin ist nur vermeintlich eine exakte Wissenschaft. Offenheit bedeutet, dass wir anerkennen, dass unsere Wertvorstellungen nicht unbedingt denen von anderen Menschen entsprechen. Respekt vor den anderen ist angesagt. Offenheit bedeutet, Optionen aufzeigen und dazu zu stehen, dass es nie eine absolute Sicherheit geben kann. Offenheit bedeutet, hellhörig für die Anliegen anderer zu sein und unser Wissen zur Verfügung zu stellen. Und schließlich bedeutet Offenheit, die anderen zu begleiten. Bis ans Ende. Auch wenn ihr Weg nicht unbedingt meinen Vorstellungen entspricht.
Meine Geschichte
Meine Sanduhr läuft ab. Ihre auch. Mir ist es durch meine Lebenslage sehr bewusst. Planen kann ich nichts mehr. Zu ungewiss ist, was mich morgen erwartet.
Derweil meine Freunde mir von ihren Reiseplänen für nächstes Jahr erzählen, weiß ich jeweils nicht, ob mein Zustand in drei Wochen in sich zusammenfallen wird. Wer mich anschaut, könnte mich für eine Hochstaplerin halten, so gesund sehe ich im Moment aus, und Energie hatte ich bis vor Kurzem auch noch mehr als viele in ihren besten Zeiten. Wenn nur nicht meine Blutwerte so schlecht wären. Innerhalb von wenigen Wochen sind meine «Freien Leichtketten», ein krankhaftes Eiweiß, das mir als Indikator für den Verlauf der Krankheit dient, um das Zehnfache angestiegen. Schlechte Nachricht! Und die Schmerzen nehmen zu. Die Krankheit modert.
Ich kenne beide Seiten der Medaille: Ich weiß, was es heißt, Patienten eine schlechte Nachricht zu übermitteln. Ich weiß, was es heißt, die schlechte Nachricht zu empfangen. Was es heißt, Therapieangebote zu bekommen. Ich weiß, dass «Informed Consent – informierte Einwilligung» zwar gut klingt, im besten Fall gut gemeint ist, aber letztlich eine Illusion ist. Und ich weiß, dass ich als Ärztin den Vorteil habe, etwas von Medizin zu verstehen, und allenfalls mit Kollegen diskutieren kann. Denn oft gibt es keine eindeutige Antwort. Auch wenn unsere Ärzte sich bei der Präsentation von Therapieoptionen noch so sehr um Objektivität bemühen, haben sie persönliche Meinungen. Die beste Therapieoption ist je nach Lebenslage, je nach Alter, je nach Vorliebe, Wertvorstellungen und Biografie eine ganz andere. Es gibt nicht eine Wahrheit.
Was meine eigene Krankheitserfahrung angeht, eine kurze Zusammenfassung: 1988, mit 37 Jahren, wurde bei mir auf einer Seite Brustkrebs diagnostiziert. Meine ältere Schwester hatte auch im Alter von 37 Jahren Brustkrebs. Unsere Mutter ist schließlich an Brustkrebs gestorben. Mit dem Verdacht auf eine genetische Veranlagung für diesen Krebs habe ich mich entgegen dem Rat meiner Ärzte für eine beidseitige Brustamputation (Mastektomie) entschieden, weil die Brüste für mich Zeitbomben waren. Damals konnte es noch nicht nachgewiesen werden, aber ich vermutete bereits, dass der Krebs aufgrund einer Genmutation entstanden war. Ich bin heute überzeugt, dass ich mir mit dieser Entscheidung mein Leben gerettet habe. Mir war die größtmögliche Sicherheit wichtiger, als einen Busen zu haben. Meine Ärzte hatten extreme Mühe mit meiner Entscheidung, und wäre ich nicht selbst Ärztin gewesen, ich glaube, sie hätten mich für verrückt erklärt. Immerhin prophezeiten sie mir, dass meine Ehe in Brüche gehen würde. Eine weitere Entscheidung war für meine Ärzte völlig unnachvollziehbar: Ich wollte damals die Haare nicht verlieren. Und dies, obwohl ich sehr wohl wusste, dass sie wieder nachwachsen würden. So habe ich eine Chemotherapiekombination gewählt, bei der ich die Haare nicht verlor.
Die erste Krebserkrankung hatte Folgen für meinen Berufsweg. Im Wissen, dass Brustkrebs bei jungen Frauen sehr aggressiv verlaufen kann, wollte ich nicht das Risiko eingehen, meine unter Umständen letzten Lebensjahre in den Aufbau einer Praxis zu investieren. Nach einer vorübergehenden Tätigkeit als Betriebsärztin bin ich ins Spitalmanagement eingestiegen und habe zehn Jahre damit verbracht, für den Erhalt des REHAB Basel, Zentrum für Querschnittsgelähmte und Hirnverletzte, und den dringend notwendigen Neubau zu kämpfen. Parallel dazu habe ich alles gegeben, um auf das Schicksal hirnverletzter Menschen aufmerksam und die Schweizerische Vereinigung für hirnverletzte Menschen, FRAGILE Suisse, bekannt zu machen. Lange Jahre habe ich mich für das Recht von Wachkomapatienten auf eine geeignete Rehabilitation eingesetzt. Rückblickend bin ich nicht sicher, ob das immer richtig war. Dennoch halte ich unsere Gesellschaft für heuchlerisch, wenn sich insbesondere Politiker gegen die Möglichkeit des assistierten Suizids wehren und gleichzeitig die Pflegebudgets derart dezimiert werden, dass in vielen Fällen die Pflegebedürftigen suboptimal betreut werden. Die Doppelmoral scheint mir manchmal unerträglich. Ich bin allen im Gesundheitswesen dankbar, die ihr Bestes geben – davon gibt es viele, viele. Logischerweise hört man wenig von ihnen.
Als Internistin, die mit einem Master of Health Administration (M.H.A.) der Universität Bern das Terrain der klassischen Inneren Medizin längst verlassen hatte, habe ich mich doch wieder der klinischen Medizin zugewandt, nachdem ich mich über Jahre zur Psychosomatikerin, Psychotherapeutin und Psychoonkologin weitergebildet hatte. Die letzten Berufsjahre führte ich eine volle psychotherapeutische Praxis mit Schwerpunkt Psychosomatik, Psychoonkologie und Sozialpsychiatrie.
Als bei mir Brustkrebs diagnostiziert wurde, war ich überzeugt: Das Kapitel Kinder ist ein für alle Mal abgeschlossen. Mein Mann stand hinter mir. Ihm war es wichtig, dass ich überlebe. Als ich vierzig Jahre alt war, sagte ich mir, es sei sehr unwahrscheinlich, in diesem Alter und nach einer Chemotherapie schwanger zu werden. Wir beschlossen, mit Verhütung aufzuhören, und falls jemand sich dann anmelde, sei das ein Menschenkind, das unbedingt kommen wolle. Und so kam Julian 1993 zur Welt. Wir erfreuten uns an diesem wunderbaren Kind. Ich lebte allerdings lange mit einem Schatten und der leisen Angst, ich würde mein Kind nicht lange begleiten können.
2004 wurde die Genmutation BRCA1 bei mir verifiziert, und ich habe im Rahmen einer prophylaktischen Operation die Eierstöcke entfernen lassen. Fast 90 Prozent der Frauen mit diesem Gen bekommen Brustkrebs, meistens recht jung. Wer diesen ersten Krebs überlebt, wird mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit noch an Eierstockkrebs erkranken. Deshalb werden die Trägerinnen des Gens heute gut begleitet, um den Krebs frühzeitig zu diagnostizieren oder prophylaktische Maßnahmen durchzuführen (wie Angelina Jolie 2013). Am Abend vor der Entlassung aus dem Spital hatte ich mich bereits vom Operateur verabschiedet. Ihm und dem Assistenzarzt hatte ich mitgeteilt, ich sei sicher, dass diese Operation mein Leben gerettet habe. Sie lächelten nett und gingen von dannen. Abends tauchte der Operateur nochmals in meinem Zimmer auf. Ein Blick, und ich wusste, was es geschlagen hatte. Ich kenne den gequälten Ausdruck. Ich bedauere meine Ärzte immer, wenn sie mir eine schlechte Nachricht übermitteln müssen. Offensichtlich war inzwischen der Bericht der Pathologen eingetroffen mit der Diagnose, dass ich zwei kleine Krebstumore in den entfernten Eierstöcken hatte, die während der Operation mit dem bloßen Auge gar nicht erkannt worden waren. Was tun? Eine Chemotherapie. Diesmal eine, die so schlimm war, dass ich sie nach Verhandlungen mit meinem Arzt nach vier anstatt nach sechs Zyklen abbrach. Es folgte wiederum der normale Alltag.
2009 war ich erneut konfrontiert mit einer Krebsdiagnose – ein Multiples Myelom, ein Knochenmarkkrebs, dieses Mal sicherlich unheilbar. Meine Ärzte vermuteten, dass dieser Krebs eine Folge der vorangegangenen Chemotherapien war. Alles hat seinen Preis. Und wiederum habe ich mich gegen die von allen Fachärzten empfohlene Hochdosis-Chemotherapie und nachfolgende Transplantation von eigenen Stammzellen entschieden. Warum? Weil ich angesichts meiner vielen überstandenen Erkrankungen und Chemotherapien ohnehin eine Ausnahme darstellte und nicht durch diese Hölle gehen wollte. Ich befürchtete auch, aufgrund meines als Folge der Brustamputation bestehenden Lymphödems1 am linken Arm und mehrerer knapp überlebter Blutvergiftungen (Sepsis) bereits die erste Hürde nicht zu überleben: Die drei Wochen ohne Immunabwehr nach der Hochdosis-Chemotherapie. Mir waren alle Aussichten auf ein möglicherweise längeres Leben keine überzeugenden Argumente, wenn es mir im aktuellen Moment nicht so schlecht ging und ich noch andere, weniger aggressive Optionen hatte. Optionen, die im Hinblick auf meine Lebenserwartung womöglich geringer einzuschätzen waren, aber eindeutig eine bessere Lebensqualität erwarten ließen. Das Motto: Lieber ein kürzeres Leben mit der bestmöglichen Lebensqualität, als durch die Hölle zu gehen in der wahrscheinlich falschen Hoffnung, ein bisschen länger zu leben.
Dabei muss unmissverständlich gesagt werden, dass ich keinesfalls auf Therapien verzichtet habe. Ich bin in jedem Fall der Schulmedizin treu geblieben. Nur habe ich nicht unbedingt die Empfehlungen der behandelnden Ärzte befolgt. Ich bin jetzt, was die aktuelle Erkrankung betrifft, bei der sechsten Chemotherapie angelangt. Und diese Therapien sind nicht billig. Aber sie sind verträglich und haben mir bald fünf Lebensjahre geschenkt. Offensichtlich eine gute Wahl, auch wenn mein Leben seit der Diagnose alles andere als einfach ist, weil mir nach schweren Rückfällen und erneuten Therapiemisserfolgen die Optionen schwinden.
Im Unwissen, wie viel Zeit mir noch zur Verfügung stehen würde, versuchte ich 2009, Prioritäten zu setzen. Bei einer vollen Praxis, bei der Notwendigkeit, Chemo- und Strahlentherapien in den Tagesablauf reinzuquetschen, im Bewusstsein, dass ich noch einiges aufzuräumen hatte, war ich unter Druck. Unser Sohn war sechzehn Jahre alt. Ich wollte ihm noch so viel mit auf den Weg geben. Die Fragen, die im Raum standen, waren: Falls du noch eine Woche, einen Monat oder ein Jahr zu leben hättest, was würdest du tun? Abgesehen davon, dass ich im ersten Herbst und Winter nach der Diagnose besonders den Lauf der Jahreszeiten beobachtete – es konnte mein letzter Winter sein –, fiel es mir leicht zu sagen, was ich mit einem letzten Jahr machen würde. Ich hatte bereits im Alltag so viel zu tun, dass ich eigentlich gar keine Wahl hatte. Ich habe nun seit mehr als vier Jahren «mein letztes Jahr» vollgestopft mit Projekten, die ich unbedingt erledigen wollte.
Als Erstes habe ich meine Praxis abgebaut. Das war schwierig, wollte ich doch, dass alle Patientinnen und Patienten entweder bei mir selbst die Behandlung abschließen oder in geeignete Hände übergeben werden konnten. Außerdem wollte ich unbedingt den Nachlass meiner Eltern retten. Eine riesige Aufgabe, für die es mehr als drei Jahre mit einer Archivarin brauchte, um die Papiere in Ordnung zu bringen, die russischen Schriften übersetzen und Material digitalisieren zu lassen.2 Ich wollte außerdem ein sozialpsychiatrisches Projekt verfolgen. Das ist mir in Ansätzen gelungen. Ich wollte meine Tagebücher zur Redaktion in geeignete Hände geben. Das bleibt noch unerledigt. Auch träumte ich davon, noch einmal zu singen. Dieser Traum wurde in Form der CD «Now and then …» 3 erfüllt.
Und als Letztes blieb etwas im Raum stehen, das vielleicht das Wichtigste ist. Irgendwann packte mich der Gedanke, meine Erfahrungen als Patientin und Ärztin und meine sich daraus ergebenden Überzeugungen insbesondere zu Fragen am Lebensende zu Papier zu bringen.
Das Totschweigen
Der Tod ist heute in Filmen, im Fernsehen allgegenwärtig. Im gelebten Alltag hingegen bleibt er uns fremd, bis es nicht mehr anders geht. So begegnen wir dem Tod unserer Nächsten ohne Gebrauchsanweisung, oft ungeschickt und mit einem unguten Gefühl. Gelänge es, das Tabu zu brechen und frühzeitig über die letzten Dinge zu reden, ginge es den Sterbenden und ihren Nächsten in vielen Fällen besser. Wenn wir das Tabu brechen und offen über den Tod und unsere diesbezüglichen Vorstellungen und Wünsche reden könnten, wäre bereits viel erreicht.
Es ist klar, dass jüngere Menschen zu weit entfernt sind vom Thema, es sei denn, sie sind im persönlichen Umfeld direkt davon betroffen. Und dann ist es schwierig, für sie geeignete Gesprächspartner zu finden. Deshalb bleiben sie in ihrem Leid oft einsam. Vermehrt gibt es Kinderbücher für Kinder von kranken Eltern und Internetplattformen für junge Menschen. In meinem Umfeld hat ein junger Mensch seine Mutter zwei Wochen vor der Maturafeier an Brustkrebs verloren. Er ist Teil einer Clique. Ich war schockiert, ein Jahr nach ihrem Tod zu erfahren, dass einige in der Gruppe nicht einmal wussten, dass er seine Mutter verloren hatte. Von meinem Vater weiß ich, dass man seinen Vater nach dessen Ermordung in der russischen Revolution über Jahre nicht mehr erwähnte. Und ich war immer wieder Zeuge, wenn ältere Menschen im Gespräch über ihren Wunsch zu sterben abgewehrt wurden. «Nein, nein! Sag nicht so etwas! Wir werden noch lange Feste feiern! Wir brauchen dich.»
Auch Menschen, die durchaus als Vorbilder gelten könnten, taten und tun sich mit dem Tod so schwer. Zum Beispiel die amerikanische Philosophin Susan Sontag, die so spannende Beiträge in ihrem Buch «Krankheit als Metapher» verfasst hat, konnte den eigenen Tod überhaupt nicht akzeptieren. Ihr Sohn, der Journalist David Rieff, hat in seinem Buch «Tod einer Untröstlichen» davon Zeugnis abgelegt. Susan Sontag starb wütend. Wütend auf die «zu frühe Geburt». Als Frau, die große Stücke auf die Naturwissenschaft und den Fortschritt hielt, war sie überzeugt, dass es in wenigen Jahren Mittel geben würde, die ihr Leben hätten verlängern können. Immerhin ist sie fast 72 Jahre alt geworden. Sie war am Schluss bereit, die aggressivsten Therapien auf sich zu nehmen. Sie forderte sie sogar. Den Tod zu akzeptieren, war keine Option. Entsprechend hat sie es verpasst, sich von ihren Nächsten zu verabschieden.
Ich sehe solche Schicksale und bin traurig für diese Menschen. Ich frage mich, ob sie denn nicht erkennen, dass es irgendwann allen Bemühungen zum Trotz nicht mehr gelingen wird, den Tod auszutricksen. Der Vorhang wird dann endgültig fallen. Keine Zugabe. Keine letzte Runde mehr auf dem Karussell. Egal, was wir unternehmen. Merken sie nicht, dass sie durch diesen Aktivismus und ihre Leidensbereitschaft in der Hoffnung, noch etwas länger zu leben, gerade die Lebenszeit, die sie noch haben, vergeuden? Diese Zeit hätten sie nutzen können, um ihre Sachen zu regeln, um Abschied zu nehmen. Ich fürchte, wenn man bis 85 noch nicht erledigt hat, was man sich vorgenommen hat, werden einige Monate mehr leider auch nicht mehr reichen.