Der tote Prinz

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Aus der Reihe: Märchenspinnerei #16
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Der tote Prinz
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Der tote Prinz

Band 16 der Märchenspinnerei

Roman

Katherina Ushachov

Märchenspinnerei

Alle Rechte bei Katherina Ushachov

Copyright © März 2019

Katherina Ushachov

Heidegg 471

6855 Andelsbuch, Österreich

https://feuerblut.com

Cover: ©Farbenmelodie - www.farbenmelodie.jimdo.com

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Für alle Verlorenen, Verstoßenen und Vertriebenen. Und für alle Wesen dieser Welt.

Inhalt

  Felix

  Vergangenheit

  1. Alixena

  2. Felix

  3. Alixena

  4. Felix

  5. Alixena

  Gegenwart

  1. Elessa - 15 Jahre später

  2. Aino

  3. Dario

  4. Elessa

  5. Avital

  6. Aino

  7. Dario

  8. Elessa

  9. Felix

  10. Avital

  11. Dario

  12. Elessa

  13. Aino

  14. Avital

  15. Dario

  16. Elessa

  17. Alixena

  18. Felix

  19. Dario

  20. Elessa

  21. Avital

  22. Felix

  23. Aino

  24. Elessa

  25. Dario

  26. Avital

  27. Lyra

  28. Elessa

  29. Aino

  30. Avital

  31. Elessa

  32. Felix

  33. Avital

  34. Lyra

  35. Elessa

  36. Dario

  37. Felix

  Danksagung

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  Über die Autorin Über die Märchenspinnerei

Felix

Die al­te Gran hat­te ge­sagt, dass sein Na­me in ei­ner längst to­ten Spra­che »der Glück­li­che« be­deu­te­te, aber glück­lich fühl­te Fe­lix sich nicht.

Die schmut­zi­gen Lum­pen­wi­ckel schütz­ten sei­ne Hand­flä­chen nur un­zu­rei­chend. Er spür­te, dass er sie längst durch­ge­schwitzt hat­te.

Schweiß lief ihm auch über das Ge­sicht, brann­te in sei­nen Au­gen und ver­schlei­er­te die Sicht. Oder war es die Luft, die im gna­den­lo­sen Son­nen­licht flim­mer­te?

Das war das Ein­zi­ge, was sie im Über­fluss hat­ten, seit sich die Staub­schlei­er ge­legt hat­ten und die Dun­kel­heit die Welt nicht mehr ver­schluck­te.

Er er­in­ner­te sich nicht mehr an die­se Zeit. Nur manch­mal, wenn er sich sehr an­streng­te, konn­te er das Ge­fühl bei­ßen­der Käl­te auf der Haut her­bei­ru­fen. Schmerz war gut, hielt ihn wach. Bei den Müll­ber­gen ein­zu­schla­fen, en­de­te meist töd­lich.

Et­was Blau­es fun­kel­te vor ihm in der Son­ne und er leg­te has­tig die Hand dar­auf. Blau­es Glas war kost­bar. Er konn­te es ge­gen Was­ser ein­tau­schen. Und ge­gen ge­nug Es­sen für ei­ne Wo­che. Sie­ben Ta­ge oh­ne Hun­ger, oh­ne Durst, oh­ne die Sor­ge um sein Über­le­ben.

Wenn, nur wenn …

Die auf ihn fal­len­den Schat­ten lie­ßen sei­nen kur­z­en Tag­traum zer­schel­len.

Fe­lix dreh­te sich um und starr­te in die rost­brau­nen Au­gen von Ai­no. Die Haa­re von der Son­ne zu ei­ner un­de­fi­nier­ba­ren Far­be ge­bleicht, das hel­le Ge­sicht mit ei­ner di­cken, ro­ten Pas­te ge­gen die Son­ne be­deckt, rag­te sie in im­pro­vi­sier­ter Rüs­tung über ihm auf. Hin­ter ihr stan­den zwei Mit­glie­der ih­rer Grup­pe, bei­de hat­ten einen hö­he­ren Rang als Fe­lix – und so­mit mit der Er­laub­nis, auf ihn ein­zu­prü­geln. »Was hast du da?«

Er ball­te die Hän­de zu Fäus­ten und ließ das Glas­stück un­auf­fäl­lig zwi­schen den Schich­ten sei­ner Hand­bin­den ver­schwin­den. Er brauch­te es drin­gen­der als Ai­no, die ei­ne gan­ze Rei­he da­von um den Hals trug. Ein Ver­mö­gen! Aber Frau­en hat­ten oh­ne­hin Vor­tei­le. Sie konn­te ihn al­lein da­für schla­gen und be­vor­mun­den, dass er ein Mann war. Und es gab nichts, das er da­ge­gen tun durf­te.

»Nichts. Ich ha­be noch nichts ge­fun­den.«

Sie trat nä­her und stell­te ih­ren Stie­fel auf sei­ne Schul­ter. »Ah ja? Los, durch­sucht ihn. Und wenn er lügt …« Ih­re Au­gen glänz­ten – als wür­de sie sich sei­ne Stra­fe be­reits aus­ma­len. »Du weißt, was mit Müll­samm­lern pas­siert, die von der Ge­mein­schaft steh­len.«

Die zwei Schrän­ke hin­ter ihr setz­ten sich in Be­we­gung.

So weit durf­te er es nicht kom­men las­sen. Ge­mein­schaft schön und gut, aber Ai­nos Stra­fen wa­ren hart, und auf den Müll­ber­gen konn­te je­de Ver­let­zung ein To­des­ur­teil sein. Fe­lix pack­te ihr Bein, zog es nach vor­ne und sich selbst dar­an auf die Bei­ne. Ehe Ai­no wie­der auf­ste­hen und ihm fol­gen konn­te, rann­te er be­reits mit ge­schlos­se­nen Au­gen der Son­ne ent­ge­gen. Hier kann­te er je­den Hü­gel, je­de bau­fäl­li­ge Well­blech­hüt­te, je­des Ver­steck. Wenn er sich nur nicht blen­den ließ, konn­te er sie ab­hän­gen.

Ai­no und ih­re Beglei­ter keuch­ten in sei­nem Rücken.

Er glaub­te, ih­ren hei­ßen Atem in sei­nem Na­cken zu spü­ren, sen­gen­der als die Hit­ze der Son­ne im Ge­sicht.

Er strau­chel­te und fiel.

Ber­ge an wa­cke­lig ge­sta­pel­tem Müll bra­chen um ihn her­um ein. Er rutsch­te wie auf Treib­sand. Je mehr er sich be­weg­te, de­sto mehr Müll schob sich nach und riss ihn mit sich.

Ai­no stand als Sil­hou­et­te des Tri­um­phs am Ran­de des Ab­grun­des und lach­te. Sie hob et­was auf und warf es ihm hin­ter­her. Da­mit lös­te sie einen wei­te­ren Müll­rutsch aus.

Fe­lix stram­pel­te, such­te Halt und spür­te einen dump­fen Schmerz am Kopf, der sich aus­brei­te­te und ihn ver­schluck­te.

Er er­wach­te mit tro­ckenem Mund und Kopf­schmer­zen, die ihm Trä­nen in die Au­gen trie­ben. Um ihn her­um nichts als Dun­kel­heit und vie­le klei­ne Ge­gen­stän­de, die auf sei­ne Brust drück­ten und ihm die Luft zum At­men nah­men.

 

Vor­sich­tig streck­te er die Ar­me aus und schaff­te es, mit den Fin­gern die Ober­flä­che aus lo­cke­rem Ge­rüm­pel zu durch­bre­chen. Vi­el­leicht war so­gar bun­tes Glas da­bei … Sei­ne Fin­ger er­tas­te­ten et­was Glat­tes, Me­tal­li­sches. Er hielt sich dar­an fest und zog sich vor­sich­tig aus dem Müll, um­sich­tig, um kei­ne neue La­wi­ne zu ver­ur­sa­chen. Dann erst schau­te er sich an, wor­an er sich fest­ge­hal­ten hat­te.

Ein grö­ße­rer, ver­hak­ter Ge­gen­stand aus zer­kratz­tem, grün an­ge­lau­fe­nem Me­tall.

Bron­ze. Und gleich großes Stück da­von. Das war be­stimmt wert­voll; falls er sich bis zur Stadt durch­schla­gen konn­te, um es zu ver­kau­fen, ganz al­lein, oh­ne dass Ai­no ih­ren An­teil ver­lan­gen konn­te …

Fe­lix grub vor­sich­tig so lan­ge, bis er den Ge­gen­stand raus­zie­hen konn­te. Sein Herz ras­te. So­fort schob er das Ding vor Schreck ruck­ar­tig un­ter sei­ne Ja­cke. Das war doch … Was war das?

Has­tig blick­te er sich um, ob je­mand in der Nä­he war, aber er war al­lei­ne. Kei­ne an­de­ren Müll­samm­ler in Sicht.

Er setz­te sich auf den Bo­den, lehn­te sich an die Sei­te des Hü­gels und nahm das Bron­ze­ding wie­der aus sei­ner Ja­cke.

Kreis­rund, mit ei­ni­gen klei­nen Qua­dra­ten, ne­ben de­nen ei­ne Son­ne ab­ge­bil­det war, zeig­te es ein stau­bi­ges, zer­kratz­tes Jun­gen­ge­sicht, grü­ne Au­gen mit gol­de­nen Punk­ten in­mit­ten von na­he­zu schwar­zer Haut. »Hal­lo, du. Ich bin Fe­lix.«

Das Ding leuch­te­te kurz auf und Li­ni­en zo­gen sich über das Ge­sicht des Jun­gen. Zah­len leuch­te­ten auf sei­ner Wan­ge auf: 2084. Dann er­tön­te ei­ne freund­li­che Frau­en­stim­me aus dem Ding und vi­brier­te ge­gen sei­ne Fin­ger. »Hal­lo Fe­lix. Ich bin Nar­zis­sa. Stel­le dei­ne Fra­ge.«

»Nar­zis­sa?« Das war ein Frau­en­na­me. Aber das Ge­sicht war das ei­nes Jun­gen. »Wer ist das im Fens­ter?«

»Ich bin ein Spie­gel. Du siehst dich selbst.«

»Mich selbst? So se­he ich aus?«

Li­ni­en über­zo­gen das Ge­sicht – sein Ge­sicht.

»Ja. Nach den Re­geln des Gol­de­nen Schnitts bist du schön.«

Schön? Er?

Gran hat­te mal ge­sagt, dass die Leu­te frü­her glaub­ten, Schön­heit kön­ne die Welt ret­ten. Aber Gran war längst tot, und in sei­ner von wäh­le­ri­schen War­la­dys do­mi­nier­ten Welt war Schön­heit vor al­lem eins: Macht.

Er brauch­te al­so nur noch ei­ne mäch­ti­ge Be­schüt­ze­rin.

Dann wür­de Ai­no es be­reu­en, ihn an­ge­grif­fen zu ha­ben.

Vergangenheit
1. Alixena

Ali­xe­na schwitz­te. Hit­ze stau­te sich un­ter ih­rer un­för­mi­gen Me­tall­rüs­tung ge­nau­so stark, wie un­ter den schad­stof­f­ab­wei­sen­den Mem­bra­nen des Kom­man­do­zelts. Zu ger­ne wür­de sie ih­re Leibs­kla­ven ru­fen, sich in ih­rem ei­ge­nen, we­sent­lich küh­le­ren Zelt aus dem Pan­zer schrau­ben las­sen und dann ein lau­war­mes Bad neh­men.

Statt­des­sen beug­te sie sich zu­sam­men mit den an­de­ren Frau­en über ei­ne in Kup­fer ge­ätz­te Kar­te von Jun­di und schob vor­sich­tig einen blau­en, ab­ge­flach­ten Stein bis vor die Stadt­mau­er. »An die­ser Stel­le ist die Mau­er am dünns­ten. Wir ha­ben be­reits er­heb­li­chen Scha­den an­ge­rich­tet. Dort pa­trouil­liert nie­mand mehr re­gu­lär, die Gän­ge sind zer­stört. Al­so spren­gen wir uns dort durch. La­dys?«

Vi­zela­dy Na­la beug­te sich ih­rer­seits über die Kar­te. »Un­se­re Mi­neu­re brau­chen De­ckung. Wenn wir al­so die­ses Ma­nö­ver durch­zie­hen wol­len, soll­ten wir …« Sie schob ei­ni­ge klei­ne, wei­ße Stei­ne über die Kar­te. »… einen Teil der Trup­pe hier an­grei­fen las­sen. Und nur die Schlei­cher fol­gen den Mi­neu­ren.« Sie stell­te schwar­ze Stei­ne um.

Ali­xe­na zwang sich, nicht zu gäh­nen. Das hät­te Na­la zu­recht als Re­spekt­lo­sig­keit wahr­ge­nom­men, da­bei war es nur ih­re Mü­dig­keit. Seit dem gest­ri­gen Tag hat­te sie kein Feld­pa­ket mehr von Ge­ro er­hal­ten und wuss­te so­mit nicht, wie es weit­ab von der Front – zu Hau­se – aus­sah. Das raub­te ihr den Schlaf und die für die­se Schlacht so drin­gend nö­ti­ge Kon­zen­tra­ti­on.

»Wir könn­ten ei­ne wei­te­re Grup­pe Mi­neu­re über den al­ten Wa­di schi­cken und sie im Sü­den der Stadt spren­gen las­sen. Oder ab­war­ten, ob un­se­re Spio­ne uns ei­ne un­dich­te Stel­le bei den Hü­geln mel­den.« Vi­el­leicht ließ sich der An­griff noch so lan­ge hin­aus­zö­gern, dass sie ih­re Feld­post be­kam. Vi­el­leicht war end­lich ein Ta­schen­tuch von Ge­ro dar­un­ter. Mit dem letz­ten Tuch, das sie er­reicht hat­te, wisch­te Ali­xe­na sich den Schweiß von der Stirn und blick­te da­bei auf das Or­na­men­tal­mus­ter aus ro­ten, grü­nen und blau­en Kreu­zen. Für die einen ein Ta­schen­tuch, für sie ein aus­führ­li­cher Be­richt über das Le­ben an ih­rem Hof und das Wohl­be­fin­den ih­res Man­nes und ih­res Kin­des.

Vi­zela­dy The­kla nick­te. »Die­sen Trupp wer­de ich be­feh­li­gen, wenn Myla­dy es er­laubt.«

»Ich er­lau­be es.« Die Kopf­schmer­zen, be­dingt durch die sti­cki­ge Luft und die Hit­ze, wan­del­ten sich von drückend zu po­chend und sie war sich nicht si­cher, was schlim­mer war. Er­neut starr­te sie auf das Ta­schen­tuch und las die Co­de­zei­len, als wä­ren sie in Plain ge­schrie­ben.

Ge­lieb­te Alix. Da­rio ent­wi­ckelt sich auf das Präch­tigs­te, er hat be­reits an­ge­fan­gen, den Ap­fel­brei zu es­sen, den die Knech­te zu­be­rei­ten und er mag es, den Skla­ven­kin­dern beim Spie­len zu­zu­se­hen. Bis du wie­der hier bist, fängt er noch an, Fleisch zu es­sen und mit ih­nen zu ren­nen. Der jun­ge Mann, der im Palast an­ge­fan­gen hat, macht sich un­ent­behr­lich und ich wüss­te nicht, was ich oh­ne Fe­lix tun soll­te. Er ist mir ei­ne Stüt­ze in al­len Be­lan­gen des Haus­halts. Ich wün­sche dir einen schnel­len Sieg über un­se­re Fein­din­nen und kann es kaum er­war­ten, mei­ne Lip­pen an­däch­tig auf dei­ne Stirn zu drücken. Im­mer dein, Ge­ro.

Ein harm­lo­ser Brief – wie­so war sie dann so be­sorgt? Sie ver­stand es nicht. Aber sie hat­te kei­ne Zeit – und konn­te die Schlacht nicht län­ger auf­schie­ben.

»Dann ha­ben wir un­se­ren An­griffs­plan, mei­ne La­dys. In ei­ner hal­b­en Stun­de soll­ten un­se­re Spio­ne zu­rück sein, bis da­hin ha­ben eu­re Ein­hei­ten marsch­be­reit zu sein.«

»Aye, Mila­dy.« Die zwei Frau­en sa­lu­tier­ten und ver­lie­ßen das Kom­man­do­zelt.

Ali­xe­na schaff­te es, in der um­ständ­li­chen Rüs­tung ih­re Ar­me zu he­ben und mit den Fin­ger­spit­zen ih­re Schlä­fen zu mas­sie­ren. Sie muss­te drin­gend in ihr ei­ge­nes Zelt und die­ses hier ent­lüf­ten las­sen. Has­tig zog sie sich den Helm mit in­te­grier­tem Mund­schutz über den Kopf und ver­ließ den Kriegs­rat.

So früh am Mor­gen war es noch kalt und die kost­ba­ren Sicht­glä­ser ih­res Helms be­schlu­gen au­gen­blick­lich von in­nen. Na­he­zu blind, tau­mel­te sie in die Rich­tung, in der sie ihr Zelt ver­mu­te­te – und hat­te das Glück, dass ei­ner ih­rer Skla­ven sie am El­len­bo­gen fass­te und in ihr Zelt es­kor­tier­te.

Er­leich­tert nahm sie den klo­bi­gen Helm wie­der ab und lös­te die Schar­nie­re an der Rüs­tung zu­min­dest so weit, dass ihr Kör­per et­was Luft be­kam. Erst dann er­in­ner­te sie sich dar­an, dass Lue – ihr äl­tes­ter Skla­ve – ver­mut­lich nicht zu­fäl­lig vor dem Kom­man­do­zelt auf sie ge­war­tet hat­te. »Was gibt es? Ist die Feld­post ge­kom­men?« Sie be­müh­te sich, we­der zu be­sorgt noch zu un­ge­dul­dig zu klin­gen.

»Mei­ne La­dy, ich kann kein Plain le­sen, aber das ist nicht die Hand­schrift von Lord Ge­ro.« Lue ver­beug­te sich und reich­te ihr einen in dün­ne, grau­brau­ne Plas­tik­fo­lie ge­ritz­ten Brief.

Sie nahm ihn ent­ge­gen. Ih­re Hän­de zit­ter­ten. »Von wem ist er dann?« Die Schrift wirk­te selt­sam kind­lich, als hät­te je­mand den Brief ver­fasst, der erst als Er­wach­se­ner ge­lernt hat­te, zu schrei­ben.

Myla­dy Ali­xe­na Lue Lue, hier schreibt Ihr un­ter­tä­nigs­ter Knecht Fe­lix M’nan. Lord Ge­ro Lue ist ges­tern Nacht über­ra­schend in das Haus der Nacht­kö­ni­gin ein­ge­zo­gen, mö­ge er an ih­rer Ta­fel spei­sen. Lord Da­rio ist wohl­auf, das Haus Lue je­doch in hells­ter Auf­re­gung. So­fern Sie an der Front ent­behr­lich sind, bit­ten wir al­le de­mü­tigst um Ih­re Rück­kehr. M’nan

Hät­te die Rüs­tung sie nicht ge­stützt, wä­re Ali­xe­na zu Bo­den ge­gan­gen.

2. Felix

»Es ist wirk­lich be­ängs­ti­gend, was man mit ei­nem hüb­schen Ge­sicht al­les er­reicht, nicht wahr, Nar­zis­sa?« Er lä­chel­te sei­ne ei­ge­nen Ge­sichts­zü­ge im Spie­gel an.

»Ja, Fe­lix.«

Er war sich nicht si­cher, ob der Spie­gel ihn wirk­lich ver­stand oder le­dig­lich dar­auf pro­gram­miert war, auf »nicht wahr?« mit ei­ner Be­stä­ti­gung zu ant­wor­ten. Aber es war ihm egal. Er hielt den win­zi­gen Da­rio im Arm und starr­te auf das schla­fen­de Ba­by­ge­sicht.

Es wä­re so ein­fach, den Jun­gen zu tö­ten. Er muss­te ihn nur ver­se­hent­lich fal­len las­sen, das al­lein wür­de ge­nü­gen, um sein zar­tes Ge­nick zu bre­chen. Wie ein Un­fall wür­de es aus­se­hen. Man wür­de Ver­ständ­nis ha­ben. Als obers­ter Knecht des to­ten Lord Ge­ro, war Fe­lix ein­fach von sei­nen neu­en Pf­lich­ten als Er­satz­va­ter über­for­dert. Er nick­te im Ge­hen ein. Ei­nem Mann – und so­mit ei­nem oh­ne­hin nie­de­ren Ge­schöpf – wür­de man Nach­sicht ent­ge­gen­brin­gen.

Ir­gen­det­was hielt ihn je­doch da­von ab. Vi­el­leicht das Ge­fühl, dass der Klei­ne ihm le­bend mehr nut­zen wür­de als tot. Vi­el­leicht auch bloß, dass das Kind ein hüb­sches Ge­sicht­chen hat­te. Und er moch­te es nicht, schö­ne Din­ge ka­puttz­u­ma­chen.

Fe­lix leg­te Lord Da­rio wie­der in sei­ne Wie­ge und zog die Ket­te mit der blau­en Glas­scher­be her­vor, die er seit ei­ni­gen Jah­ren um den Hals trug. Er hat­te es nie übers Herz ge­bracht, das Glas zu ver­kau­fen, son­dern statt­des­sen sein we­ni­ges Geld aus­ge­ge­ben, um es fas­sen zu las­sen. Für ihn be­deu­te­te es Frei­heit. Frei­heit von Ai­no.

Er wuss­te, dass La­dy Ali­xe­na mit dem schnells­ten Dampf­mo­bil drei Ta­ge brau­chen wür­de, um aus Jun­di nach Ac­niv zu ge­lan­gen. So lan­ge hat­te er al­so Zeit, um für den ver­stor­be­nen Lord Ge­ro ei­ne rüh­ren­de Ge­leit­ze­re­mo­nie zu kom­po­nie­ren, die der La­dy zei­gen wür­de, was für ein wun­der­vol­ler, um­sich­ti­ger Mensch er war und an was er al­les dach­te.

Fe­lix steck­te die Hals­ket­te wie­der ein. »Nar­zis­sa? Wer ist der schöns­te Mann im Land?«

»Du bist es, Fe­lix.«

»Und bald wer­de ich ein Lue sein.«

»Fe­lix Lue, der schöns­te Mann im Land.«

»Ex­akt, Nar­zis­sa.« Ei­ner plötz­li­chen Ein­ge­bung fol­gend, nahm er das Ba­by wie­der aus der Wie­ge und hielt es so vor den Spie­gel, dass sich das Ge­sicht­chen von Lord Da­rio ge­nau in der Mit­te des Spie­gels be­fand. »Mer­ke ihn dir gut Nar­zis­sa. Das ist Da­rio Lue.«

Ein grü­nes Leuch­ten glitt über den Bild­schirm und wur­de bald durch ei­ne Schrift er­setzt, die ent­fernt an Plain er­in­ner­te. Was im­mer sie be­deu­te­te, er wuss­te es nicht. Haupt­sa­che, Nar­zis­sa war fer­tig und er konn­te das Ba­by wie­der ab­le­gen. Schließ­lich hat­te er noch ei­ne Ab­schieds­fei­er zu or­ga­ni­sie­ren und da­für brauch­te er Blu­men aus dem Ge­wächs­haus. Ro­sen, weiß wie Schnee und rot wie Blut. Nur die schöns­ten für den lei­der ver­stor­be­nen Lord Ge­ro.

Bei der Ge­le­gen­heit soll­te er auch gleich die Phio­le mit dem Gift ver­schwin­den las­sen, ehe je­mand un­an­ge­neh­me Fra­gen stel­len konn­te. Da­für hat­te er näm­lich gar kei­ne Zeit.

3. Alixena

Die über­wäl­ti­gen­de Trau­er war bald ei­nem Ge­fühl grim­mi­ger Ent­schlos­sen­heit ge­wi­chen. Sie muss­te nach Hau­se, zu ih­rem Kind.

Da sie als War­la­dy oh­ne­hin nicht an die Front ge­hen durf­te, war es kein Pro­blem, das Kom­man­do an Vi­zela­dy Na­la zu über­ge­ben, sich eins der Dampf­mo­bi­le mit Fah­rer zu neh­men und so schnell wie mög­lich nach Ac­niv zu ge­lan­gen.

Im­mer wie­der muss­te ihr Fah­rer an­hal­ten, um an den ei­gens da­für ein­ge­rich­te­ten Kno­ten­punk­ten das Was­ser zu er­set­zen und neu­es Heiz­öl zu kau­fen. Die drei Ta­ges­rei­sen schie­nen ihr nicht zu­letzt da­durch un­end­lich lang, zu­dem wa­ren sie recht ein­tö­nig. Die meis­te Zeit sah sie nur Sand und Fels, wenn sie denn über­haupt nach drau­ßen schau­te, statt die Schei­ben ver­dun­kelt zu las­sen.

 

Trotz­dem hat­te sie kein Recht, sich bei dem Mann zu be­schwe­ren – im­mer­hin war es ihm zu ver­dan­ken, dass sie über­haupt vor­an­kam. Der rund­um von hell­grau­em Plas­tik um­hüll­te Wa­gen bot ihr Schutz vor der sen­gen­den Son­nen­ein­strah­lung, der Hit­ze und dem Staub, der selbst meh­re­re Jahr­zehn­te nach der großen Dun­kel­heit im­mer noch auf den Stra­ßen lag und sich in den Lun­gen fest­zu­set­zen droh­te, wenn man sich nicht da­vor schütz­te. Sie muss­te in sei­nem In­ne­ren we­der ih­re Rüs­tung noch ei­ne läs­ti­ge Atem­schutz­mas­ke tra­gen.

Ob er sie vor der an­de­ren Strah­lung schütz­te, ei­ner, die Men­schen krank mach­te, wuss­te sie nicht. Aber ir­gend­wie muss­te sie rei­sen. Nicht, dass es sie in den Städ­ten nicht ge­ben wür­de, aber laut den Gerä­ten der Wis­sen­schaft­ler schwä­cher. Auch wenn sie nicht wuss­te, wes­halb.

Au­ßer­dem war sie voll­kom­men al­lei­ne in ei­nem Wa­gen, der auf sechs Pas­sa­gie­re aus­ge­legt war, und konn­te, wenn sie es woll­te, sich auf dem Bo­den lang aus­stre­cken und ru­hen.

Das gleich­mä­ßi­ge Geräusch sich dre­hen­der, gut ge­pan­zer­ter Stahl­rä­der misch­te sich mit dem lei­sen Pfei­fen der Dampf­ma­schi­ne. Grau stieg der Rauch dar­aus auf und ver­misch­te sich mit den eben­so grau­en Wol­ken über dem Land.

An­geb­lich soll es hier einst im­mer­grü­ne Wäl­der vol­ler Tie­re ge­ge­ben ha­ben, aber seit die große Dun­kel­heit vor­bei war, hat­ten sich erst we­ni­ge Pflan­zen an die Ober­flä­che ge­kämpft und ih­re satt­grü­nen Trie­be wur­den zu schnell wie­der von ei­ner Schicht aus Staub be­deckt. Man­che Din­ge kann­te sie nur aus den Er­zäh­lun­gen ih­rer El­tern: Fri­sche Luft, gu­tes Was­ser, mil­de Tem­pe­ra­tu­ren, Tie­re.

Le­dig­lich ein paar Rat­ten hat­te Ali­xe­na mal ge­se­hen und ver­krüp­pelt aus­se­hen­de Bir­ken, meist in den ver­las­se­nen Städ­ten.

Nur Müll gab es im Über­fluss. Ein Blick nach drau­ßen ge­nüg­te, um ihn zu se­hen. Ihn und die Men­schen, die größ­ten­teils oh­ne drin­gend not­wen­di­gen Schutz dar­in her­um­wühl­ten, um sich et­was Geld für ihr er­bärm­li­ches Le­ben zu ver­die­nen. Das war in ih­ren Au­gen das Schlimms­te. Doch egal wie sehr sie ver­such­te, da­für zu sor­gen, dass die Müll­samm­ler fair be­zahlt wur­den, blieb sie selbst als War­la­dy ohn­mäch­tig an­ge­sichts der herr­schen­den Kor­rup­ti­on. Für die, die nicht in den of­fi­zi­el­len, von ihr kon­trol­lier­ten Bri­ga­den sam­mel­ten, konn­te sie am we­nigs­ten tun. Das wa­ren recht­lo­se Men­schen. An­de­rer­seits, wa­ren sie nicht auch selbst schuld, wenn sie schwarz ar­bei­te­ten?

Sie frag­te sich, wie es Da­rio ging. Ver­stand er über­haupt, warum sein Va­ter auf ein­mal nicht mehr mit ihm spiel­te? Ihn nicht mehr in den Arm nahm? Die Sehn­sucht nach ih­rem Kind war so groß, dass es schmerz­te.

Seuf­zend leg­te Ali­xe­na sich auf dem Bo­den in die auf­ge­schich­te­ten Kis­sen, schloss die Au­gen und stell­te sich vor, wie es wä­re, ihr Kind im Arm zu hal­ten und Ge­ro an­zu­lä­cheln.

Ge­ro.

Sie spür­te, wie Trä­nen heiß aus ih­ren Au­gen quol­len, mach­te sich aber nicht die Mü­he, sie weg­zu­wi­schen. Ver­mut­lich war sie die ein­zi­ge, die auf­rich­tig um ihn wein­te. Sie und viel­leicht noch die­ser cha­ris­ma­ti­sche neue Ober­knecht, der in den letz­ten Au­gen­bli­cken von Ge­ros Le­ben bei ihm ge­we­sen sein muss­te. Wenn sie nicht al­les täusch­te, hieß er Fe­lix, aber sie war sich des­sen nicht ganz si­cher. Sich Na­men zu mer­ken, war noch nie ei­ne von Ali­xen­as Stär­ken ge­we­sen.

Wenn sie nur schon in Ac­niv an­ge­kom­men wä­re.