Buch lesen: «Niewetow»
KARSTEN STEGEMANN ist 1963 in Pasewalk geboren und hat Medizin an der Charité in Berlin studiert. Er war Texter und Sänger in verschiedenen Studentenbands, Kulturredakteur und Autor der Zeitschrift Arranca und Autor für das Feuilleton der Zeitung junge Welt. Seit 2001 ist er freiberuflicher Autor vor allem im Theaterbereich; zu seinen aufgeführten Stücken gehören »Eva Braun Medea«, »Spartakus«, »Hoch Oben« und »Die Abenteuer des braven Soldat Schwejk« nach dem Roman Jaroslav Hašeks.
KARSTEN STEGEMANN
NIEWETOW
KRIMINALROMAN
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a
D - 22761 Hamburg
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus GmbH 2020
Originalveröffentlichung
Erstausgabe Oktober 2020
Umschlaggestaltung:
Maja Bechert, Hamburg
Autorenporträt Seite 2:
Susanne Ulke
ePub ISBN 978-3-96054-237-7
Für Nina
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
DANK
1
Niewetow war in jenen Jahren der ideale Ort für Leute, die gern traurig sind. Beinahe jeden Abend hing Nebel über der Stadt auf der Insel, vor deren Küste die Reste der Kriegsmarine einer untergegangenen Armee vor sich hinrosteten, das trübe Brackwasser des Stromes schwappte gegen die Hafenmauern, und Sandkörner prasselten an die Fensterscheiben, wenn der Wind über verlassene Plätze und durch leere Straßen pfiff.
In jenen Tagen starb der Pier von Niewetow, verendete im Meer. Die stählernen Knochen einer riesigen Werkhalle auf dem Gelände der ehemaligen Werft senkten sich seitwärts in die See. Am Ende eines verkrauteten Kanals lagen alte Bauwagen im Wasser; sie waren dort hineingerollt, versunken, und hinter den Scheiben konnte man es wimmeln sehen: Fische und Krebse, die der Strom hierhertrug, bildeten in ihren selbstgewählten Aquarien neue Gemeinschaften; über ihnen das Tuckern der alten Fähre, die stündlich über den Strom aufs Festland setzte, und der Abgasgestank aus den alten Dieselmotoren konnte Übelkeit hervorrufen, so als wollte der einsam am Steuer stehende Fährmann den letzten Passagieren den Abschied von dem klapprigen Kahn erleichtern.
In einem jener seltsamen Jahre also, da der Nebel sich auch tagsüber niemals aufzulösen schien und das Klagelied des Windes nie verstummte, begegnete ich auf einer nächtlichen Fahrt mit der Fähre dem Tod und erkannte ihn nicht.
Es war eine regnerische Nacht, und ich saß über ein Buch gebeugt auf einem der überdachten Plätze an Deck auf der Fahrt vom Festland zurück auf die Insel. Ich wähnte mich allein mit dem Tuckern der Motoren und dem Fährmann, der hinten im Ruderhaus, eine Zigarette im Mundwinkel, die Fähre in der dunklen Fahrtrinne auf Kurs hielt.
Dass ein weiterer Gast mit mir zugestiegen war, bemerkte ich erst, als er schon eine Weile hinter mir hin- und hergeschwankt haben musste, unentschlossen, für welchen der freien Sitzplätze er sich entscheiden sollte. Doch dann hörte ich endlich, wie er sich niederließ, ich wusste, dass er da war, weil seine Kleidung den Geruch von kaltem Schweiß verströmte.
Ich drehte mich nicht um. Ich schloss die Augen und hielt den Kopf starr geradeaus gerichtet.
»Ah«, stöhnte der Mann direkt hinter mir.
Ich spürte, wie es ihn auf seinem Platz nach vorn drückte, und hörte seinen Atem in meinem Nacken. Den Haltegriff des Vordersitzes umklammernd, sank ich in mich zusammen.
»Ah«, stöhnte er, lauter als vorher, wie unter heftigen Schmerzen.
Der Regen nahm zu, als das Boot jetzt den nächtlichen Strom entlangtuckerte, das Wasser klatschte gegen die Scheiben und schwemmte den Anblick der naheliegenden Küste fort. Wir durchquerten den alten U-Boot-Hafen, ohne dass eins der Boote zu erkennen war; der Kahn hob und senkte sich, die Planken quietschten unter uns, die leeren Sitze knarrten und die Signalpfeife schrillte.
Da traf mich von hinten erneut ein lauwarmer Hauch, als der Fremde in meinem Rücken ausrief: »Das Ende!«
Die Pfeife schnitt ihm das Wort ab, so dass er noch mal ansetzen musste.
»Das Ende«, stöhnte die Stimme hinter mir, »ist einsam!«
Es schien, als schluchzte er. Ich starrte geradeaus in den Regen, das Boot schwenkte Richtung Ufer. Der Mann erhob sich so ungestüm, als wollte er sich auf mich stürzen, wenn ich mich nicht endlich umdrehte. Mir war, als streckte er die Hand aus, um nach mir zu greifen, und ich umklammerte die Rückenlehne vor mir noch fester. Seine Stimme schien aus ihm hervorzubrechen.
»Ah, das Ende!«
Die Fähre legte an.
»Ist einsam!«, flüsterte er heiser und stand auf.
Ich hörte, wie hinter mir die Planken knarrten. Jetzt endlich drehte ich mich um: Das Deck war leer, nur das Schlagen der Gangway war zu vernehmen.
Als ich den Ausgang erreichte, meinte ich zu sehen, wie ein Schatten an Land sich in der Dunkelheit auflöste, aber als ich unter dem müden Blick des paffenden Fährmanns von Bord sprang, war da nichts als das Prasseln des Regens auf dem Asphalt und der Lichtschein aus dem Bistro gegenüber. Es war leer bis auf den Wirt, der sich von einem Spätfilm nicht losreißen konnte.
»Einen doppelten Wodka, bitte.« Ich erschrak vor meiner eigenen Stimme.
Ich brauchte dringend etwas zu trinken; irgendwie fehlte mir der Mut, um meine Freundin Kat, zehn Flugstunden entfernt in Kanada, anzurufen und ihr zu sagen, wie es mir ging. Sie wohnte seit zwei Monaten in Toronto, um ihr Studium der amerikanischen Literatur zu beenden; einmal pro Woche rief sie mich an, und wir lauschten fünf kurze Minuten lang jeder dem Herzschlag des andern und sagten einander wieder und wieder dieselben Zärtlichkeiten, Worte, an denen man sich nie satthört, denen man stundenlang lauschen könnte. Wie sehr hätte ich jetzt ihren Zuspruch gebrauchen können.
Aber letztlich war mir ja nichts passiert außer einer nächtlichen Bootsfahrt im Regen und einer heiseren Stimme hinter mir, deren stinkender Atem mir unvermittelt in die Glieder gefahren war und mich davor zurückschrecken ließ, ins Bett zu gehen, das kalt und leer war wie der Kühlschrank an der gegenüberliegenden Wand desselben Zimmers, das ich, angehender Reporter eines unbedeutenden Lokalblatts, in einer ehemaligen Kaserne gemietet hatte. In einem Flügel des weitläufigen Gebäudekomplexes betrieb ein altes Ehepaar eine kleine Pension, die aus einem Dutzend Zimmer und einer Pförtnerloge bestand. Die ersten Tage nach meiner Ankunft war der Glaskasten hinter der Kasernentür manchmal tagsüber noch besetzt gewesen, inzwischen aber, da ich der einzige Pensionsgast war, klebte nur noch ein Zettel mit der Nummer des Portiers am Schiebefenster der beleuchteten Kabine. Diese ehemalige Dienststelle übermüdeter Wachposten war gleichzeitig eine Art Telefonzelle für mich und wurde zum Hotspot des Liebesgeflüsters, wenn ich einen Anruf aus Toronto empfing.
Ich trank meinen Wodka und verzog angewidert das Gesicht.
»Wohl bekomm’s«, sagte der Wirt. »Sie sehen aus, als wär das der erste Harte in Ihrem Leben.«
»Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie etwas Schreckliches vorausahnen, ohne genau zu wissen, was?«
»Sie meinen, wenn man sich gruselt?«
Ich trank einen weiteren Schluck. »Nein, etwas wirklich Furchtbares, was einem dermaßen in die Glieder fährt, dass man meint, danach nicht mehr derselbe zu sein.«
Der Wirt blickte über mich hinweg, als suchte er nach etwas über oder hinter mir an der Wand. »Haben Sie es mit hereingebracht?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Dann wird es auch nicht hier sein.«
»Es war ein Zombie.«
»Ein was?«
»Ich glaub, mir wird schlecht. Gute Nacht.«
Im Hinausgehen warf ich ein paar Münzen auf den Tresen.
»Vielleicht hätten Sie vorher etwas essen sollen«, hörte ich ihn hinter mir rufen, aber ich war schon zur Tür hinaus, um mich in der Finsternis nach dem sichersten Heimweg umzusehen. Ich entschied mich für den Weg am Kanal entlang und eilte auf die versenkten Bauwagen zu.
Wie sie wohl dort hineingelangt waren, an den Rand dieser dunklen, mit einem Ölfilm bedeckten Wasserrinne? Von einem, wahrscheinlich ausgebrannten, war nur noch das Gestell geblieben, wie ein von Rost zerfressener Käfig dämmerte er unter der Oberfläche. Vor sehr langer Zeit, in den heiteren Siebzigern, dienten diese Wagen als Unterkünfte für Bauarbeiter auf Montage, als mobile Pausenräume oder Zweitwohnsitze für Werktagsnomaden mit Wochenendfamilie. Und irgendwann waren die Gefährte hier gelandet, in einer trüben Sackgasse.
Einige der Wagen standen aufrecht im Wasser des Kanals, andere waren flach auf die Seite gekippt und neben der Fahrrinne begraben. Ein paar besonders verwegene Jungs hatte ich schon auf diesen Inseln aus Stahl und Holz herumturnen sehen, und zuweilen tauchten sie im Sommer kurz hinab auf der Suche nach imaginären Schätzen im Innern.
Doch jetzt, kurz vor Mitternacht, die letzte Fähre war längst in Richtung Festland verschwunden, schwappten die dunklen Fluten des Stroms gegen das Ufer und saugten an den Gestellen wie Greisinnen an ihren zahnlosen Kiefern.
Ich rannte dahin, den Kopf gegen den Regen gesenkt, der plötzlich nachließ und dann ganz aufhörte. Der Mond brach durch eine Wolkenlücke hervor, er schien auf mich herabzusehen, und ich ging neben Spiegeln her, in denen ich den gleichen Mond und die gleichen Wolken noch einmal sah. Eine glänzende Welle rollte zwischen den Ufern des Kanals heran, irgendwo war vielleicht ein Hindernis hinweggeschwemmt worden und ließ das Wasser des Stroms herein.
Die Welle erreichte die Bauwagen in dem Moment, als ich auf ihrer Höhe stand, sie zischte um die alten Gestelle. Ich griff nach dem Geländer am Ufer, denn in einem der auf der Seite liegenden Wagen, direkt unter mir, erkannte ich ein schwaches Leuchten durch das Glas der unversehrten Scheibe. Eine Hand schien mir aus dem Innern zuzuwinken. Dann streckte sich träge ein Arm hinter dem Fenster.
Das Wasser fiel, stieg wieder an, und das Gespenst presste sein Gesicht gegen die Scheibe. Ich stand über das Geländer gebeugt und wollte nicht glauben, was ich sah, doch jetzt nahm die geisterhafte Erscheinung Gestalt an: nicht nur eine Hand, ein Arm, sondern ein ganzer Körper trieb mit schlenkernden Bewegungen hin und her, eine riesige Marionette in einer wässrigen Falle. Das bleiche Gesicht mit leeren Augen, denen der Mond etwas Licht gab, glich einer wächsernen Maske.
Dann zog die Flut sich plötzlich zurück. Der Körper verschwand und in meinem Kopf tuckerte plötzlich ein stinkender Dieselmotor, während irgendwo ein Mann, der nicht zu sehen war, im Takt der Kolben die Worte hervorstieß: »Das-En-de-ist-ein-sam.«
Wie das Anfluten einer unangenehmen Erinnerung kehrte die Welle zurück, und auch die Gestalt im Bauwagen kam wieder zum Vorschein: Es war ein Toter, der hinaus wollte.
Ein entsetzlicher Schrei ertönte. Als in den Fenstern der Häuser entlang des Kanals ein Dutzend Lichter angingen, wurde mir klar, dass ich ihn ausgestoßen hatte.
2
»Bitte treten Sie zurück, bitte.«
Noch mehr Autos kamen, noch mehr Männer, mit oder ohne Uniform, stiegen aus, noch mehr Lampen leuchteten auf, noch mehr Neugierige kamen schlaftrunken aus den Häusern, stellten sich zu mir; wir wirkten wie ein aufgeschreckter Haufen müder Nomaden, die fassungslos auf ihre versenkten Behausungen starrten.
»Bitte, Herrschaften, es ist kurz nach Mitternacht. Gehen Sie nach Hause!«
Es hatte wieder angefangen zu regnen. Die eintreffenden Polizisten sahen mich äußerst vorwurfsvoll an, so als wollten sie eigentlich sagen: Warum haben Sie nicht bis zum Morgen gewartet mit Ihrem Anruf?
Ein Froschmann stand etwas unentschlossen am Rand des Kanals. Das Regenwasser auf seiner schwarzen Haut konnte den Eindruck erwecken, er sei bereits unten gewesen, aber er sah nur zu, wie die Fluten in den aufgerissenen Bauwagen drangen und den Toten gegen die Scheibe uns entgegenhoben. Das aufgedunsene Gesicht tauchte hinter dem Glas auf. Es schien unendlich weit entrückt, und ich spürte, wie es mir den Brustkorb zusammenpresste; als ein Krampf meine Kehle zu ergreifen drohte, wandte ich mich ab und trat zurück.
Wenig später tauchte der glänzende Körper des Froschmanns ins Wasser ein. Er verschwand. Es kam mir vor, als wäre auch er jetzt ertrunken. Regentropfen fielen auf die ölige Wasseroberfläche dort, wo er eingetaucht war.
Endlich war er wieder zu sehen, im Innern des Wracks presste er das Gesicht gegen die Scheibe, als wollte er vorm Auftauchen nochmal die Perspektive des Toten einnehmen. Gleich darauf sah man ihn auf der anderen Seite aus dem Wagen schießen, einen gespenstischen Flor aus Seetang hinter sich herschleppend.
Zu dritt zogen sie die Leiche ans Ufer, der Froschmann legte seine Sauerstoffflaschen ab, und die Lichter in den Streifenwagen erloschen.
Zwei Polizisten beugten sich mit Taschenlampen über den Toten.
»Höchstens vierundzwanzig Stunden vermutlich.«
»Wo bleibt die Gerichtsmedizin?«
»Müsste jeden Moment hier sein.«
Einer der Polizisten drehte sich um und leuchtete mir mit der Lampe ins Gesicht. Eine Weile musterte er mich interessiert, horchte auf mein Schluchzen.
»Haben Sie ihn gekannt?«
»Nein.«
»Und warum sind Sie so …?«
»Er ist tot, mein Gott, und ich hab ihn gefunden.«
Ich erinnerte mich, wie ich an einem heißen Sommertag an einer Straßenkreuzung einen Mann unter einem Auto hatte liegen sehen. Der Fahrer war gerade aus dem Wagen gesprungen und blickte auf den Körper hinab. Ich war mitten im Schritt erstarrt, etwas Hellrotes lag auf dem Gehweg, direkt neben meinem Schuh, ein einzelnes Stück Hirngewebe, wie ich es einmal im Formalinbad einer anatomischen Sammlung gesehen hatte. Eine Frau, die vorüberkam, blieb lange stehen und schaute auf die Leiche unter dem Auto. Dann beugte sie sich langsam hinab, kniete sich neben den Toten. Sie streichelte ihm die Schulter, berührte ihn ganz sanft, als wollte sie ihm mitteilen: Es wird alles wieder gut.
»Er ist – ermordet worden?«, hörte ich mich fragen.
Der Polizist wandte sich zu mir um.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Wie sollte er da hineingekommen sein, ohne dass jemand nachgeholfen hat?«
Die Taschenlampe leuchtete wieder auf, und der Lichtstrahl glitt über mein Gesicht wie eine ärztliche Hand, die es nach Symptomen abtastet.
»Vielleicht hat ihn die Strömung hineingespült. Haben Sie uns angerufen?«
»Ich habe geschrien, davon werden wohl einige Anwohner wach geworden sein.«
Ein Kriminalpolizist mit schütterem Haar kniete neben der Leiche und kehrte die Manteltaschen nach außen. Eine ausgedrückte Tube Gummilösung fiel heraus, ein Aufrauer und dazu zwei runde Fahrradschlauchflicken.
»Was ist denn das?«, fragte jemand.
Meine Hand zitterte, als ich mich niederbeugte, nach dem Flickzeug griff und meine Faust darüber schloss, gerade als ich es in meiner Jacke verschwinden ließ, sah der kniende Polizist zu mir hoch.
»Sie sind doch völlig durchgeweicht«, sagte er. »Geben Sie meinem Kollegen Ihre Adresse und gehen Sie nach Hause. Sehen Sie zu, dass Sie aus den nassen Klamotten rauskommen.«
Es regnete immer noch, und ich zitterte. Ich gab dem anderen Polizisten meine Personalien und lief im Dauerlauf davon.
Ich war noch nicht weit gekommen, als ein Wagen neben mir hielt und die Tür aufging. Der Kriminalbeamte mit dem schütteren Haar blickte zu mir heraus.
»Steigen Sie ein.«
»Ich hab’s nicht mehr weit.«
»Nun machen Sie schon, Mann.«
Ich stieg widerstrebend zu, und er fuhr mich das letzte Stück bis zu meiner Kaserne. Als ich ausstieg, wäre ich auf der glitschigen Straße beinahe gestürzt.
»Krummnow«, stellte er sich vor. »Edgar Krummnow. Rufen Sie mich an, wenn Sie mit dem Zeug, das Sie eingesteckt haben, etwas anfangen können.«
Schuldbewusst fuhr ich mit der Hand in die Hosentasche. Dann nickte ich.
»Selbstverständlich.«
»Und hören Sie auf, darüber nachzudenken, dann kriegen Sie auch wieder ein bisschen Farbe«, empfahl mir Krummnow. »Es war doch schließlich niemand …«
Er brach ab, es schien ihm unangenehm zu sein. Er zog den Kopf ein und wollte nochmal ansetzen.
»Irgendwo hab ich ihn schon mal gesehen«, kam ich ihm zuvor. »Wenn ich mich erinnern sollte, wo, rufe ich Sie an.«
Starr vor Kälte stand ich auf der Straße.
»Los jetzt!«
Edgar Krummnow knallte die Autotür zu.
Dann sah ich nur noch zwei rote Lichtpunkte, die durch den Regen davonrasten, der jetzt in Strömen niederging und mich zwang, meine Augen zuzukneifen.
Ich tastete nach dem Flickzeug in meiner Tasche und dachte: Ich werde Kat anklingeln, werde sie bitten zurückzurufen, ihr von dem Bauwagen und dem Mann erzählen und – zu Tode erschrecken würde ich sie.
Hör auf die Polizei, sagte ich mir. Los jetzt!
3
Ich zitterte so heftig, dass ich den Schlüssel kaum ins Schloss bekam.
Die Nässe folgte mir in mein winziges Zimmer mit einer durchgelegenen Liege, einem Hängeregal voller Bücher, einem Polsterstuhl und einem winzigen Esstisch, dessen Platte gerade groß genug war für die elektrische Schreibmaschine, darin eingespannt ein leeres Blatt; in einem Pappkarton daneben ein Stapel weißes Papier, auf der anderen Seite ein weiterer Karton, der mit beschriebenen Blättern gefüllt werden sollte, mit einer Reportage über eines der größten Waffengeschäfte der jüngeren Geschichte. Das Material, das ich die letzten Wochen zusammengetragen hatte, würde unter der Feder eines erfahrenen Reporters mühelos für einige hundert Seiten reichen. Ich quälte mich bereits seit einer Woche mit dem vorerst letzten Teil der auf drei Fortsetzungen angelegten Serie »Die verkaufte Armee« für eine Sonderausgabe.
Meine Lethargie hatte viel damit zu tun, dass Kat so weit weg war, und damit, dass seit drei Wochen in Niewetow die Sonne nicht mehr geschienen hatte, nur verhangener Himmel und Nebel und Regen. Mein Kopfkissen war morgens oft feucht, doch nie konnte ich mich daran erinnern, was für Träume daran schuld waren.
Ich starrte auf das weiße Blatt in der Maschine. Es erinnerte mich an die Hand des Toten, die wie abgetrennt hinter der Scheibe geschwebt hatte, und an den Mann hinter mir auf der Fähre letzte Nacht. Beide winkten mir zu.
Langsam, sehr langsam setzte ich mich. In meiner Brust hämmerte es, als drängte etwas von innen aus seiner feuchten Behausung. Jemand blies mir seinen Atem in den Nacken. Ich musste dafür sorgen, dass sie beide Ruhe gaben, damit ich endlich einschlafen konnte.
In der Nacht verdichtete sich der Nebel, und draußen auf dem Strom, wie versunken und verloren, tutete immer wieder ein Nebelhorn. Es erinnerte an ein riesiges Meerestier, das längst gestorben war und auf dem Weg hinab in sein Grab einen Klagelaut nach dem anderen ausstieß, dumpfe herzzerreißende Laute, die niemanden kümmerten und denen keiner nachging.
Als ich gegen Mittag erwachte, schien es bereits wieder dunkel zu werden. Niesend erreichte ich das Fenster, riss es auf und spürte die feuchte Luft, die mir so frisch entgegenschlug, dass ich mich plötzlich unverwundbar fühlte und mich gleichzeitig dermaßen schämte bei diesem Gedanken, dass ich am liebsten mit einem Schlag das Tageslicht gelöscht hätte.
Die Sachen, die ich letzte Nacht getragen hatte, waren immer noch feucht. Ich kehrte die Taschen meiner Hose nach außen, mit dem Flickzeug darin, das vor wenigen Stunden aus der Jacke des Toten gefallen war. Ich wusste inzwischen, woher es stammte. Ich musste raus aus diesem überheizten Zimmer, weg von diesen letzten ungetippten Seiten.
Ich rannte einfach blind den Uferweg entlang, vorüber am Äsen dreier mechanischer Riesenvögel; sie waren, wie mir Einheimische berichtet hatten, letztes Frühjahr gelandet, um ihre Nester hier zu bauen. Aus ihrer Ruhe nur kurz aufgeschreckt, sahen die Inselbewohner seitdem das atemlose Pumpen, das Auf und Ab federloser Bälger von Geschöpfen, die, verwachsen mit der Erde, die gewaltigen Schlünde unentwegt hoben und senkten und ein quietschendes Knarren ihrer Knochen von sich gaben und manchmal den Mundgeruch von fauligem Gehölz.
Ich rannte an leeren Kasernen vorüber, die lange vor den Pumpanlagen errichtet worden waren, und entlang an Kanälen, ausgehoben und gefüllt, um einst den strahlenden östlichen Himmel einer neuen Zeit widerzuspiegeln, die bewachte Periode der verschiedenen Kollektive, die sich nach ihrer Auflösung waffenlos zerstreuten. Einige ihrer Mitglieder waren hocken geblieben in den grauen Wohnblocks neben den Kasernen oder in einem der Siedlungshäuser im Inselinneren. Manchmal sah man einen in schlecht sitzenden Hosen und ausgebeulter Windjacke auf den frisch ausgetretenen Pfaden zwischen Quartieren und Supermarkt, wo er auf einer Parkbank auf Gleichgesinnte traf, die einen ähnlichen Alkoholpegel wie er anstrebten. Oder man begegnete einheimischen Paaren, die nach dem Einparken ihres neuen Kleinwagens andere Käufer mit verstohlenem Blick auf eine Geste des Wiedererkennens prüften, wie Menschen, die ihre Kindheit miteinander verbracht hatten und sich nach langem Aufenthalt im Ausland zum ersten Mal wieder begegnen.
Plötzlich blieb ich stehen. Ich wollte umkehren und anhand des Flickzeugs etwas über seinen toten Besitzer herausfinden. Doch jetzt stand ich vor einem zweigeschossigen roten Bungalow, den ein schmaler Kiefernstreifen vor den Blicken vom Strand nicht verbergen konnte.
»Heide Waldschmidt«, flüsterte ich ehrfurchtsvoll.
Was da geschützt vor den Fluten direkt am Meer vor mir lag, war eine erprobte Bastion vor den Stürmen der Zeit, die sich auf den Ausläufern des Dünensandes leicht zu neigen begonnen hatte, hier, keine dreihundert Meter von den gierigen Wellen entfernt, wo die Möwen herabsegelten, um einen flüchtigen Blick dorthin zu werfen, wo ich stand und Wurzeln schlug.
Heide Waldschmidt war nirgends zu erblicken. Allein und fremdartig in diesem von Sauriern bewohnten Landstrich schützte diese Festung dort eine außergewöhnliche Künstlerin.
Ein Fenster im Obergeschoss war Tag und Nacht erleuchtet. Wann immer ich hier vorüberkam, brannte dahinter Licht. Ob sie jetzt da war? Ja. Denn ein weißes Leuchten war hinter einem der Fenster vorbeigehuscht, so als hätte jemand einen kurzen Blick auf mich werfen wollen, um dann sofort wieder in den Tiefen des Hauses unterzutauchen.
Heide Waldschmidt hatte Anfang der achtziger Jahre in einigen DEFA-Produktionen mitgespielt, war dann aber durch einige kritische Anmerkungen zur Kulturpolitik bei den staatlichen Behörden in Ungnade gefallen. Der Kulturminister hatte ihr übermitteln lassen, er werde persönlich dafür sorgen, dass sie während seiner Amtszeit in seinem Herrschaftsbereich keine Rollen mehr bekäme. Seine Amtszeit endete noch schneller, als sein Herrschaftsbereich zu existieren aufhörte. Heide Waldschmidt aber hatte es anstatt gen Westen hierher an diesen abgelegenen Ort an der Küste verschlagen. Einen Film hatte sie seit dem Bannfluch des Ministers bis heute tatsächlich nicht mehr gedreht; ob sie es vorhatte, wusste niemand, nicht mal Fanny, mein gewichtiger Anker in Sundhafen, Besitzer der umfangreichsten Jazzplattensammlung zwischen Fichtelberg und Kap Arkona. Fanny mit dem Gemüt eines Blauwals und dem Gedächtnis eines Indischen Elefanten hatte Heide Waldschmidt schon gekannt, bevor sie beschlossen hatte, sich in einen Bungalow am Strand von Niewetow zurückzuziehen.
Ich war ihr verfallen, seit ich sie das erste Mal auf der Leinwand gesehen hatte. Das Geheimnisvolle, das sie inzwischen umgab, tat ein Übriges. Ich stellte mir vor, wie sie sich spätabends hinauswagte und dieselben Wege wie ich ging, dieselben Leute traf, die auch ich getroffen hatte; manchmal meinte ich sogar, ihren Atem spüren zu können.
Geh schon, dachte ich, lass den Messingklopfer an ihre Haustür pochen.
Nein, entgegnete ich mir mit einem Kopfschütteln, als fürchtete ich, eine schlechte Videokopie meines Originals könnte die Tür öffnen. Du willst deine große Liebe gar nicht treffen, du willst nur davon träumen, dass sie eines Nachts heraustritt und von hier weggeht, um später von der Leinwand oben endlich wieder auf dich hinabzusehen, der sie aus der Ferne anbetet.
Heide, liebe Heide, dachte ich, komm heraus! Spring in den rostroten Volvo, der heute nicht vor deinem Haus parkt, lass den Motor an, winke und bring mich weg nach Süden, an die sonnigen Küsten von Cannes oder Venedig.
Doch kein Motor sprang an, niemand winkte, niemand brachte mich nach Süden zur Sonne, weg von dem Nebelhorn, das draußen auf See sein Grab suchte. Ich trat zurück, stellte überrascht fest, dass ich mit meinen Sportschuhen knöcheltief im Wasser stand, wandte mich um und ging dahin zurück, wo schwarze Fluten in versunkenen Bauwagen auf mich warteten.