Tatorte 3

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Für die ehemaligen DDR-Kriminalisten, die jetzt Beamte auf Probe sind, ist es immer noch ungewöhnlich, dass sie einen Zeugen nicht aufgrund eines Gesetzes verpflichten können, bei der Polizei auszusagen. Vor 1989 wurden Zeugen zur „Klärung eines Sachverhaltes“ in die Polizeidienststelle vorgeladen, und wer nicht kam, der wurde geholt. Nun kann nur ein Staatsanwalt anordnen, dass ein Zeuge vorgeführt wird, der sich hartnäckig verweigert. Immerhin können die beiden Kriminalisten erreichen, dass ihnen Raimund Walzer einige Tage später doch für ein Gespräch zur Verfügung steht. Walzer lässt die Männer der Mordkommission in seine Wohnung ein. Sie sind extra aus Dresden gekommen und ausgesprochen freundlich zu dem polizeischeuen Herrn. Warnatsch und Nicolaus vernehmen ihn als Zeugen, und Walzer sagt, dass er Ende Mai von Ramona Jungas Tod aus der Zeitung erfahren habe. Persönlich kenne er die junge Frau nicht. Aber auf Grund ihres Fotos in der Zeitung ist er sich vollkommen sicher, dass er Ramona am 14. Mai in Begleitung eines unbekannten Mannes gesehen hatte. An dem Tag habe er nach 14 Uhr seinen Betrieb verlassen, die Robur GmbH in Bautzen, und sei nach Hause gelaufen – die Humboldtstraße bis zur Wilthener Straße, dann links stadteinwärts. In der Nähe eines Fleischerladens habe er hinter sich die lauten Rufe einer Frau gehört. „Ich habe mich umgedreht und gesehen, wie die Frau schräg über die Straße auf mich zu lief. Sie rief: „Hilf mir!“, berichtet Walzer den Kriminalisten. Es könne sein, dass sie aus der Bertha-von-Suttner-Straße kam. Die Frau habe ihn an seiner Jacke gepackt und erneut gerufen, dass er ihr helfen solle. Dann habe er einen Mann gesehen, der hinter ihr her rannte und vor ihm stoppte. Die Frau habe ihrem Verfolger zugerufen: Sie lasse sich von ihm nicht mehr verprügeln. Walzer sagt: „Ich hatte gesehen, dass die Frau ein Veilchen am Auge hatte.“

„Welches Auge, links oder rechts?“, will Warnatsch wissen. Walzer weiß das aber nicht.

„Und was geschah weiter?“, fragt Warnatsch.

Aus Raimund Walzer sprudelt es nun heraus: „Der blöde Kerl sagte zu mir, dass ich seine Frau loslassen solle, und dass mich das nichts angehen würde.“ Dabei habe der Fremde die Frau gepackt und von ihm weggezogen. Sie sei gestolpert, aber nicht gefallen. „Der Blödmann war bei mir an der richtigen Stelle. Ne Frau schlagen, wo gibt’s denn so was! Ich hab mit meiner linken Hand das Revers seiner Lederjacke gepackt und ihm mit dem rechten Handrücken eine in die Fresse gehauen. Der Affe stolperte über einen Fahrradständer, schlug mit dem Hinterkopf auf dem Gehweg auf, kam aber gleich wieder hoch. Ich hab mich rumgedreht und bin weiter gegangen.“ Die Frau sei während des kurzen Handgemenges in Richtung Brücke weggerannt. „Mehr war nicht”, sagt er.

Walzer soll die Frau beschreiben. Jedes Detail hilft den Kriminalisten, die Frage zu beantworten, ob der Mann tatsächlich Ramona Junga gesehen hatte. Sie habe einen schwarzen Pullover und einen hellen Rock getragen – so weiß mit rosa und etwas Blau dabei. Ein Blumenmuster mit großen Blüten sei es gewesen, sagt Walzer.

Nicolaus zeigt Walzer ein Polaroid-Foto mit dem geblümten Rock vom Tatort. Der Zeuge ist unsicher und will sich nicht festlegen: „Es könnte der Rock von der Frau sein. Hat zumindest große Ähnlichkeit.“

Der fremde Mann, so Walzer, sei eine hagere Gestalt gewesen, wie lang gezogen habe er gewirkt, 1,80 Meter groß und 25 bis 30 Jahre alt. Er habe sächsisch gesprochen, mit dunkler, brummiger Stimme. Sein mittelblondes, ungepflegtes Haar sei bis auf die Schultern gefallen. Aufgefallen ist Walzer ein fünfzackiges Sternchen, das auf sein rechtes Jochbein tätowiert war, nur so groß wie eine Fingerkuppe. Walzer beschreibt die Tätowierung als Pfusch. Auch sonst sei der Mann ungepflegt gewesen. Walzer will bei der Frau eine Alkoholfahne gerochen haben. Als Pärchen, so meint er, habe er beide in der Vergangenheit mehrfach in Bautzen gesehen – im Bahnhof und vor einem Fleischerladen. Dann nennt Walzer sogar zwei Namen: Der Mann sähe einem ehemaligen Mitgefangenen sehr ähnlich, dem Rudi Kramer[8]. Dieser Mann mit dem Sternchen könnte auch dem Heiner Hahnemann[9] bekannt sein. Walzer ist sich ganz sicher, dass er das alles am 14. Mai erlebt hat, denn an diesem Tag hatte sein Bruder Geld in der Kasse bei Robur geholt. Das könnte man nachprüfen, denkt Warnatsch. Walzer ist sogar einverstanden, dass ihn ein Polizeizeichner besucht, und es wird ein subjektives Porträt von dem Mann mit der Tätowierung angefertigt.

In den folgenden Tagen prüfen Warnatsch und Dörfel Walzers Angaben. In der von ihm genannten Fleischerei sind vier Frauen beschäftigt. Keine von ihnen kann sich an das beschriebene Geschehen erinnern. Aber es gibt den Fahrradständer, den Walzer beschrieben hat, und Ramona Junga ist als Kundin im Laden bekannt. Auch in männlicher Begleitung habe sie hier schon eingekauft. Die Ermittlung in der Betriebskasse der Robur GmbH bringt eine weitere Ernüchterung. Grundsätzlich gibt es dort keine Barauszahlung von Löhnen und Gehältern. Dennoch hatte Walzers Bruder dort Bargeld geholt – aber am 13. und nicht am 14. Mai. Das stellt Walzers Aussage infrage. Grundsätzlich anzweifeln wollen die Kriminalisten nicht, was er sagt. Das mit seiner Hilfe angefertigte subjektive Porträt wird in regionalen und überregionalen Zeitungen veröffentlicht. Am 6. September 1991 wird das Bild in der MDR-Fahndungssendung „Kripo live“ gezeigt. Danach gehen zahlreiche Hinweise ein und die Ermittler merken: Nicht nur hilfsbereite Bürger sehen diese Sendung, auch in sächsischen Gefängnissen scheint sie „Pflichtprogramm“ zu sein. Nach einem Hinweis aus einer Haftanstalt kann Walzers Knastbekanntschaft Rudi Kramer ausfindig gemacht werden. Er saß unter anderem wegen Vergewaltigung ein. Aber seine Überprüfung ergibt keine Hinweise, dass Kramer Ramona Junga überhaupt kannte.

Heiner Hahnemann, der nach Walzers Angaben den „Sternchen-Mann“ kennen könnte, ist schwer zu finden. Die Ermittler erfahren, dass Hahnemanns Mutter vor einigen Jahren in der Sero-Altstoffannahme in der Zeppelinstraße beschäftigt war, und Hahnemann war, ebenso wie Ramona Junga, Patient im Fachkrankenhaus Großschweidnitz - letztmalig im April und im Mai 1991. Hahnemann trank exzessiv Alkohol und sollte „trocken gelegt“ werden. Weil er ein besonders schwieriger Fall war, nahm sich die Kirche seiner an. Just am 14. Mai, dem Schlüsseldatum dieses Falles, war er aus dem Fachkrankenhaus Großschweidnitz entlassen und von einem Pfarrer aus Bautzen abgeholt worden. Der hatte Hahnemann in eine weit entfernt liegende kirchliche Einrichtung begleitet.

Frank Nicolaus will unbedingt mit Hahnemann sprechen, aber er hat Mühe, den Pfarrer davon zu überzeugen. Der Kirchenmann meint zunächst, dass die Polizei den Erziehungserfolg seines Schützlings nur stören würde. Schließlich stimmt er doch zu und gibt preis, wo sich Heiner Hahnemann aufhält. Er lebt im Diakonischen Werk in Serrahn bei Krakow an der Mecklenburgischen Seenplatte, wo er sich einer weiteren Suchtbehandlung unterzieht.

Am 18. Juli machen sich Warnatsch und Nicolaus im Wartburg auf den Weg nach Mecklenburg-Vorpommern. Die Betreuer hatten Heiner Hahnemann vorab nicht über den Besuch der Mordkommission informiert. So ist er zunächst überrascht, lässt sich aber dennoch drei Stunden lang als Zeuge befragen. Dabei zeigt sich, dass er Ramona Junga seit etwa fünf Jahren kannte, jedoch nie persönlich Kontakt zu ihr hatte. Erst durch die Polizei habe er von ihrem Tod erfahren. Er hatte sie öfters in der Gaststätte „Moritzburg“ in Bautzen gesehen. Zumeist sei sie da in Begleitung eines Mannes gewesen. Hahnemanns Beschreibung passt auf Falk Schubert. Im Fachkrankenhaus hatte Hahnemann die Junga nie gesehen. Er wusste nicht, dass sie dort Patientin war. Den Mann mit dem tätowierten Sternchen kennt er, aber auch nur vom Sehen. Letztmalig hätte er den Sternchen-Mann im April 1991 in der Bautzener Reichenstraße in Begleitung des Hansi Karlstadt[10] gesehen. Hahnemann bestätigt, dass seine Mutter früher bei der Sero-Altstoffannahme Bautzen beschäftigt war und erwähnt auch, dass sie Säcke auch privat nutzte. Er jedoch habe solche Säcke nicht besessen.

Wieder in Sachsen besuchen Warnatsch und Nicolaus den Hansi Karlstadt in der Haftanstalt Görlitz. Karlstadt ist unter anderem wegen Vergewaltigung vorbestraft. Er weiß von dem Leichenfund, den Sternchen-Mann kennt er aber angeblich nicht.

*

So hangeln sich die Ermittler von einem Hinweis zum anderen, überprüfen eine Vielzahl von Vorbestraften, Pennern, Säufern und Ganoven, aber wirklich weiter kommen sie nicht. Noch während der Nachforschungen zum „Leichensack “ und bevor die Morduntersuchungskommission zu der Erkenntnis kommt, dass dieser Sack letztendlich beim Altstoff handel in Bautzen gelandet und von dort in die Hände der oder des Täters gelangt sein könnte, haben Kriminalisten auch in eine ganz andere Richtung ermittelt: Sie wussten schon frühzeitig von Ramona Jungas Aufenthalt im Fachkrankenhaus für Psychiatrie in Großschweidnitz. Deshalb hatten sie unverzüglich begonnen, Patienten und Mitarbeiter zu befragen, die das Opfer gekannt haben könnten. So wusste die Mordkommission schon zwei Tage nach Ramonas Tod, dass sie in diesem Spezialkrankenhaus offenbar einen Freund hatte, der auch dort in stationärer Behandlung war. Anlass genug, um Überprüfungen einzuleiten.

Ramona Junga befand sich vom 6. März bis 27. Juli 1990 und vom 7. Dezember 1990 bis zum 11. Mai 1991 in stationärer Behandlung. Wie für alle Patienten galten auch für sie täglich festgelegte Ausgangszeiten, die streng einzuhalten waren. So wird stets nach 19.30 Uhr die Anwesenheit überprüft. Tagsüber können sich die Patienten, anders als in geschlossenen Einrichtungen, frei bewegen und allein entscheiden, was sie außerhalb der Therapiezeiten tun und lassen.

 

Dem medizinischen Personal war bekannt, dass Ramona Junga in Großschweidnitz zu drei Personen engeren Umgang pflegte: zu dem 37-jährigen Jörg Mehlkorn[11], zu dem 36-jährigen Rainer Mißbach[12] und zu einer Frau Markus[13] aus der Krankenhauswäscherei. Irgendwelche Unregelmäßigkeiten konnten die Mediziner über Ramona nicht berichten. Es war aber bekannt, dass sie öfters mit Jörg Mehlkorn am Getränkestützpunkt sowie in mehreren Gaststätten im Ort gesehen worden war.

Frau Markus aus der Wäscherei sagte, dass sie Ramona zuletzt an deren Entlassungstag, am 11. Mai 1991, gesehen hatte. Sie weiß von Ramona, dass sie vier Tage später, also am 15. Mai, mit dem Bus zwischen 13.30 Uhr und 14 Uhr nach Großschweidnitz kommen wollte, um ihren Freund Jörg Mehlkorn zu besuchen. Er hatte Ramona einmal ein Paar Turnschuhe und einen Niki-Pullover geschenkt. Außerdem wollte sie in der Klinik noch Geld abholen, das ihr angeblich zustand. Bei dem Gespräch in der Wäscherei sehen die Ermittler auch die Wäschesäcke, die dort verwendet werden. Sie entnehmen von unterschiedlichen Säcken vier verschiedene Stoffproben und lassen sie von der Kriminaltechnik untersuchen – ohne brauchbares Ergebnis.

In den Listen der Tagesausgänge stellen die Ermittler fest, dass Jörg Mehlkorn, am 15. Mai gemeinsam mit anderen Patienten einen Ausflug nach Zittau unternommen hatte. Sie waren im Zirkus. Anhand der Liste können sie jedoch nicht erkennen, wann er wieder in der Klinik zurück war. Ehe sie mit ihm reden, versuchen die Ermittler mehr über diesen Mehlkorn zu erfahren. Sie ermitteln, dass Mehlkorn und Mißbach in der Vergangenheit stets gemeinsam Ausgang hatten. Auch am 14. Mai, dem Tag, an dem die junge Frau verschwand, waren beide erst um 20.10 Uhr wieder in der Klinik. Mehlkorn wollte sich an dem Tag einen Wohnberechtigungsschein für die Städte Löbau oder Bautzen besorgen, um später mit Ramona Junga zusammenwohnen zu können. Jörg Mehlkorn stammt aus Görlitz. Er hatte im Vorjahr seine Mutter getötet. Wegen seiner seelischen Erkrankung hatte das Gericht ihn für schuldunfähig erklärt. In Görlitz war Mehlkorn, laut der Aussage seiner Schwester, seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen worden. Bei der Vernehmung zeigen die Kriminalisten Mehlkorns Schwester auch den geblümten Rock, mit dem die Leiche geknebelt war. Und die Zeugin sagt: „Ist das nicht der Rock meiner Mutter?“ Sie erzählt, dass ihre Mutter einen ähnlichen Rock besaß. Ihre Kleidungsstücke wurden nach ihrem Tod allerdings alle entsorgt, so dass dies nicht mehr geprüft werden kann. Als Warnatsch der Frau erklärt, dass der vorgezeigte Rock handgenäht ist und offenbar in Heimarbeit entstand, ist sie sich dann sicher, dass das Kleidungsstück doch nicht ihrer Mutter gehören kann. „Nee, meine Mutter war nicht in der Lage, einen solchen Rock zu nähen“, sagt sie.

Die Mordkommission hütet diese Spur. Sie soll nicht „verbrennen“, das heißt, das Wissen um diese Spur soll nicht unnötig nach außen dringen. Sie kann ein wichtiges Indiz auf das Milieu des Täters sein. Die Ermittler wissen, dass der Rock weder Ramona, noch ihrer Mutter gehörte. Deswegen wird er nur denen gezeigt, die Auskunft über seine Herkunft geben könnten.


Der geblümte Rock. In der Altkleidersammlung aufgelesen, landete er im Kleiderschrank des Mörders und wurde eher zufällig zum wichtigsten Indiz in dem Fall.

Die Mordkommission weiß, dass auf Jörg Mehlkorn ein Moskwitsch 4082 zugelassen ist. Die Ermittlungen ergeben aber, dass das Auto im Sommer 1989 nach einer Fahrt in die damalige Tschechoslowakei dort stehen gelassen und danach nie wieder gefunden wurde. Somit war Mehlkorn nicht mehr richtig mobil.

In einem Arztzimmer sitzt Frank Nicolaus eines Tages Jörg Mehlkorn gegenüber und sagt zum ihm: „So, so, da sind Sie also schon eine ganze Weile hier.“ Jörg Mehlkorn zeigt sich sehr aufgeschlossen und mitteilsam. Von Ramonas Tod habe er von einem Mitpatienten in der Kantine erfahren. In der Zeitung habe gestanden, dass sie in einem Sack nahe einer Brücke in Bautzen gefunden wurde. Er habe Ramona bei einer Tanzveranstaltung im vergangenen Jahr hier im Krankenhaus kennen gelernt, so Mehlkorn. Beide hätten Gefallen aneinander gefunden und sich fortan täglich getroffen. Daraus sei eine Liebesbeziehung entstanden. In einer leerstehenden Hütte auf dem Klinikgelände hätten sie sich hin und wieder zu einem „Schäferstündchen“ getroffen – zuletzt habe er am Donnerstag vor Ramonas Entlassung mit der jungen Frau dort geschlafen. Einmal habe er ihr ein Paar Turnschuhe für 25 D-Mark, ein anderes Mal ein Niki-Pullover für neun D-Mark geschenkt. Geld habe er Ramona aber nie gegeben. Öfters war er mit ihr in verschiedenen Gaststätten in Großschweidnitz. Außerhalb des Ortes sei er mit Ramona nie gewesen.

Nicolaus will wissen, wann er Ramona zum letzten Mal gesehen hat.

Jörg Mehlkorn scheint auf diese Frage gewartet zu haben. „Das war an dem Sonnabend, als sie hier entlassen wurde. Früh gegen sieben habe ich sie zum Bus gebracht. Zum Abschied habe ich ihr noch drei Nelken geschenkt.“ Am Mittwoch habe sie wiederkommen wollen, mit dem Mittagsbus. Er habe auf sie gewartet, aber sie sei nicht gekommen. Mit ihm habe die ganze Zeit auch Rainer Mißbach gewartet. Dann seien sie in den „Sächsischen Hof “ und schließlich nach Löbau gelaufen, um dort um 15 Uhr die Vorstellung im Zirkus Arena zu besuchen. Im Zirkus seien sie drei anderen Patienten begegnet.

„Gegen sechs sind wir wieder mit dem Bus nach Großschweidnitz gefahren“, sagt Mehlkorn.

Der 37-jährige Mehlkorn beschreibt Ramona als etwas labil, aber trotzdem für alles zugänglich. Man könne mit ihr „Pferde stehlen“. Sie wäre stets lustig und zum Lachen aufgelegt gewesen. Aber sie konnte auch eigensinnig sein. Mehlkorn sagt, er habe zuweilen befürchtet, dass sie sich auch schnell mit einem anderen Mann einlassen könnte. Aber festgestellt hätte er so etwas nie. Ramona hatte ihm von ihrem kubanischen Freund erzählt und auch, dass ein anderer Freund aus Bautzen sie schon mal ins Gesicht geschlagen hatte.

Während Mehlkorn erzählt, bekommt Nicolaus einen Anruf von Warnatsch, der zur selben Zeit im Krankenhaus verschiedene Leute befragt, die auch im Zirkus waren. „Hör mal, Nici, der Rainer Mißbach behauptet, er habe am Tage, als er die Karten für den Zirkus besorgt hat, die Junga vormittags in Großschweidnitz getroffen und wäre dann mit ihr in einem Taxi nach Löbau gefahren. Die Junga sei dann von Löbau nach Bautzen zurück. Ich habe das überprüft. Mißbach könnte die Karten am 13., 14. oder noch am 15. Mai abgeholt haben. Das Datum weiß er nicht mehr.”

Nicolaus hält Jörg Mehlkorn das vor. Der verzieht sein Gesicht und sagt: „Das Einzige, was stimmen könnte, ist, dass Rainer die Zirkuskarten besorgt hat.“ Alles andere bezweifelt Mehlkorn. Rainer hätte nie Geld für ein Taxi gehabt. Der würde sich immer mal was zusammenspinnen.

*

Am nächsten Morgen, einem Freitag, klingelt früh das Telefon in der Morduntersuchungskommission. Am anderen Ende meldet sich der Stationsarzt aus Großschweidnitz, mit dem Nicolaus am Vortag gesprochen hatte. „Hören Sie, da hat doch Ihr Kollege gestern mit Rainer Mißbach gesprochen. Der Patient hat heute Morgen gegenüber dem Pflegepersonal völlig aufgelöst geäußert, dass er diese Ramona Junga umgebracht habe. Hat er Ihnen das gestern auch schon gesagt? Wissen Sie, jetzt sind wir hier alle sehr beunruhigt …“

Nicolaus läuft ein leichter Schauer über den Rücken. Sollte da wirklich was dran sein? Minuten später sitzen er und Warnatsch im Auto und fahren nach Großschweidnitz. Aber Mißbach ist wegen des ganzen Trubels hochgradig erregt und nicht vernehmungsfähig. Er weigert sich, seine Medikamente einzunehmen und will sich auch nicht in eine geschlossene Station verlegen lassen. Es stellt sich heraus, dass kein gerichtlicher Einweisungsbeschluss für Mißbach vorliegt. Er befindet sich freiwillig wegen einer Epilepsie-Behandlung im Krankenhaus. Mißbach kann erst nach fünf Tagen vernommen werden. Da ist er redselig und aufgeschlossen und erzählt, dass er von Ramonas Tod aus der „Sächsischen Zeitung“ erfahren hatte. Mißbach zeigt ein Polaroid-Foto, auf dem er mit Ramona Junga zu sehen ist. Eine Krankenschwester hatte es im April oder Mai 1991 in der Klinik aufgenommen. Alles, was er Warnatsch sechs Tage zuvor gesagt hatte, kann Mißbach nun nicht mehr einordnen, er verwechselt Personen und Wahrnehmungen, von denen er berichtet hatte. Nicolaus zieht die Stirn in Falten und fragt ihn: „Warum haben Sie dem Pflegepersonal gesagt, dass Sie Ramona Junga umgebracht haben? “

Mißbach fragt zurück: „Was soll ich gesagt haben?” Nicolaus: „Na, dass Sie Ramona Junga umgebracht haben.“

Mißbach: „Das habe ich nicht gesagt. Daran kann ich mich nicht erinnern.” Der Patient zeigt sich baff erstaunt.

Na prima, denkt Nicolaus und beeilt sich, das Gespräch zu beenden.

*

Es ist der 12. Juni 1991, ein Mittwoch, als plötzlich alles anders werden soll in der Dresdner Schießgasse. Hauptkommissar Weidig haut die „Sächsische Zeitung“ auf den Beratungstisch der Morduntersuchungskommission und sagt: „So, das war`s. Wenn ihr den Artikel über den künftigen öffentlichen Dienst lest, wisst ihr, dass ihr euren Krempel hier zusammenpacken könnt. Die hohe Politik will uns rausschmeißen.” Weidig ist stinksauer. Der Artikel informiert über 47 Personengruppen, die auf Grund ihrer Tätigkeit in der DDR künftig als ungeeignet für den öffentlichen Dienst gelten sollen. Auch alle Mitarbeiter der ehemaligen „K 2” sollen dazugehören. Das bedeutet, die Ermittler der Mord- und Branduntersuchungskommissionen des Dezernates 2 aus der DDR-Volkspolizei stehen auf einer „schwarzen Liste“. Die Kollegen diskutieren wild durcheinander. Die Stimmung ist am Boden. Wer soll dann hier Morde bearbeiten, wenn alle MUK-Leute entlassen sind?

Warnatsch, Schulze und Nicolaus fahren an diesem Tag nach Bautzen, um weiteren Hinweisen nachzugehen und schreiben danach ihre Berichte. Dann ruft Nicolaus in Dresden in der MUK an. „Nicolaus hier. Hallo, Gert. Weißt Du, was der Staatsanwalt von mir möchte?“

Am anderen Ende antwortet Gert Weidig mit schwerer Stimme: „Ach Nici, lass doch den Staatsanwalt. Komm nach Hause. Du bist entlassen.“

Nicolaus kennt diese Stimmlage seines Lehrmeisters vom Feierabendbier, das sie gelegentlich zusammen trinken. Der gute Kollege scheint einen getrunken zu haben. Und das mittags und im Dienst!

Weidig sagt: „Warte mal, ich gebe Dir jemanden, der sitzt mir gegenüber.” Es meldet sich eine Stimme. Nicolaus kennt sie.

„Hallo Herr Nicolaus. Ich grüße Sie. Tut mir alles furchtbar leid. Ich wünsche Ihnen trotzdem alles Gute.“ Dann wird die Verbindung unterbrochen.

Frank Nicolaus ist wie vom Donner gerührt und sagt: „Leute, wir müssen sofort nach Dresden zurück. Irgendwas ist passiert. Gert redet von Entlassung, und offenbar sitzt die „Bild“-Zeitung auf meinem Stuhl.“ Nicolaus hatte die Stimme eines „Bild“-Reporters am Telefon erkannt. Als sie in der Schießgasse eintreffen, wabert Alkoholdunst durch die Räume der MUK und keiner ist mehr da. Am nächsten Tag berichtet „Bild“ Dresden vom „Streik der Mordkommission“, bei dem aller Ärger im Napoleon-Cognac ertränkt wurde. Kripochef Bernd Nüßgen bekommt wegen des Alkoholexzesses seiner Mordkommission einen ordentlichen Rüffel und schrammt knapp an einer saftigen Bestrafung vorbei. Die Politik indes lenkt eilig ein und stellt klar, dass sie nicht die Absicht hat, die Mitarbeiter der Mordkommissionen zu entlassen. Bei der Überprüfung der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes werde jeder Einzelfall sorgfältig geprüft und nicht pauschal entschieden. Danach glätten sich die Wogen.

*

Im Juli 1991 erreicht die Mordkommission eine Information, die Nicolaus aufhorchen lässt. Sonnhild Walther und ihr Freund Robert Ziehmer waren in der Nacht zum 28. Juni von einer Polizeistreife im Gelände der Sero-Annahmestelle in der Zeppelinstraße gestellt worden. Sie hatten dort verwertbare Kleidungsstücke gesucht. Nicolaus schlägt vor, sich die Walther und vor allem den Ziehmer nochmals genauer anzusehen. „Die kramen da nachts in den Lumpen rum, dort wo unser Sack auch hergekommen sein könnte“, argumentiert er. Beide gelten im Mordfall Ramona Junga bisher als Zeugen. Nun wollen die Ermittler erreichen, dass sie sich in der Wohnung der beiden umsehen dürfen und ein paar Kopfhaare von ihnen bekommen – für einen Vergleich mit den Spuren an der Leiche und in dem „Leichensack“. All das geht nur mit dem Einverständnis der Zeugen.

 

Am 25. Juli wird das Pärchen fast zeitgleich vernommen. Sonnhild Walther wiederholt, was sie schon gesagt hat, ergänzt nichts und macht keine zusätzlichen Angaben. Sie habe Ramonas Mutter erst vor einigen Tagen getroffen. Der Mutter sei es unverständlich, dass die Polizei den Schubert hat wieder laufen lassen. Zur Sero-Annahme gehe sie mit ihrem Freund Robert nur wenn es dunkel ist, damit sie nicht gesehen werden. Dort hätten sie schon etliche brauchbare Sachen gefunden. Sonnhild Walther hat nichts dagegen, dass sich die Kripo in ihrer Wohnung umsehen möchte. Haare habe sie auch genug auf dem Kopf, um der Polizei ein paar überlassen zu können.

Frank Nicolaus knöpft sich Robert Ziehmer vor. Der verhält sich ruhig und beantwortet die Fragen eher wortkarg. Er ist seit Juli 1991 mit Sonnhild zusammen. Durch sie habe er Ramona Junga kennen gelernt, aber nur ein einziges Mal gesehen – damals in der alten Wohnung seiner Freundin. Von Ramonas Tod habe er von der Mutter des Opfers erfahren. Die hätte er mit Sonnhild zusammen in der Sparkasse getroffen. Er habe sich weniger Gedanken gemacht über den Mord an der jungen Frau. Aber Sonnhild hätte die nächste Nacht nicht schlafen können und habe keine Erklärung gefunden, wer hinter der Tat stecken könnte.

„Wie sieht es eigentlich mit Ihrem Alibi aus? Wissen Sie, was Sie vom 14. bis 16. Mai gemacht haben?“, fragt Nicolaus.

Ziehmer weiß, dass er am 14. Mai im Arbeitsamt war und abends mit Sonnhild in der Gartenkneipe „Erdenglück“, so bis gegen zehn Uhr. Das wisse er von Sonnhild, denn die hatte das schon früher der Polizei gesagt. Zum 15. und 16. Mai kann er keine Angaben machen.

Nicolaus fragt: „Wir wissen, dass Ramona Junga am 14. Mai nach 17 Uhr zu Ihrer Freundin Sonnhild gehen wollte. Ist sie bei Ihnen angekommen?“

Da rutscht Ziehmer auf seinem Stuhl nach vorn und sagt, er wisse von Ramonas Mutter und auch von Sonnhild, dass Ramona kommen wollte. „Es könnte sein, dass sie tatsächlich bei uns war. Wir waren aber nicht da. Es könnte auch sein, dass sie in der alten Wohnung von Sonnhild war.“

Klingt alles plausibel. Nicolaus kann Ziehmer nicht in Verlegenheit bringen und wechselt das Thema. „Was wollten Sie nachts in der Sero-Sammelstelle?” Ziehmer fällt es nicht schwer, sich selbst zu belasten, er räumt den versuchten Diebstahl sofort ein und erzählt, dass sie noch brauchbare Sachen suchen wollten. Ziehmer klagt, dass das Arbeitslosengeld nicht reiche. Am Tag bei Sero nachzufragen, sei ihnen aber peinlich gewesen. So seien sie nachts durch ein Loch im Zaun aufs Gelände gekommen. „Wir haben dort schon mehrmals Anoraks, Hosen und anderes in große Plastiksäcke gesteckt und mitgenommen“, sagt er.

„Haben Sie auch Stoffsäcke mitgenommen?“, fragt Nicolaus.

„Nein, haben wir nicht.“, antwortet Ziehmer.

Auch Sonnhilds Freund überlässt den Polizisten freiwillig ein paar seiner Kopfhaare und sagt nur: „Wenn es Ihnen weiterhilft.” Nicolaus zupft dem Zeugen einige Haare an verschiedenen Stellen vom Kopf. Der Zeuge lässt es über sich ergehen. Nicolaus hat ein eigenartiges Gefühl. Irgendwie ist dieser Ziehmer unnahbar.

Das Paar gestattet den Kriminalisten einen Blick in die Zwei-Raum-Wohnung direkt unter dem Dach des Mehrfamilienhauses in der Fabrikstraße. Sie ist mit teilweise abgenutzten und altmodischen Möbeln ausgestattet, macht aber einen ordentlichen und sauberen Eindruck. Die Oberkommissare Thomas Günther und Frank Nicolaus dürfen sich in allen Räumen einen Eindruck verschaffen. Sie suchen nach Besonderheiten. Was ihnen auffällt, dürfen sie nur in Augenschein nehmen. Schon wenn sie einen Schrank öffnen möchten, brauchen sie in diesem Fall die Zustimmung der Wohnungsbesitzer. So bleibt ihr Eindruck unvollständig. Auf dem Hausboden finden sie einen braunschwarzen Kunststoffsack mit ausrangiertem Hausrat. Er stamme von der Sero-Stelle, sagen die Zeugen. Andere Säcke sind nicht zu finden.

*

Das Jahr 1992 ist bereits eineinhalb Monate alt. Das Bezirkskriminalamt Dresden trägt seit dem 1. Juli 1991 die Bezeichnung Landespolizeidirektion Dresden, die Mordkommission ist quasi aufgelöst. Ihr Personalbestand, soweit noch vorhanden, ist in das neue Dezernat Sonderfälle/Umwelt integriert. Leiter des Dezernates ist Kriminalhauptkommissar Christian Krebs. Frank Nicolaus hat am 17. Februar 1992 Leitungsdienst, einem Montag, und muss zum morgendlichen Rapport beim Chef der Kripo, Kriminalrat Bernd Nüßgen. Der verliest die Kurzberichte der schweren Straftaten vom vergangenen Wochenende im Regierungsbezirk Dresden. Nicolaus ist mit seinen Gedanken woanders. Seit Dezember hat er den ungeklärten Dreifachmord an der türkischen Familie Bildik in Dresden auf dem Tisch. Die jungen Eheleute und ihre vierjährige Tochter wurden wenige Tage vor Weihnachten auf brutalste Weise ermordet, und Nicolaus kommt bei der Aufklärung nicht voran. So hört er an diesem Morgen halb im Unterbewusstsein, wie Bernd Nüßgen von einer schweren Vergewaltigung in Bautzen berichtet und sagt: „Ein gewisser Robert Zieger hat im Keller seines Wohnhauses in der Fabrikstraße die 83 Jahre alte Käthe Mehnert vergewaltigt. Böse Geschichte.“

Als Nicolaus den Namen hört, verfliegen seine Gedanken an den Bildik-Mord und er fällt seinem Chef, noch immer halb abwesend, ins Wort: „Der heißt nicht Zieger, sondern Ziehmer.” Nicolaus ahnt sofort, da liegt ein Schreibfehler vor.

„Hier steht Zieger”, sagt der Chef, klopft mit dem Zeigefinger auf den Lagebericht und fragt: „Wieso Ziehmer? Kennst Du den?“

„Na und ob. Weißt Du nicht, wer das ist?“

Als Kripochef kennt Nüßgen natürlich nicht jede Einzelheit aus den vielen Vorgängen seiner Mitarbeiter. Nicolaus berichtet kurz über Robert Ziehmers Rolle in der Mordsache Junga.

„Dann hakt da nach“, ordnet Nüßgen an.

Im Mordfall Ramona Junga halten Günther Warnatsch und Jens Dörfel zu dieser Zeit die Fäden in der Hand. Sie beschaffen die Informationen zu der Bautzener Vergewaltigung und erfahren, dass der Verdächtige tatsächlich Robert Ziehmer ist. Am nächsten Tag klingeln Warnatsch und Dörfel gegen Mittag an Ziehmers Wohnungstür und treffen Sonnhild Walther an. Sie bitten sie, mit in die Kripo-Dienststelle Bautzen zu kommen. Sonnhild Walther ist einverstanden, denn sie ist jetzt richtig wütend auf ihren Freund. Was er ihr angetan habe, schimpft sie. „Na, und der alten Frau erst.“ Sie begreift nicht, was im Kopf ihres Lebenspartners vorgegangen ist. Sie selbst sei Robert gegenüber nie abweisend gewesen, sagt Sonnhild. Und abartige Neigungen beim Sex habe sie bei ihm nie festgestellt.

Sonnhild Walther erzählt den Kriminalisten, wie sie Robert im Juni 1990 kennen lernte. Damals wohnten sie in der gleichen Straße, nur eine Hausnummer voneinander entfernt. Ende April 1991 gab sie ihre Wohnung auf und zog zu ihm. Bis Februar 1991 hatten beide als Reinigungskräfte im Arbeitsamt und beim Rat der Stadt Bautzen gearbeitet. Danach waren sie ohne Arbeit, und es begann der Müßiggang.

Warnatsch will wissen, ob Sonnhild sich vorstellen kann, dass ihr Freund noch andere schwere Straftaten begangen haben könnte. Er schaut die Zeugin durchdringend an. „Nein. Ich liebe meinen Freund“, entgegnet sie. Warnatsch sagt ihr, dass er damit den Mord an Ramona Junga meint. „Nein, dass würde ich ihm nicht zutrauen“, sagt sie wieder. Sie glaube nicht, dass ihr Freund Ramona nach der einen Begegnung in ihrer Wohnung jemals wieder getroffen hat. Warnatsch holt einen durchsichtigen Plastikbeutel aus seiner Tasche. Darin befindet sich die Spur 2 im Mordfall Junga – der geblümte Rock. „Sehen Sie sich das mal an!“

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