Germanien

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Aus der Reihe: Britannien #1
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Germanien
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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Vorspann

Beginn der Völkerwanderung

Völkerwanderung bis 388

Anno Domini 388

Der Bär

Gefangen

Irgendwo in Osteuropa

In der Wildnis

Das Leben in Gernots Dorf

Das Sommerfest

Vetera I

In der fremden Stadt

Herbstjagd

Jul

Frühjahr

Die Reise nach Colonia Ulpia Trajana

Kurzdarstellung der germanischen Mythologie

Das Weltbild der Germanen

Die wichtigsten Götter

Die wichtigsten Göttinnen

Die Götter und die Menschen

Fenriswolf und Midgardschlange

Vorwort

Die Idee, ein Buch über die Eroberung der britischen Insel durch die Angelsachsen zu schreiben, kam mir bei der Lektüre der vielen Erzählungen und Romane über den legendären König Arthus und seinen Kampf gegen die angelsächsischen Eindringlinge. In den meisten dieser Romane wird immer wieder das Bild gezeichnet, dass ich auch aus dem Geschichtsunterricht kannte und dass auch in der überlieferten Klage der Britonen an den römischen Statthalter Flavius Aetius zum Ausdruck kommt:

„Die Barbaren drängen uns ins Meer, das Meer drängt uns zu den Barbaren zurück; eine der beiden Todesarten, das Ertrinken oder das Erschlagen Werden wird uns ereilen.“

Dieser Überlieferung zufolge sollen die Britonen um das Jahr 450 herum die Angelsachsen zu Hilfe gerufen haben, weil sie diese bei ihrem Kampf gegen die in ihr Land eingefallenen Pikten und Scoten zur Unterstützung brauchten.

Warum sie ausgerechnet die Sachsen und Angeln um Hilfe baten, ob es bereits aus der Römerzeit gegenseitige Kontakte gab, ob man sich gegenseitig kannte, wird in diesen Darstellungen nicht erwähnt.

Die Angelsachsen besiegten die Pikten und Scoten, wandten ihre Waffen dann aber gegen ihre Auftraggeber und eroberten deren Land, bis auf das heutige Cornwell und Wales. Wobei sie sehr brutal vorgingen und die Britonen aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben und nach Wales und Cornwell abdrängten. Ein Teil der Britonen wanderte daraufhin in die heutige Bretagne ab.

Ich wollte ein Buch schreiben, das die Vorgänge einmal aus der Sicht der Angelsachsen schildern sollte.

Als ich aber anfing zu recherchieren und tiefer zu graben, stieß ich auf Erstaunliches:

Britische Archäologen hatten bei Ausgrabungen alter sächsischer Siedlungen festgestellt, dass die ersten Sachsen schon erheblich früher, fast 100 Jahre früher, als bisher angenommen, nach England gekommen sein mussten.

Bei DNA-Untersuchung von Skeletten, die man in sächsischen Gräbern fand, stellte man erstaunt fest, dass es sich bei den Toten um Britonen handelte.

Bei Genuntersuchungen der britischen Bevölkerung hatte man festgestellt, dass etwa die Hälfte der Engländer angelsächsische Gene haben. Dagegen hatten stichprobenartige Vergleiche der Gene der englischen Bevölkerung mit denen der Bevölkerung Niedersachsens in Deutschland, wo die Sachsen ja hergekommen sein sollen, ergeben, dass nur ein geringer Prozentsatz der Gene der Engländer mit denen der Niedersachsen übereinstimmte.

An der herkömmlichen Sichtweise der Ereignisse von damals konnte also irgendetwas nicht stimmen.

Wenn die ersten Sachsen nicht erst um 450, sondern bereits Mitte des 4. Jahrhunderts nach Britannien gekommen waren, dann folglich zu einer Zeit, als die Römer noch in Britannien herrschten.

Sie können demnach nur als römische Soldaten oder als Föderaten nach Britannien gekommen sein.

Nun war es in der Spätantike durchaus gängige römische Praxis, in ihr Gebiet eingedrungene germanische Völker oder Gruppen, als Föderaten, also Verbündete, anzusiedeln. Dabei handelte es sich aber fast immer um ganze Völker oder große Gruppen, die geschlossen angesiedelt wurden. Von solchen Ansiedlungen der Sachsen in Britannien ist aber aus römischen Quellen nichts bekannt.

Dagegen sind solche Ansiedlungen sächsischer Gruppen aus dem Norden Galliens durch römische Quellen seit dem Ende des 3. Jahrhunderts überliefert.

Hatten sich also die Römer für Britannien etwas anderes einfallen lassen? Etwa die Ansiedlung einzelner sächsischer Krieger oder Sippen, die, umgeben von Britonen, in britonischen Siedlungen lebten und als Föderaten oder Grenztruppen Dienst taten.

Sozusagen Land gegen Kriegsdienste eingetauscht?

Wenn in sächsischen Gräbern auch britonische Skelette lagen, dann kann das nur bedeuten, dass die Britonen in manchen Gebieten die Bräuche der Sachsen angenommen hatten.

Wenn der Vergleich der Gene eine so geringe Übereinstimmung mit den Menschen in Niedersachsen ergeben hat, dann sollte man dies aber nicht überbewerten, denn auch in Niedersachsen hat es in den vergangenen eintausendfünfhundert Jahren Bevölkerungsbewegungen und Verschiebungen gegeben. Zudem könnten ganze Teilstämme der Sachsen übergesiedelt sein (z. B. die Angeln), sodass ihre Genspuren im heutigen Niedersachsen verschwunden sind.

Doch könnte das zumindest darauf hindeuten, dass die Zahl der Invasoren, im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung, relativ gering gewesen war.

Das lässt sich noch damit erklären, dass es vorwiegend junge, abenteuerlustige Männer gewesen waren, die sich in Britannien dann oft einheimische Frauen nahmen.

Wie konnten sie aber dann ganz England erobern?

Daraus kann man nur schließen, dass die Sachsen anfangs friedlich mit den Britonen zusammengelebt haben müssen und sich bereits sehr früh große Teile der britonischen Bevölkerung mit den Neuankömmlingen verbündeten, ihre Sitten und Gebräuche annahmen, und sich mit ihnen vermischten.

Aber was veranlasste sie dazu und wie ging das vonstatten?

Die Bevölkerungszahl in Britannien gegen Ende der Römerzeit wird von Historikern auf ca. zwei Millionen Menschen geschätzt, die Zahl der angelsächsischen Einwanderer, im gesamten Einwanderungszeitraum von mehr als einhundert Jahren, auf etwa 200.000.

Die nächste Frage war, wenn denn die ersten Angelsachsen als römische Soldaten nach Britannien kamen, in welchen Einheiten die Sachsen ihren Militärdienst bei den Römern versahen, wenn sie es denn taten?

In der Notitia Dignitatum finden sich keine Hinweise auf sächsischen Truppen in Britannien.

Dagegen erwähnen andere römischen Quellen, dass die sächsischen Söldner in römischen Diensten als tapfere Soldaten und kühne Seefahrer galten.

Wenn sie als kühne Seefahrer in römischen Diensten galten, so kann dies nur bedeuten, dass sie in der römischen Marine Dienst taten.

In römischen Quellen wird die Classis Britannica, die römische Marine in Britannien, häufig erwähnt. Aber bis heute ist nicht genau geklärt, über welche Schiffseinheiten sie überhaupt verfügte und wo, in welchen Häfen und Kastellen, sie in der Spätantike stationiert war. Genauso, wie so gut wie nichts über die Soldaten dieser Marine überliefert ist.


Der generelle Aufbau der römischen Marine ist dagegen, aufgrund von historischen Berichten, einigermaßen bekannt. Auch, dass die Kampftruppen an Bord der Schiffe zwar waffentechnisch ähnlich ausgerüstet waren wie die Landtruppen, aber eine Spezialausbildung absolvieren mussten, also eine Art Marineinfanterie darstellten.

Auch der Begriff Litoris Saxonici (Sachsenküste) für die britannische Süd-und Südostküste ist zweideutig.

Er kann einerseits als „von den sächsischen Piraten heimgesuchte Küste“ gedeutet werden, andererseits aber auch als „von den Sachsen bewohnte Küste“ ausgelegt werden.

Es gibt aber nur für die nordgallische Küste römische Quellen, die von einer solchen Ansiedlung sächsischer Föderaten sprechen, nicht für die britannische.

Dafür sprechen nur die Ausgrabungen der britischen Archäologen, welche die ersten sächsischen Siedlungen sehr viel früher datieren, als bisher angenommen.

 

Also entschloss ich mich, die Sachsen in meinem Roman bei der römischen Marineinfanterie anzusiedeln. Ich gebe ihnen einen Status, der irgendwo zwischen den Grenztruppen, den Limitanei und den mobilen Feldtruppen, den Comitatenses, liegt.

Die Limitanei waren ortsgebundene Grenztruppen, vielfach auch vor Ort durch Heirat mit Einheimischen verwurzelt, und gingen aufgrund ihrer geringen Besoldung oft noch einer zweiten Beschäftigung nach; die meisten waren nebenher noch Bauern.

Dies würde für einen solchen Status der angeworbenen sächsischen Truppen sprechen, denn viele Historiker sind der Meinung, dass beim Abzug der römischen Armee aus Britannien nur das mobile Feldheer die Insel verließ, nicht aber die Grenztruppen.

Ich verwende bei den germanischen Namen die heute in Deutschland üblichen Formen dieser Namen, um sie für die Leser verständlicher zu machen und um Zungenbrecher beim Lesen zu vermeiden.

Vorab, und auch vor neuen Zeitabschnitten oder am Beginn neuer Bücher, habe ich für den interessierten Leser einige Informationen über die Völkerwanderung zusammengestellt. Denn gerade in der Spätantike war die Insel niemals wirklich isoliert. Bedeutende Ereignisse auf dem europäischen Festland hatten immer Auswirkungen auf die Ereignisse und das Geschehen auf der Insel.

Vorspann
Beginn der Völkerwanderung

Im zweiten Jahrhundert n. Chr. brachen die Goten, die ursprünglich aus Skandinavien kamen, aus ihrem damaligen Siedlungsgebiet an der Weichsel nach Süden auf, in Richtung des Schwarzen Meeres. Sie lösten damit eine erst große Wanderbewegung bei den germanischen Stämmen im Osten Europas aus, weil sie die Vandalen und Markomannen nach Südwesten und die Burgunder nach Westen abdrängten. Die Bewegung der Markomannen löste die Markomannen Kriege aus, in denen das Römische Reich den Ansturm der Germanen aber noch einmal abwehren konnte.

Etwa um 290 n. Chr. teilten sich die Goten in Ost- und Westgoten. Die Ostgoten siedelten im Raum der heutigen Ukraine, die Westgoten in etwa im Gebiet des heutigen Rumänien.

Zeitgleich mit den Goten machten sich auch die Langobarden auf, von der Unterelbe in Richtung Mähren und Pannonien.

Während der Krise des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert durchbrachen die Alemannen den Limes und ließen sich nach einem langen Plünderungszug zwischen 260 und 280 n. Chr. etwa im Raum zwischen Rhein und Donau, in etwa dem heutigen Baden-Württemberg, nieder. Ende des 3. Jahrhunderts erkannte Rom diesen Zustand mehr oder weniger an.

Im Süden überschritten die Juthungen die Donau, wurden aber nach einem Plünderungs-zug geschlagen und über die Donau zurück-getrieben.

260 n. Chr. gaben die Römer den Limes

als Grenze zu Germanien auf.

Um 290 ließen sich die Burgunder im Raum zwischen Neckar und Taunus nieder.

Im Norden überschritten die Franken den Niederrhein und drangen plündernd in Nordgallien ein. Bei dieser Gelegenheit überrannten sie auch Ende des 3. Jahrhunderts die Stadt Colonia Ulpia Trajana (das heutige Xanten).

Der römische Kaiser Julian wies ihnen im Jahr 358 n. Chr. die Region Toxandria als Siedlungsgebiet zu und gab ihnen den Status von Föderati (Verbündete). Sie sollten die Nordgrenze Galliens, also den Niederrhein, verteidigen. Sie blieben aber unruhig und dehnten ihr Gebiet ständig weiter aus.

Colonia Ulpia Trajana wurde gleich zu Beginn des 4. Jahrhunderts zurückerobert und die Stadt, wenn auch verkleinert und mit sehr viel stärkeren Mauern, wiederaufgebaut.

Dann kam die Bewegung der Germanen zunächst für einige Zeit zum Stillstand.

Völkerwanderung bis 388

350 bis 353

Bei den Römern herrscht3 mal wieder Bürgerkrieg. Im westlichen Teil hatte sich Flavius Magnus Magnentius zum Gegenkaiser im Westen ausrufen lassen und lieferte sich mit dem oströmischen Kaiser Constantinus II blutige und verlustreiche Schlachten. Constantinus siegte zwar, aber diese Kämpfe Römer gegen Römer nutzen

351 die Franken und Alemannen zu einem gemeinsamen Durchbruch der Rheingrenze und ausgedehnten Plünderungszügen in Gallien.

359 Krieg zwischen Burgundern und Alemannen.

367/370

Bündnis der Burgunder mit Kaiser Valentinian II gegen die Alemannen. Zum Kampf kam es aber nicht, weil der Kaiser aus Angst vor den vielen germanischen Kriegern hatte und den geplanten Feldzug absagte.

Im Jahr 374 waren, aus Zentralasien kommend, die Hunnen im Osten Europas aufgetaucht. In diesem Jahr besiegten sie auf ihrem Weg nach Westen die nördlich des Kaukasus lebenden Alanen und zwangen sie zur Gefolgschaft.

375 bereits ein Jahr später besiegten sie das Heer der Ostgoten und zwangen sie ebenfalls zur Gefolgschaft.

Ein Teil der Ostgoten wich nach Süden auf die Krim aus, wo sie sich bis ins hohe Mittelalter hielten.

Kurze Zeit später ließen sich die Hunnen im Gebiet des heutigen Ungarn nieder, und zerfielen in kleine Gruppen, die Raubzüge in fast ganz Europa unternahmen.

376 wichen die Westgoten vor den Hunnen aus und baten den oströmischen Kaiser Valens um Schutz und Siedlungsgebiet im Römischen Reich. Der gestattete ihnen, sich südlich der Donau anzusiedeln.

378 erhoben sich die Westgoten und besiegten in der Schlacht bei Adrianopel das oströmische Heer. Kaiser Valens fiel in dieser Schlacht.

382 schloss sein Nachfolger, Kaiser Theodosios I, Frieden mit ihnen und siedelte sie als Föderaten in Mösien und Thrakien an.


383 wieder herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände im Weströmischen Reich. In Britannien riefen die Truppen Flavius Magnus Maximus zum Kaiser gegen den weströmischen Kaiser Gratian aus, dem Bruder von Valentinian.

Maximus setzte mit seinen Truppen nach Gallien über, wo Gratians Soldaten zu ihm überliefen. Gratian wurde ermordet.

387 zog Maximus große Truppenverbände aus Gallien ab und verjagte seinen weströmischen Mitkaiser Valentinian II, der zu seinem Schwager Theodosios I nach Konstantinopel floh.

Theodosios kam seinem Schwager zu Hilfe und schlug Maximus in zwei Schlachten. (Wieder Römer gegen Römer) Maximus wurde ermordet.

387/388

Diese Situation nutzten die Franken für Gebietserweiterungen und ausgiebige Überfälle in Gallien.

388 führten die Römer eine Strafaktion gegen die Franken.

Der Ansturm der Hunnen und ihre Plünderungszüge durch Mitteleuropa einerseits und die innere Schwäche der Römer durch ständige Kämpfe untereinander, andererseits, veranlassten viele germanische Völker zu dem Entschluss, ins römische Westreich einzudringen.

Anno Domini 388

In diesem Frühjahr brach ein großer Heerhaufen der Hunnen vom Unterlauf der Donau zu einem ausgedehnten Raubzug nach Westen auf. Sie folgten der Donau flussaufwärts. Für eine Konfrontation mit der römischen Armee waren sie nicht stark genug, deshalb hielten sie sich immer am nördlichen Ufer auf, umgingen größere befestigte Städte und Garnisonen, überfielen aber alle kleinen Orte und Siedlungen auf ihrem Weg nach Westen.

Trotz ihrer Schnelligkeit eilte die Warnung vor ihrem Kommen ihnen voraus und am Oberlauf der Donau und am Neckar stießen sie zuerst bei den Alemannen und, als sie nach Norden abbogen, auch am Main bei den Burgundern auf heftigen Widerstand.

Deshalb schwenkten sie weiter nach Norden ab, ritten zwischen dem Vogelsberg und der Rhön hindurch und wandten sich dann nach Nordwesten.

Am südöstlichen Ende des Teutoburger Waldes erreichten sie das Siedlungsgebiet der Cherusker, die sich mit anderen Stämmen zum starken Stammesverband der Sachsen zusammengeschlossen hatten.

Hier teilten sie sich in kleinere Gruppen von 100 bis 200 Mann auf. In diesem Gebiet mussten sie mit keinen großen befestigten Siedlungen mehr rechnen, die sich durch die Zahl ihrer Krieger erfolgreich wehren konnten. Bis hierher waren auch die Warnungen vor ihrem Kommen noch nicht gedrungen. So konnten sie das Überraschungsmoment nutzen, kleine Ansiedlungen überfallen und schnell wieder fort sein, bevor die sächsischen Gaue ihre Abwehr organisieren konnten.

Ihr Ziel war die Erbeutung von jungen blonden Sklaven, vorzugsweise Mädchen, für die die Sklavenhändler aus Konstantinopel sehr gute Preise zahlten.

Wenige Tage später hasteten zwei Kinder, ein Junge von etwa 13 Jahren und ein Mädchen von 11 Jahren, allein durch den Wald. Sie waren auf der Flucht. Astolf war groß für sein Alter und fühlte sich mit seinen dreizehn Jahren schon fast wie ein erwachsener Mann. Viele Leute hielten ihn für mindestens zwei Jahre älter als er war. Er hatte hellbraunes Haar, blaue Augen und war von schlanker kräftiger Gestalt. Gudrun war zierlich, hatte die gleichen blauen Augen, aber hellblondes Haar.

An diesem Morgen waren sie aufgebrochen, um auf einer Waldlichtung in der Nähe ihres Dorfes die ersten Blaubeeren dieses Frühsommers zu sammeln. Ihr Dorf lag auf einer sehr großen Lichtung im Wald am äußersten Oberlauf des Flusses Ems. Ein kleiner Bach mündete hier in die Ems. Das Dorf war klein. Nur ein gutes Dutzend Häuser standen locker verteilt auf der Lichtung, die die Dorfgemeinschaft durch Rodung immer mehr erweiterte, um mehr Ackerland zu erhalten. Irgendeine Schutzvorrichtung gegen Angriffe von Feinden, wie eine Palisade, gab es nicht.

Die Bewohner fühlten sich im Schutz der das Dorf umgebenden Wälder sicher.

Gudrun trug einen großen Korb. Astolf trug ebenfalls einen Korb und hatte noch zusätzlich seinen Bogen mit 6 Pfeilen mitgenommen, den ihm sein Vater im letzten Winter gebaut hatte, weil er mit ihm üben wollte. Ohne seine Gürteltasche, in der sich einige Dinge befanden, die er für notwendig hielt und dem Messer, das ihm sein Onkel Radolf, der Bruder seiner Mutter, im letzten Jahr geschenkt hatte, ging er ohnehin nie aus dem Haus.

Ihre Mutter hatte ihnen zwei kleine Brote mitgegeben und wollte später mit ihrer kleinen Schwester Inge zu der Lichtung nachkommen, wenn sie einige Dinge im Haus erledigt hatte.

Der Vater war schon im Morgengrauen aufgebrochen, um auf nahe gelegenen Waldlichtungen nach den Kühen, Schafen und Ziegen zu sehen.

Ihr Vater war der angesehenste Mann ihres Dorfes. In Kriegszeiten führte er die waffenfähigen freien Männer des Dorfes in den Kampf, in Friedenszeiten leitete er das Thing und war für die Ausrichtung der Feiern wie die Sonnenwendfeiern, verantwortlich.

An diesem Tag war er schon im Morgengrauen mit den Ochsen und dem Pflug und ihrem Nachbarn zum Pflügen auf eine andere Lichtung im Wald aufgebrochen.


Der Tag hatte als klarer und schöner Frühsommertag begonnen.

Die Wiesen rund um die Häuser des Dorfes standen in voller Blüte und es duftete nach Heu und Sommer.

Bereits jetzt am Morgen war es schon sehr warm. Es würde ein heißer Tag werden und deshalb waren sie froh, als sie den kühlen Rand des Waldes erreichten.

Kaum aber waren die beiden Kinder im Wald eingetaucht, als hinter ihnen das Unheil über ihr Dorf hereinbrach:

Etwa 100 Reiter auf kleinen Pferden fielen über das Dorf her und schossen mit Pfeilen auf jeden Dorfbewohner, der sich sehen ließ. Anschließend stiegen sie von den Pferden und rannten in die Häuser.

Starr vor Entsetzen sahen die Kinder aus dem Halbdunkel des Waldes mit an, wie ihre Nachbarn und Freunde starben. Einige Männer versuchten einen Widerstand zu organisieren und zu kämpfen, aber sie waren für einen Kampf weder gerüstet, noch hatten sie gegen die Übermacht der Angreifer eine Chance.

 

Die Angreifer begannen, junge Frauen und Kinder aus den Häusern zu zerren und dann das Dorf systematisch zu durchsuchen.

Ihr Vater hatte den Kindern immer wieder eingeschärft: “Wenn Feinde das Dorf angreifen, dann lauft in den Wald und versteckt euch! Astolf, du passt auf deine Schwester auf.“


Also nahm Astolf seine kleinere Schwester bei der Hand und rannte mit ihr tiefer in den Wald hinein.

Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie hinter sich lautes Keuchen, rennende Schritte und durch den Waldboden gedämmten Hufschlag hörten. Astolf deutete, ohne ein Wort zu sagen, auf eine vor ihnen stehende Eiche mit tief herabhängenden Zweigen, hob Gudrun auf einen der unteren Äste und kletterte hinterher. Sie versteckten sich auf einem der unteren Äste im dichten Laub des Baumes.

Sie waren gerade eben im Baum verschwunden, als Frida, eine junge Frau aus ihrem Dorf, auf ihren Baum zu gerannt kam, dicht gefolgt von einem der fremden Reiter. Frida hatte, um besser laufen zu können, ihre Röcke weit nach oben geschürzt, hielt sie mit beiden Händen fest und lief, so schnell sie konnte, um ihr Leben.

Aber das wendige kleine Pferd des fremden Reiters war sehr viel schneller. Genau unter ihrer Eiche warf sich der Fremde vom Pferd direkt auf Frida und riss sie zu Boden. Sie zappelte und wehrte sich verzweifelt, als ihr der Fremde die Röcke weiter hochzuschieben begann. Als er ihr eine kräftige Ohrfeige gab, zog Frida die Beine an, trat ihm mit beiden Füssen in den Bauch und schleuderte ihn so von sich. Mit einem verblüfften Schmerzenslaut fiel der Fremde hintenüber auf seinen Hintern.

Aber sofort, noch bevor Frida sich aufrappeln und weiter fliehen konnte, war er mit einem wütenden Schrei wieder auf den Beinen, griff mit einer schnellen Bewegung an seinen Gürtel, riss einen Dolch heraus, hieb ihn Frieda an den Hals und durchschnitt ihre linke Halsschlagader. Dann warf er sich wieder auf sie. Frida verblutete, während der Fremde sie vergewaltigte.

Das Ganze war so überraschend schnell gegangen, dass die Kinder im Baum noch nicht einmal einen Schreckensschrei hatten ausstoßen können, und nur starr vor Schrecken nach unten sehen konnten. Gudrun biss sich, mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen, in den linken Unterarm, um nicht laut zu schreien.

Astolf dagegen fühlte sich auf einmal gar nicht mehr wie ein bald erwachsener Mann, sondern wieder wie ein hilfloser kleiner Junge. Sein Vater hatte zwar bereits vor Jahren damit begonnen, ihm die Grundzüge des Kämpfens beizubringen:

Wie man mit einem Schwert und einem Speer im Krieg umgehen musste,

wie man sich mit einem Schild im Kampf decken musste,

wie man mit Pfeil und Bogen umgehen sollte.

Aber er hatte geglaubt, noch viel Zeit zu haben und bisher nur die Grundzüge gelernt.

Außerdem hatte er weder ein Schwert, noch einen Speer bei sich, nur seinen Jagdbogen. Er war doch nur ein Junge, war noch nie auf einem Kriegszug mit gewesen, hatte noch keinerlei Erfahrung, wie man kämpft, und schon gar nicht gegen einen so schnell reagierenden ausgewachsenen Mann, wie den Fremden dort unten.

Hilflos und vor Angst fast unfähig, sich zu bewegen, musste er mit ansehen, wie unter ihrem Baum Frida starb.

Während Frida unter ihrem Baum unaufhaltsam verblutete, begann sich aber sein Gefühl der Hilflosigkeit in Wut auf den brutalen Fremden zu verwandeln. Eine Zeit lang kämpfte die Angst gegen die und Wut und beide gegeneinander.

Die Wut siegte.

Ganz allmählich wich seine Angst einem eiskalten Zorn.

Vorsichtig, um ja kein verräterisches Geräusch zu machen, griff er in seinen Köcher, holte einen der Pfeile heraus und legte ihn auf die Sehne. Es war ein Jagdpfeil mit einer flachen sehr scharf geschliffenen eisernen Spitze, aber ohne Widerhaken. Leise spannte er den Bogen und zog die Sehne bis zu seinem rechten Ohr durch.

Wieder war die Angst da.

Wenn er jetzt nicht richtig traf, waren auch Gudrun und er verloren. Dieser Fremde dort unten würde spielend leicht mit ihm fertig werden und was dann Gudrun blühte, hatte er eben bei Frida gesehen.

Auf einmal spürte er innerlich, wie die Angst einer eiskalten Ruhe und Sicherheit wich. Er zielte sorgfältig. Auf diese kurze Entfernung konnte er eigentlich nicht danebenschießen und tat es auch nicht. Der Pfeil bohrte sich mit einem leisen ekelhaften „Plopp“ in den Nacken des Fremden.

Der stieß einen kurzen, schrill gurgelnden Schrei aus, griff sich an die Kehle und sackte dann über Frida zusammen.

„Komm“, sagte Astolf leise zu Gudrun. „Hier können wir nicht bleiben. Sie würden uns finden.“

Er hatte plötzlich keine Angst mehr, sondern fühlte eine Ruhe und Sicherheit, die er bisher an sich noch nicht kannte.

Der Fremde war tot.

Woher er das Wissen und die Kraft nahm, jetzt sicher und zielstrebig zu handeln, wusste er nicht. Es kam einfach irgendwie aus ihm heraus.

Er kletterte vom Baum hinunter und eilte die drei Schritte zu dem Fremden, stellte seinen Fuß in dessen Nacken und riss den Pfeil heraus.

Dann bückte er sich und tastete an Fridas Hüfte nach deren Küchenmesser. Als er es endlich fand, zerrte es aus der Scheide und stieß es dem Fremden so in die Pfeilwunde, dass die Spitze an dessen Kehle wieder heraustrat. Danach drückte er Fridas leblose rechte Hand um den Griff des blutverschmierten Messers, nahm Gudrun wieder bei der Hand und rannte mit ihr los.

„Warum hast du das getan?“ keuchte Gudrun während des Laufens.

„Was, den Fremden getötet?“

„Nein, ich meine das mit Fridas Messer.“

„Der Fremde war einer von den Reitern, die unser Dorf überfallen haben. Wenn er nicht wieder zurückkommt, werden seine Leute nach ihm suchen. Wenn sie ihn mit einer Pfeilwunde im Nacken finden, dann wissen sie, dass hier noch jemand ist, und werden auch nach uns suchen. So hoffe ich, dass sie glauben, Frida hätte sich so verzweifelt gewehrt und ihn getötet.“

Am Rande der Blaubeerenlichtung war ein Windbruch mit einem Hohlraum, den sie schon oft beim Spielen als Versteck genutzt hatten. Zu diesem liefen sie jetzt, krochen hinein und versuchten ihren keuchenden Atem zu unterdrücken.

Aus der Richtung ihres Dorfes konnten sie noch eine lange Zeit Lärm hören: Rufe in einer fremden Sprache und Schreie der letzten Dorfbewohner. Dann trat Stille ein.

Wieder hörten sie Hufschlag ganz in ihrer Nähe und Rufe der fremden Reiter. Offensichtlich suchten diese nach dem Mann, den Astolf getötet hatte und nach weiteren Entflohenen.

Aufgeregte Rufe und Stimmengewirr verkündeten ihnen, dass sie den Fremden gefunden hatten. Dann erklang Gelächter, das sich irgendwie höhnisch und schadenfroh anhörte. Nach einer Weile entfernten sich die Hufschläge wieder. Die Reiter hatten offenbar keine große Lust, intensiv nach Entflohenen zu suchen und Astolfs List ging offensichtlich auf. Vom Dorf her war jetzt nur noch das Johlen der Fremden zu hören.

Dann – nach einer Weile - das immer leiser werdende Donnern einer sich entfernenden großen Reitergruppe.

Lange Zeit blieben die Kinder, eng aneinandergedrückt, in ihrer Höhle hocken. Sie zitterten vor Angst und Schrecken über das eben Erlebte. Als sie hörten, dass sie fremden Reiter davonritten, blieben sie noch eine Weile in dem Windbruch hocken. Aber sie konnten nicht auf ewig hier bleiben. Sie wollten vor allen Dingen wissen, ob außer ihnen noch jemand diesen Überfall überlebt hatte und ob ihre Eltern noch am Leben waren.

Langsam überwanden sie ihre Angst. Vorsichtig und leise krochen sie aus dem Windbruch hinaus.

Sofort nahmen sie Brandgeruch war. Astolf legte sicherheitshalber einen Pfeil auf die Sehne und spannte seinen Bogen ein wenig. So schlichen sie den Weg, den sie vorhin gerannt waren, zurück ins Dorf. Jetzt bemerkten sie neben dem Brandgeruch auch die Geräusche eines großen Feuers. Je näher sie dem Dorf kamen, desto stärker wurde der Brandgeruch und desto lauter wurde der Lärm des Feuers.

Als die Kinder aus dem Waldrand heraustraten, konnten sie ihr Dorf sehen, beziehungsweise das, was davon übriggeblieben war.

Es gab kein Dorf mehr. Wo früher die Häuser gestanden hatten, befanden sich jetzt nur noch hell lodernde riesige Feuer. Gerade brach ein solches Feuer – es war dort, wo einst ihr Elternhaus gestanden hatte – mit einem gewaltigen nach oben steigenden Funkenregen in sich zusammen.

Von den fremden Reitern war nichts mehr zu sehen oder zu hören. Aber auf dem Dorfplatz lag an vielen Stellen etwas, was wie ein Kleiderhaufen aussah. Erst als die verängstigten Kinder sich langsam und vorsichtig aus dem Wald auf die Lichtung wagten, erkannten sie, dass es getötete Menschen, ihre Freunde und Nachbarn, waren.

„Wo sind Mama und Inge?“, fragte Gudrun mit leiser Stimme.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht waren sie noch im Haus, als es verbrannte. Lass uns nachsehen, ob sich außer uns noch jemand irgendwo verstecken konnte. Vielleicht im Wald wie wir.“

Laut zu rufen trauten sie sich anfangs noch nicht. Die fremden Reiter könnten vielleicht noch in der Nähe sein, sie hören und zurückkommen.

Die Kinder huschten geduckt durchs Dorf zwischen den brennenden Häusern hindurch und suchten nach Überlebenden. Aber sie fanden nur weitere Tote. Da von den fremden Reitern nichts zu hören war, auch kein Pferdegetrappel, trauten sie sich jetzt auch, laut zu rufen.

Doch es antwortete ihnen niemand.

Als sie den Pfad erreichten, den ihr Vater mit ihrem Nachbarn am Morgen genommen hatte, um auf der anderen Lichtung zu pflügen, fanden sie ihn und auch den Nachbarn. Der Nachbar war tot, doch ihr Vater lebte noch. Drei Pfeile steckten vorn in seiner Brust und zwei in seinem Rücken. Aber er atmete noch schnell und flach und stöhnte leise. Blut lief aus seinen Mundwinkeln. Sie knieten sich neben ihn und Gudrun stich sanft mit der Hand über seinen Kopf. Das hätte sie sich früher nie getraut.

Plötzlich schlug er sie Augen auf.

„Wasser“, stöhnte er leise.

Gudrun rannte zum Bach und schöpfte mit zusammengelegten Händen etwas Wasser, mit dem sie zurückgelaufen kam. Sie hielt ihm die Hände an den Mund. Viel Wasser war es nicht – eben nur eine Handvoll. Aber es reichte aus, um ihren Vater wieder so weit zu beleben, dass er sich etwas aufrichten und mühsam sprechen konnte.