Karl May
Winnetou Band 1
Winnetou ist die wohl berühmteste Gestalt aus den gleichnamigen Romanen und anderen Werken des deutschen Autors Karl May
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Inhaltsverzeichnis
Titel
I. Einleitung
II. Ein Greenhorn
III. Kleki-petra
IV. Winnetou in Fesseln
V. Zweimal um das Leben gekämpft
VI. Schöner Tag -1-
VI. Schöner Tag -2-
VI. Schöner Tag -3-
VII. Sams Befreiung -1-
VII. Sams Befreiung -2-
Impressum neobooks
I. Einleitung
Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Türke ein; dies hat, so sonderbar es erscheinen mag,
doch seine Berechtigung. Mag es zwischen beiden noch so wenig Punkte des Vergleichs geben, sie sind
einander ähnlich in dem einen, daß man mit ihnen, allerdings mit dem Einen weniger als mit dem Andern,
abgeschlossen hat: Man spricht von dem Türken kaum anders als von dem "kranken Mann", während
Jeder, der die Verhältnisse kennt, den Indianer als den "sterbenden Mann" bezeichnen muß.
Ja, die rote Nation liegt im Sterben! Vom Feuerlande bis weit über die nordamerikanischen Seen hinauf
liegt der riesige Patient ausgestreckt, niedergeworfen von einem unerbittlichen Schicksale, welches kein
Erbarmen kennt. Er hat sich mit allen Kräften gegen dasselbe gesträubt, doch vergeblich; seine Kräfte
sind mehr und mehr geschwunden; er hat nur noch wenige Atemzüge zu tun, und die Zuckungen, die von
Zeit zu Zeit seinen nackten Körper bewegen, sind die Konvulsionen, welche die Nähe des Todes
verkündigen.
Ist er schuld an diesem seinem frühen Ende? Hat er es verdient?
Wenn es richtig ist, daß alles, was lebt, zum Leben berechtigt ist, und dies sich ebenso auf die Gesamtheit
wie auf das Einzelwesen bezieht, so besitzt der Rote das Recht zu existieren, nicht weniger als der Weiße
und darf wohl Anspruch erheben auf die Befugnis, sich in sozialer, in staatlicher Beziehung nach seiner
Individualität zu entwickeln. Da behauptet man nun freilich, der Indianer besitze nicht die notwendigen
staatenbildenden Eigenschaften. Ist das wahr? Ich sage: nein! will aber keine Behauptungen aufstellen, da
es nicht meine Absicht ist, eine hierauf bezügliche gelehrte Abhandlung zu schreiben. Der Weiße fand
Zeit, sich naturgemäß zu entwickeln; er hat sich nach und nach vom Jäger zum Hirten, von da zum
Ackerbauer und Industriellen entwickelt; darüber sind viele Jahrhunderte vergangen; der Rote aber hat
diese Zeit nicht gefunden, denn sie wurde ihm nicht gewährt. Er soll von der ersten und untersten Stufe,
also als Jäger, einen Riesensprung nach der obersten machen, und man hat, als man dieses Verlangen an
ihn stellte, nicht bedacht, daß er da zum Falle kommen und sich lebensgefährlich verletzen muß.
Es ist ein grausames Gesetz, daß der Schwächere dem Stärkeren weichen muß; aber da es durch die ganze
Schöpfung geht und in der ganzen irdischen Natur Geltung hat, so müssen wir wohl annehmen, daß diese
Grausamkeit entweder eine nur scheinbare oder einer christlichen Milderung fähig ist, weil die ewige
Weisheit, welche dieses Gesetz gegeben hat, zugleich die ewige Liebe ist. Dürfen wir nun behaupten, daß
in Beziehung auf die aussterbende indianische Rasse eine solche Milderung stattgefunden hat?
Es war nicht nur eine gastliche Aufnahme, sondern eine beinahe göttliche Verehrung, welche die ersten
"Bleichgesichter" bei den Indsmen fanden. Welcher Lohn ist den Letzteren dafür geworden? Ganz
unstreitig gehörte diesen das Land, welches sie bewohnten; es wurde ihnen genommen. Welche Ströme
Blutes dabei geflossen und welche Grausamkeiten vorgekommen sind, das weiß ein Jeder, der die
Geschichte der "berühmten" Conquistadores gelesen hat. Nach dem Vorbilde derselben ist dann später
weiter verfahren worden. Der Weiße kam mit süßen Worten auf den Lippen, aber zugleich mit dem
geschärften Messer im Gürtel und dem geladenen Gewehre in der Hand. Er versprach Liebe und Frieden
und gab Haß und Blut. Der Rote mußte weichen, Schritt um Schritt, immer weiter zurück. Von Zeit zu
Zeit gewährleistete man ihm "ewige" Rechte auf "sein" Territorium, jagte ihn aber schon nach kurzer Zeit
wieder aus demselben hinaus, weiter, immer weiter. Man "kaufte" ihm das Land ab, bezahlte ihn aber
entweder gar nicht oder mit wertlosen Tauschwaren, welche er nicht gebrauchen konnte. Aber das
schleichende Gift des "Feuerwassers" brachte man ihm desto sorgfältiger bei, dazu die Blattern und
andere, noch viel schlimmere und ekelhaftere Krankheiten, welche ganze Stämme lichteten und ganze
Dörfer entvölkerten. Wollte der Rote sein gutes Recht geltend machen, so antwortete man ihm mit Pulver
und Blei, und er mußte den überlegenen Waffen der Weißen wieder weichen. Darüber erbittert, rächte er
sich nun an dem einzelnen Bleichgesichte, welches ihm begegnete, und die Folgen davon waren dann
stets förmliche Massacres, welche unter den Roten angerichtet wurden. Dadurch ist er, ursprünglich ein
stolzer, kühner, tapferer, wahrheitsliebender, aufrichtiger und seinen Freunden stets treuer Jägersmann,
ein heimlich schleichender, mißtrauischer, lügnerischer Mensch geworden, ohne daß er dafür kann, denn
nicht er, sondern der Weiße ist schuld daran.
Die wilden Mustangherden, aus deren Mitte er sich einst kühn sein Reitpferd holte, wo sind sie
hingekommen? Wo sieht man die Büffel, welche ihn ernährten, als sie zu Millionen die Prairien
bevölkerten? Wovon lebt er heut? Von dem Mehle und dem Fleische, welches man ihm liefert? Schau zu,
wie viel Gips und andere schöne Dinge sich in diesem Mehl befinden; wer kann es genießen! Und werden
einem Stamme einmal hundert "extra fette" Ochsen zugesprochen, so haben diese sich unterwegs in zwei
oder drei alte, abgemagerte Kühe verwandelt, von welchen kaum ein Aasgeier einen Bissen
herunterreißen kann. Oder soll der Rote vom Ackerbaue leben? Kann er auf seine Ernte rechnen, er, der
Rechtslose, den man immer weiter verdrängt, dem man keine bleibende Stätte läßt?
Welch eine stolze, schöne Erscheinung war er früher, als er, von der Mähne seines Mustangs umweht,
über die weite Savanne flog, und wie elend und verkommen sieht er jetzt aus in den Fetzen, welche nicht
seine Blöße decken können! Er, der in überstrotzender Kraft einst dem schrecklichen grauen Bären mit
den Fäusten zu Leibe ging, schleicht jetzt wie ein räudiger Hund in den Winkeln umher, um sich,
hungrig, einen Fetzen Fleisch zu betteln oder zu stehlen!
Ja, er ist ein kranker Mann geworden, ein sterbender Mann, und wir stehen mitleidig an seinem elenden
Lager, um ihm die Augen zuzudrücken. An einem Sterbebette zu stehen, ist eine ernste Sache,
hundertfach ernst aber, wenn dieses Sterbebette dasjenige einer ganzen Rasse ist. Da steigen viele, viele
Fragen auf, vor allem die: Was hätte diese Rasse leisten können, wenn man ihr Zeit und Raum gegönnt
hätte, ihre inneren und äußeren Kräfte und Begabungen zu entwickeln? Welche eigenartige Kulturformen
werden der Menschheit durch den Untergang dieser Nation verloren gehen? Dieser Sterbende ließ sich
nicht assimilieren, weil er ein Charakter war; mußte er deshalb getötet, kann er nicht gerettet werden?
Gestattet man dem Bison, damit er nicht aussterbe, ein Asyl da oben im Nationalpark von Montana und
Wyoming, warum nicht auch dem einstigen, rechtmäßigen Herren des Landes einen Platz, an dem er
sicher wohnen und geistig wachsen kann?
Aber was nützen solche Fragen angesichts des Todes, der nicht abzuwenden ist! Was können Vorwürfe
helfen, wo überhaupt nicht mehr zu helfen ist! Ich kann nur klagen, aber nichts ändern; ich kann nur
trauern, doch keinen Toten ins Leben zurückrufen. Ich? Ja, ich! Habe ich doch die Roten kennen gelernt
während einer ganzen Reihe von vielen Jahren und unter ihnen einen, der hell, hoch und herrlich in
meinem Herzen, in meinen Gedanken wohnt. Er, der beste, treueste und opferwilligste aller meiner
Freunde, war ein echter Typus der Rasse, welcher er entstammte, und ganz so, wie sie untergeht, ist auch
er untergegangen, ausgelöscht aus dem Leben durch die mörderische Kugel eines Feindes. Ich habe ihn
geliebt wie keinen zweiten Menschen und liebe noch heut die hinsterbende Nation, deren edelster Sohn er
gewesen ist. Ich hätte mein Leben dahingegeben, um ihm das seinige zu erhalten, so wie er dieses
hundertmal für mich wagte. Dies war mir nicht vergönnt; er ist dahingegangen, indem er, wie immer, ein
Retter seiner Freunde war; aber er soll nur körperlich gestorben sein und hier in diesen Blättern fortleben,
wie er in meiner Seele lebt, er, Winnetou, der große Häuptling der Apachen. Ihm will ich hier das
wohlverdiente Denkmal setzen, und wenn der Leser, welcher es mit seinem geistigen Auge schaut, dann
ein gerechtes Urteil fällt über das Volk, dessen treues Einzelbild der Häuptling war, so bin ich reich
belohnt.
Der Verfasser.
II. Ein Greenhorn
Lieber Leser, weißt du, was das Wort Greenhorn bedeutet? eine höchst ärgerliche und despektierliche
Bezeichnung für denjenigen, auf welchen sie angewendet wird.
Green heißt grün, und unter horn ist Fühlhorn gemeint. Ein Greenhorn ist demnach ein Mensch, welcher
noch grün, also neu und unerfahren im Lande ist und seine Fühlhörner behutsam ausstrecken muß, wenn
er sich nicht der Gefahr aussetzen will, ausgelacht zu werden.
Ein Greenhorn ist ein Mensch, welcher nicht von seinem Stuhle aufsteht, wenn eine Lady sich auf
denselben setzen will; welcher den Herrn des Hauses grüßt, ehe er der Mistreß und Miß seine
Verbeugungen gemacht hat; welcher beim Laden des Gewehres die Patrone verkehrt in den Lauf schiebt
oder erst den Propfen, dann die Kugel und zuletzt das Pulver in den Vorderlader stößt. Ein Greenhorn
spricht entweder gar kein oder ein sehr reines und geziertes Englisch; ihm ist das Yankee-Englisch oder
gar das Hinterwälder-Idiom ein Greuel; es will ihm nicht in den Kopf und noch viel weniger über die
Zunge. Ein Greenhorn hält ein Racoon für ein Opossum und eine leidlich hübsche Mulattin für eine
Quadroone. Ein Greenhorn raucht Cigaretten und verabscheut den tabakssaftspeienden Sir. Ein
Greenhorn läuft, wenn er von Paddy Irländer eine Ohrfeige erhalten hat, mit seiner Klage zum
Friedensrichter, anstatt, wie ein richtiger Yankee tun soll, den Kerl einfach und auf der Stelle
niederzuschießen. Ein Greenhorn hält die Stapfen eines Turkey für eine Bärenfährte und eine schlanke
Sportjacht für einen Mississippisteamer. Ein Greenhorn geniert sich, seine schmutzigen Stiefel auf die
Kniee seines Mitpassagiers zu legen und seine Suppe mit dem Schnaufen eines verendenden Büffels
hinabzuschlürfen. Ein Greenhorn schleppt der Reinlichkeit wegen einen Waschschwamm von der Größe
eines Riesenkürbis und zehn Pfund Seife mit in die Prairie und steckt sich dazu einen Kompaß bei,
welcher schon am dritten oder vierten Tag nach allen möglichen andern Richtungen, aber nie mehr nach
Norden zeigt. Ein Greenhorn notiert sich achthundert Indianerausdrücke, und wenn er dem ersten Roten
begegnet, so bemerkt er, daß er diese Notizen im letzten Couvert nach Hause geschickt und dafür den
Brief aufgehoben hat. Ein Greenhorn kauft Schießpulver, und wenn er den ersten Schuß tun will, erkennt
er, daß man ihm gemahlene Holzkohle gegeben hat. Ein Greenhorn hat zehn Jahre lang Astronomie
studiert, kann aber ebenso lang den gestirnten Himmel angucken, ohne zu wissen, wie viel Uhr es ist. Ein
Greenhorn steckt das Bowiemesser so in den Gürtel, daß er, wenn er sich bückt, sich die Klinge in den
Schenkel sticht. Ein Greenhorn macht im wilden Westen ein so starkes Lagerfeuer, daß es baumhoch
emporlodert, und wundert sich dann, wenn er von den Indianern entdeckt und erschossen worden ist,
darüber, daß sie ihn haben finden können. Ein Greenhorn ist eben ein Greenhorn und ein solches
Greenhorn war damals auch ich.
Aber man denke ja nicht etwa, daß ich die Überzeugung oder auch nur die Ahnung gehabt hätte, daß
diese kränkende Bezeichnung auf mich passe! O nein, denn es ist ja eben die hervorragendste
Eigentümlichkeit jedes Greenhorns, eher alle andern Menschen, aber nur nicht sich selbst für "grün" zu
halten.
Ich glaubte ganz im Gegenteile, ein außerordentlich kluger und erfahrener Mensch zu sein; hatte ich doch,
so was man zu sagen pflegt, studiert und nie vor einem Examen Angst gehabt! Daß dann das Leben die
eigentliche und richtige Hochschule ist, deren Schüler täglich und stündlich geprüft werden und vor der
Vorsehung zu bestehen haben, daran wollte mein jugendlicher Sinn damals nicht denken. Unerquickliche
Verhältnisse in der Heimat und ein, ich möchte sagen, angeborener Tatendrang hatten mich über den
Ozean nach den Vereinigten Staaten getrieben, wo die Bedingungen für das Fortkommen eines
strebsamen jungen Menschen damals weit bessere und günstigere waren als heutzutage. Ich hätte in den
Oststaaten recht wohl ein gutes Unterkommen gefunden, aber es trieb mich nach dem Westen. Bald auf
diese und bald auf jene Weise für kurze Zeit tätig, verdiente ich mir so viel, daß ich, äußerlich wohl
ausgerüstet und innerlich von frohem Mute erfüllt, in St. Louis ankam. Dort führte mich das Glück in eine
deutsche Familie, in welcher ich einen einstweiligen Unterschlupf als Hauslehrer fand. In dieser Familie
verkehrte Mr. Henry, ein Original und Büchsenmacher, welcher sein Handwerk mit der Hingebung eines
Künstlers betrieb und sich mit altväterischem Stolze Mr. Henry, the Gunsmith nannte.
Dieser Mann war ein außerordentlicher Menschenfreund, obgleich er das Gegenteil zu sein schien, da er
außer der erwähnten Familie mit keinem Menschen verkehrte und selbst seine Kunden so kurz und
schroff behandelte, daß sie nur der Güte seiner Ware wegen zu ihm kamen. Er hatte seine Frau und
Kinder durch ein grausiges Ereignis verloren, über welches er nie sprach, doch vermutete ich infolge
einiger seiner Äußerungen, daß sie bei einem Überfalle ermordet worden waren. Das hatte ihn äußerlich
rauh gemacht; er wußte es vielleicht gar nicht, daß er eigentlich ein perfekter Grobian war; der Kern aber
war mild und gut, und ich habe oft sein Auge feucht gesehen, wenn ich von der Heimat und den Meinen
erzählte, an denen ich mit ganzem Herzen hing und auch heut noch hänge.
Warum er, der alte Mann, grad für mich, den jungen, fremden Menschen, eine solche Vorliebe zeigte, das
wußte ich nicht, bis er es mir einmal sagte. Seit ich da war, kam er öfters als vorher, hörte dem
Unterrichte zu, nahm mich, wenn dieser beendet war, für sich in Beschlag und lud mich schließlich sogar
ein, ihn zu besuchen. Ein solcher Vorzug war noch keinem Andern zu teil geworden, und ich hütete mich
daher, die mir gewordene Erlaubnis auszubeuten. Diese Zurückhaltung schien ihm aber keineswegs lieb
zu sein; ich erinnere mich noch heut des zornigen Gesichtes, welches er mir eines Abends, als ich zu ihm
kam, zeigte, und des Tones, in welchem er mich empfing, ohne auf mein "good evening" zu antworten:
»Wo habt Ihr denn gestern gesteckt, Sir?«
»Zu Hause.«
»Und vorgestern?«
»Auch zu Hause.«
»Macht mir doch nichts weis!«
»Es ist wahr, Mr. Henry.«
»Pshaw! Solche grüne Vögel, wie Ihr einer seid, bleiben nicht im Neste hocken; die stecken die Schnäbel
überall hin, nur da nicht, wo sie hingehören!«
»Und wo gehöre ich hin, wenn es Euch beliebt, es mir zu sagen?«
»Hierher zu mir, verstanden! Habe Euch schon lange einmal nach etwas fragen wollen.«
»Warum habt Ihr es nicht getan?«
»Weil ich nicht wollte. Hört Ihr es?«
»Und wann wollt Ihr denn?«
»Heute vielleicht.«
»So fragt getrost nur zu,« forderte ich ihn auf, indem ich mich hoch auf die Schraubenbank setzte, an
welcher er arbeitete.
Er sah mir ganz verwundert in das Gesicht, schüttelte mißbilligend den Kopf und rief aus:
»Getrost! Als ob ich so ein Greenhorn, wie Ihr seid, erst um Erlaubnis fragen müßte, wenn ich mit ihm
reden will!«
»Greenhorn?« antwortete ich, die Stirn in Falten ziehend, denn ich fühlte mich bedeutend verletzt. »Ich
will annehmen, Mr. Henry, daß dieses Wort Euch ohne Absicht und nur so herausgefahren ist!«
»Bildet Euch doch nichts ein, Sir! Ich habe mit vollem Bedacht gesprochen; Ihr seid ein Greenhorn, und
was für eins! Den Inhalt Eurer Bücher habt Ihr gut im Kopfe, das ist wahr. Es ist ganz erstaunlich, was ihr
Leute da drüben lernen müßt! Dieser junge Mensch weiß genau, wie weit die Sterne von hier entfernt
sind, was der König Nebukadnezar auf Ziegelsteine geschrieben hat und wie schwer die Luft wiegt, die er
doch nicht sehen kann! Und weil er dies weiß, bildet er sich ein, ein gescheiter Kerl zu sein! Aber steckt
die Nase ins Leben, versteht Ihr mich, so ungefähr fünfzig Jahre ins Leben hinein; dann werdet Ihr, aber
auch nur vielleicht, erfahren, worin die richtige Klugheit besteht! Was Ihr bis jetzt wißt, ist nichts ist gar
nichts. Und was Ihr bis jetzt könnt, ist noch viel weniger. Ihr könnt ja nicht einmal schießen!«
Er sagte dies in einem außerordentlich verächtlichen Tone und mit einer solchen Bestimmtheit, als ob er
seiner Sache förmlich sicher sei.
»Nicht schießen? Hm!« antwortete ich lächelnd. »Ist dies vielleicht die Frage, welche Ihr mir vorlegen
wolltet?«
»Ja, die ist es. Nun antwortet doch einmal!«
»Gebt mir ein gutes Gewehr in die Hand, so will ich antworten, eher nicht.«
Da legte er den Büchsenlauf, an welchem er schraubte, weg, stand auf, trat nahe an mich heran, fixierte
mich mit verwunderten Augen und rief aus:
»Ein Gewehr in die Hand, Sir? Wird mir nicht einfallen, ganz und gar nicht! Meine Gewehre kommen nur
in solche Hände, in denen ich mit ihnen Ehre einlegen kann!«
»Solche hab ich,« nickte ich ihm zu.
Er sah mich noch einmal, und zwar von der Seite an, setzte sich wieder nieder, begann wieder an dem
Laufe zu arbeiten und brummte vor sich hin:
»So ein Greenhorn! Könnte mich wirklich wild machen mit seiner Dreistigkeit!«
Ich ließ ihn gewähren, denn ich kannte ihn, zog eine Zigarre hervor und brannte sie an. Dann blieb es
wohl eine Viertelstunde lang still zwischen uns. Länger aber konnte er es nicht aushalten; er hielt den
Lauf gegen das Licht, sah hindurch und bemerkte dabei:
»Schießen ist nämlich schwerer als nach den Sternen gucken oder alte Ziegelsteine von Nebukadnezar
lesen. Verstanden? Habt Ihr denn jemals ein Gewehr in der Hand gehabt?«
»Ich denke.«
»Wann?«
»Schon längst und oft.«
»Auch angelegt und abgedrückt?«
»Ja.«
»Und getroffen?«
»Natürlich!«
Da ließ er den Lauf, den er geprüft hatte, rasch sinken, sah mich wieder an und meinte:
»Ja, getroffen, natürlich, aber was?«
»Das Ziel, ganz selbstverständlich.«
»Was? Wollt Ihr mir das im Ernste aufbinden?«
»Behaupten, aber nicht aufbinden; es ist wahr.«
»Hol Euch der Teufel, Sir! Aus Euch wird man nicht klug. Ich bin überzeugt, daß Ihr an einer Mauer
vorbeischießen würdet, und wenn sie zwanzig Ellen hoch und fünfzig Ellen lang wäre, und doch macht
Ihr bei Eurer Behauptung ein so ernstes und zuversichtliches Gesicht, daß einem darüber die Galle
überlaufen könnte. Ich bin kein Knabe, dem Ihr Stunde gebt, verstanden! So ein Greenhorn und
Bücherwurm, wie Ihr seid, will schießen können! Hat sogar in türkischen, arabischen und andern
dummen Scharteken herumgestöbert und will dabei Zeit zum Schießen gefunden haben! Nehmt doch
einmal das alte Gun Gewehr, Büchse. da hinten vom Nagel, und legt es an, als ob Ihr zielen wolltet! Es ist
ein Bärentöter, der beste, den ich jemals in den Händen gehabt habe.«
Ich ging hin, langte die Büchse herab und legte sie an.
»Halloo!« rief er aus, indem er aufsprang. »Was ist denn das? Ihr geht ja mit diesem Gun wie mit einem
leichten Spazierstocke um, und doch ist es das schwerste Gewehr, welches ich kenne! Besitzt Ihr denn
eine solche Körperkraft?«
Anstatt der Antwort nahm ich ihn unten bei der zugeknöpften Jacke und bei dem Hosenbund und hob ihn
mit dem rechten Arm empor.
»Thunder-storm!« schrie er auf. »Laßt mich los! Ihr seid ja noch weit kräftiger als mein Bill.«
»Euer Bill? Wer ist das?«
»Er war mein Sohn, der lassen wir das! Er ist tot, wie die Andern auch. Er versprach, ein tüchtiger Kerl
zu werden, wurde aber während meiner Abwesenheit mit ihnen ausgelöscht. Ihr seid ihm ähnlich von
Gestalt, habt beinahe dieselben Augen und auch denselben Zug um den Mund; darum bin ich Euch na,
das geht Euch ja doch nichts an!«
Der Ausdruck tiefer Trauer hatte sich über sein Gesicht gebreitet; er fuhr mit der Hand über dasselbe und
fuhr dann in munterem Tone fort:
»Aber, Sir, bei Eurer Muskelkraft ist es wirklich jammerschade, daß Ihr Euch so auf die Bücher geworfen
habt. Hättet Euch körperlich üben sollen!«
»Habe ich auch.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Boxen?«
»Wird drüben bei uns nicht getrieben. Aber im Turnen und Ringen mache ich mit.«
»Reiten?«
»Ja.«
»Fechten?«
»Habe ich Unterricht erteilt.«
»Mann, schneidet nicht auf!«
»Wollt Ihr es versuchen?«
»Danke; habe genug von vorhin! Muß überhaupt arbeiten. Setzt Euch wieder nieder!«
Er kehrte zu seiner Schraubenbank zurück, und ich tat dasselbe. Die nun folgende Unterhaltung war eine
höchst einsilbige; Henry schien sich in Gedanken mit irgend etwas Wichtigem zu beschäftigen. Plötzlich
sah er von der Arbeit auf und fragte:
»Habt Ihr Mathematik getrieben?«
»War eine meiner Lieblingswissenschaften.«
»Arithmetik, Geometrie?«
»Natürlich.«
»Feldmesserei?«
»Sogar außerordentlich gern. Bin sehr oft, ohne daß ich es notwendig hatte, mit dem Theodolit draußen
herumgelaufen.«
»Und könnt messen, wirklich messen?«
»Ja. Ich habe mich sowohl an Horizontal-, als auch an Höhenmessungen oft beteiligt, obgleich ich nicht
behaupten will, daß ich mich als ausgelernten Geodäten betrachte.«
»Well sehr gut, sehr gut!«
»Warum fragt Ihr danach, Mr. Henry?«
»Weil ich eine Ursache dazu habe. Verstanden! Braucht es jetzt nicht zu wissen; werdet es schon noch
erfahren. Muß vorher wissen hm, ja, muß vorher wissen, ob Ihr schießen könnt.«
»So stellt mich auf die Probe!«
»Werde es auch tun; ja, werde es tun; darauf könnt Ihr Euch verlassen. Wann beginnt Ihr morgen früh den
Unterricht?«
»Um acht Uhr.«
»So kommt um sechs zu mir. Wollen hinauf auf den Schießstand gehen, wo ich meine Gewehre
einschieße.«
»Warum so früh?«
»Weil ich nicht länger warten will. Bin ganz begierig darauf, Euch zu zeigen, daß Ihr ein Greenhorn seid.
Jetzt genug davon, habe Anderes zu tun, was weit, weit wichtiger ist.«
Er schien mit dem Gewehrlaufe fertig zu sein und nahm aus einem Kasten ein polygones Eisenstück,
dessen Ecken er abzufeilen begann. Ich sah, daß jede Fläche desselben ein Loch hatte.
Er war mit solcher Aufmerksamkeit bei dieser Arbeit, daß er meine Gegenwart ganz vergessen zu haben
schien. Seine Augen funkelten, und wenn er sein Werk von Zeit zu Zeit betrachtete, so sah ich, daß es, ich
möchte beinahe sagen, mit einem Ausdrucke von Liebe geschah. Dieses Eisenstück mußte einen großen
Wert für ihn haben. Ich war neugierig, zu erfahren, warum; darum fragte ich ihn:
»Soll das auch ein Gewehrteil werden, Mr. Henry?«
»Ja,« antwortete er, als ob er sich besinne, daß ich noch da sei.
»Aber ich kenne kein Gewehrsystem, das einen derartigen Teil besitzt.«
»Glaube es. Soll erst noch werden. Wird wohl System Henry werden.«
»Ah, eine neue Erfindung?«
»Yes.«
»Dann bitte ich um Entschuldigung, daß ich gefragt habe! Es ist natürlich Geheimnis.«
Er guckte eine längere Zeit in alle die Löcher hinein, drehte das Eisen nach verschiedenen Richtungen,
hielt es einige Male an das hintere Ende des Laufes, den er vorhin fortgelegt hatte, und sagte endlich:
»Ja, es ist ein Geheimnis; aber ich traue Euch, denn ich weiß, daß Ihr Verschwiegenheit besitzt, obgleich
Ihr ein ausgemachtes, richtiges Greenhorn seid; darum will ich Euch sagen, was es werden soll. Es wird
ein Stutzen, ein Repetierstutzen mit fünfundzwanzig Schüssen.«
»Unmöglich!«
»Haltet Euren Schnabel! Ich bin nicht so dumm, mir etwas Unmögliches vorzunehmen.«
»Aber da müßtet Ihr doch Kammern zur Aufnahme der Munition für fünfundzwanzig Schüsse haben!«
»Habe ich auch!«
»Die würden aber so groß und unhandlich sein, daß sie genierten.«
»Nur eine Kammer; ist ganz handlich und geniert gar nicht. Dieses Eisen ist die Kammer.«
»Hm! Ich verstehe mich auf Euer Fach ja gar nicht; aber wie steht es mit der Hitze? Wird der Lauf zu
heiß?«
»Fällt ihm nicht ein. Material und Behandlung des Laufes sind mein Geheimnis. Übrigens, ist es denn
immer nötig, die fünfundzwanzig Schüsse alle gleich hintereinander abzugeben?«
»Schwerlich.«
»Also! Dieses Eisen wird eine Kugel, welche sich exzentrisch bewegt; fünfundzwanzig Löcher darin
enthalten ebensoviele Patronen. Bei jedem Schusse rückt die Kugel weiter, die nächste Patrone an den
Lauf. Habe mich lange Jahre mit dieser Idee getragen; wollte nicht gelingen; jetzt aber scheint es zu
klappen. Habe schon jetzt als Gunsmith einen guten Namen, werde dann aber berühmt, sehr berühmt
werden und viel, sehr viel Geld verdienen.«
»Und ein böses Gewissen dazu!«
Er sah mir eine Weile ganz erstaunt in das Gesicht und fragte dann:
»Ein böses Gewissen? Wie so?«
»Meint Ihr, daß ein Mörder kein böses Gewissen zu haben braucht?«
»Zounds! Wollt Ihr etwa sagen, daß ich ein Mörder bin?«
»Jetzt noch nicht.«
»Oder ein Mörder werde?«
»Ja, denn die Beihilfe zum Morde ist grad so schlimm wie der Mord selbst.«
»Hole Euch der Teufel! Ich werde mich hüten, Beihilfe zu einem Morde zu leisten.«
»Zu einem einzelnen freilich nicht, aber sogar zum Massenmorde.«
»Wie so? Ich verstehe Euch nicht.«
»Wenn Ihr ein Gewehr fertigt, welches fünfundzwanzigmal schießt, und es in die Hände jedes beliebigen
Strolches gebt, so wird drüben auf den Prairien, in den Urwäldern und den Schluchten des Gebirges sich
bald ein grausiges Morden erheben; man wird die armen Indianer niederschießen wie Cojoten, und in
einigen Jahren wird es keinen Indsman mehr geben. Wollt Ihr das auf Euer Gewissen laden?«
Er starrte mich an und antwortete nicht.
»Und,« fuhr ich fort, »wenn jedermann dieses gefährliche Gewehr für Geld bekommen kann, so werdet
Ihr allerdings in kurzer Zeit tausende absetzen, aber die Mustangs und die Büffel werden ausgerottet
werden und mit ihnen jede Art von Wild, dessen Fleisch die Roten zum Leben brauchen. Es werden
hundert und tausend Aasjäger sich mit Eurem Stutzen bewaffnen und nach dem Westen gehen. Das Blut
von Menschen und Tieren wird in Strömen fließen, und sehr bald werden die Gegenden diesseits und
jenseits der Felsenberge von jedem lebenden Wesen entvölkert sein.«
»'sdeath!« rief er jetzt aus. »Seid Ihr wirklich erst vor kurzem aus Germany herübergekommen?«
»Ja.«
»Und vorher noch nie hier gewesen?«
»Nein.«
»Und im wilden Westen erst recht noch nicht?«
»Nein.«
»Also ein vollständiges Greenhorn. Und doch nimmt dieses Greenhorn den Mund so voll, als ob es der
Urgroßvater aller Indianer wäre und schon seit tausend Jahren hier gelebt hätte und heute noch lebte!
Männchen, bildet Euch ja nicht ein, mir warm zu machen! Und selbst wenn alles so wäre, wie Ihr sagt, so
wird es mir niemals in den Sinn kommen, eine Gewehrfabrik anzulegen. Ich bin ein einsamer Mann und
will einsam bleiben; ich habe keine Lust, mich mit hundert oder gar noch mehr Arbeitern
herumzuärgern.«
»Aber Ihr könntet doch, um Geld zu verdienen, Patent auf Eure Erfindung nehmen und dies verkaufen?«
»Das wartet ruhig ab, Sir! Bis jetzt habe ich stets gehabt, was ich brauche, und ich denke, daß ich auch
fernerhin und ohne Patent keine Not leiden werde. Und nun schert Euch für heut nach Hause! Ich habe
keine Lust, einen Vogel piepen zu hören, der erst flügge werden muß, ehe er pfeifen oder singen kann.«
Es fiel mir gar nicht ein, ihm diese derben Ausdrücke übel zu nehmen; er war nun einmal so, und ich
wußte recht gut, wie er es meinte. Er hatte mich liebgewonnen und war ganz gewiß gewillt, mir in jeder
Beziehung, so weit er es vermochte, förderlich und dienlich zu sein. Ich gab ihm die Hand und ging,
nachdem er mir dieselbe kräftig gedrückt und geschüttelt hatte.
Ich ahnte nicht, wie wichtig dieser Abend für mich werden sollte, und ebensowenig kam es mir in den
Sinn, daß dieser schwere Bärentöter, den Henry ein altes Gun nannte, und der noch unfertige
Henrystutzen in meinem späteren Leben eine so große Rolle spielen würd