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Waldröschen IX. Erkämpftes Glück. Teil 2

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Der Mann gehorchte. Landola betrachtete die Lippen und bestätigte:

»Ja, wulstig.« – »Bart rasiert«, sagte Cortejo. – »Stimmt!« – »Haare dunkelblond.« – »Stimmt auch.« – »Anfang zu einer Glatze.« – »Wo? Zeigt her!«

Bei diesen Worten zog Landola den Kopf des Männchens zu sich heran, betrachtete das kahle Stellchen, als ob er Perückenmacher sei, der sich Haar- und Barterzeugungsmittel auszugrübeln habe, und sagte dann:

»Glatze? Ja, die ist da!« – »Besondere Kennzeichen«, fuhr Cortejo fort. »Hat einen verkrüppelten Nagel am Mittelfinger der Linken.« – »Her mit der Hand«, gebot Landola.

Der Kleine gehorchte. Landola betrachtete den betreffenden Nagel und bestätigte:

»Der Krüppel ist da. Mensch, das stimmt ja alles.« – »O Señores«, rief der Kleine. »Ich bin es nicht.« – »Der Krüppel? Der Nagel? Nein, der seid Ihr allerdings nicht, aber der Anführer, der Landfriedensbrecher scheint Ihr zu sein.« – »Ich schwöre es Euch bei allen Heiligen, daß ich es nicht bin. Wann wurde dieses Signalement abgefaßt?« – »Vor drei Wochen.« – »Und die Zahnlücke habe ich erst seit fünf Tagen, die Glatze gar erst seit nur zwei Tagen.«

Da betrachtete ihn Landola von oben herab und sagte:

»Mensch, halte uns nicht für so dumm! Solche Ausreden sind lächerlich. Wir werden dich mit nach der Hauptstadt nehmen müssen!«

Der Kleine befand sich in der größten Angst. Er suchte nach einem Ausweg und schien endlich einen gefunden zu haben, denn sein Gesicht erhielt einen ruhigeren Ausdruck, und in einem Ton, der vertrauenerweckend sein sollte, sagte er:

»Señores, werdet Ihr mir eine Frage erlauben?« – »Meinetwegen«, meinte Landola streng. – »Ich weiß, daß der Pater nicht gastfreundlich ist. Hat er Euch irgend etwas vorgesetzt?« – »Nein.« – »Aber Ihr werdet nach einem solchen Ritt Hunger haben?« – »Riesig!« – »Und auch Durst?« – »Noch riesiger!« – »Werdet Ihr mir erlauben, für Euch ein tüchtiges Mahl zu bestellen, meine werten Señores« – »Zu einem solchen ist unser Einkommen zu klein.« – »Oh, ich werde bezahlen. Ich werde gleich den Wirt holen!«

Der Kleine wollte zur Tür hinaus, aber Landola ergriff ihn und hielt ihn fest.

»Halt!« sagte er. »Das wollen wir schon selbst besorgen.«

Der Wird wurde gerufen und mußte sagen, was bei ihm zu haben sei. Er nahm den Auftrag des Kleinen entgegen und wollte sich dann entfernen, denselben auszurichten; aber Landola rief dazwischen:

»Halt! Dieser Señor will erst bezahlen.« – »Vorher?« fragte der Wirt erstaunt. – »Ja, vorher«, nickte der Kleine, indem er seinen Beutel zog und ein Mahl für drei Personen und sechs Flaschen Wein bezahlte.

Nun trat eine drückende, unheimliche Stille in der Stube ein. Dem Arrestanten war es anzusehen, daß er an einen Fluchtversuch dachte. Die beiden vermeintlichen Polizisten blieben sehr ernst, obgleich sie sich Mühe geben mußten, um nicht laut aufzulachen. Da endlich zog Bratenduft aus dem Küchenverschlag herein, und der Kleine meinte rasch:

»Señores, eine Bitte!« – »Redet!« gebot Landola. – »Darf ich nicht einmal in die Küche treten?« – »Wozu?« – »Ich muß mich doch überzeugen, ob der Wirt seine Pflicht auch so erfüllt, daß die Speise Eurer würdig ist!« – »Versteht Ihr denn etwas davon?« – »Oh, ich brate mir alles selbst.« – »Aber Ihr werdet uns doch nicht entfliehen?« – »Señores, ich schwöre Euch bei allen Heiligen zu, daß so ein Gedanke mir nicht in den Sinn kommt! Ich bin unschuldig und werde mit nach Mexiko gehen, um Euch dies auf das glanzvollste zu beweisen.« – »Na, der Allerschlechteste scheint Ihr allerdings nicht zu sein. Geht also einmal hinaus; aber nur auf fünf Minuten.«

Der Kleine ging.

»Ich bin neugierig, ob er fliehen wird«, meinte Cortejo. – »Natürlich wird er es«, antwortete Landola. – »Aber er schwor bei allen Heiligen!« – »Pah! Das gilt bei uns beiden nichts und bei diesem erst recht nicht. Nicht wahr, aus der Küche geht eine Tür auf den Hausflur?« – »Ich glaube.« – »So wird er sich aus der Küche durch den Flur zum Pferd schleichen und davongaloppieren.« – »Was tun wir da? Wir sind ja froh, ihn los zu sein!« – »Oh, wir geben zum Spaß einige Schüsse hinter ihm ab.« – »Aber doch nicht treffen?« – »Nein. Öffnen wir immer im voraus das Fenster.«

Sie machten dasselbe auf und steckten sich hinter den Mauerpfeiler. Richtig! Da kam der Kleine leise geschlichen, band sein Pferd los, kletterte in höchster Eile hinauf und gab ihm die Sporen.

»Halt!« schrie da Landola zum Fenster hinaus. – »Halt!« brüllte auch Cortejo. »Wir schießen!« riefen beide zugleich.

Aber der Kleine schoß auch, nämlich davon. Da zogen die beiden ihre Pistolen und feuerten beide Läufe hinter ihm her. Er stieß einen Angstruf aus, den sie noch hörten, und dann war er verschwunden.

Der Wirt kam voller Erstaunen in die Stube geeilt und fragte:

»Señores, Ihr schießt? Warum denn, um der Jungfrau willen!« – »Er entflieht ja!« antwortete Cortejo. – »Wer denn?« – »Der Kleine.« – »Der? Er entflieht? Ist er denn Gefangener?« – »Natürlich! Der unsrige.« – »Ah! Wer seid Ihr denn?« – »Geheime Alguazils aus der Residenz.« – »Ach so! Laßt ihn doch fliehen, er hat Euch ja das Essen und den Wein bezahlt!« – »Meint Ihr denn, daß das so viel wert ist?« – »War er denn mehr wert?« – »Das weiß ich nicht.« – »Kennt Ihr ihn Señor?« – »Nein. Aber Ihr kennt ihn?« – »Auch nicht? Nun, warum habt Ihr ihn dann arretiert?« – »Damit er unser Essen bezahlen solle und Ihr am Wein was verdient.«

Der Wirt sah sie eine Zeitlang ganz verblüfft an, brach aber dann in ein lautes Lachen aus und rief:

»Ihr seid bei Gott die klügsten Señores, die mir jemals vorgekommen sind! Aber er hat für drei Personen bestellt.« – »Das hörten wir.« – »Wenn Ihr Eurer Klugheit die Krone aufsetzen wollt, so habt die Güte zu erlauben, daß ich nun der dritte bin.«

Da stimmten alle beide in sein Lachen ein, und Landola meinte:

»Mann, Ihr seid nicht weniger klug als wir, wir passen also füreinander, und so mögt Ihr die Stelle des Entflohenen einnehmen.«

So geschah es. Als die beiden später die Venta verließen, war der Kleine bereits über alle Berge. Sie brauchten seine spionierenden Augen nicht zu fürchten, machten in der Umgebung einen Spazierritt, wobei sie sich über ihre Pläne unterhielten, und kehrten mit Einbruch der Dunkelheit vorsichtig nach dem Kloster zurück.

21. Kapitel

An der hinteren Mauerecke fanden Landola und Cortejo ein Gesträuch, an das sie ihre Pferde banden, wie der Pater es ihnen angeraten hatte. Dann begab letzterer sich zu dem Fenster und klatschte leise. Bereits nach wenigen Augenblicken erschien Manfredo.

»Folgt mir, Señores!« gebot er. – »Zu Eurem Oheim?« fragte Landola, der hinzugetreten war. – »Ja«, antwortete er. – »Nach seinem Zimmer?« – »Nein, Señores. Noch sind die Leute wach, und man könnte Euch leicht sehen. Mein Oheim ist bereits hinunter, um Euch die Gefangenen zu zeigen. Ich bringe Euch zu ihm.« – »Was aber geschieht mit den Pferden und unseren Sachen?« – »Sie sind für die wenigen Augenblicke in allerbester Sicherheit, dann aber werde ich Euch alles besorgen.«

Dieses Besorgen sollte darin bestehen, daß Manfredo die Pferde verkaufen und das Gepäck als sein Eigentum betrachten wollte.

Manfredo schritt voran über den menschenleeren, stillen Hof, und Landola und Cortejo folgten ihm, auf sein Geheiß ihre Schritte dämpfend. Dann ging es eine dunkle Treppe hinab, wo Manfredo ein Licht hervorzog, um es anzubrennen. Sie kamen durch einige kellerartige Räume und endlich in ein Gemacht, in dem der Pater sie erwartete. Auch er trug ein brennendes Licht in der Hand.

»Eingetroffen?« fragte er mit achtungsvoller Freundlichkeit. – »Wie Ihr seht, ja«, antwortete Cortejo. »Aber sagt, sollen wir etwa in einem solchen Keller unsere Zeit zubringen?« – »Wo denkt Ihr hin! Ich führe Euch nur zu den Gefängnissen. Später erst geht es nach Eurer Wohnung.« – »Ah! Sonst wäre ich auch sofort zurückgegangen!«

Der Pater ignorierte diese Worte und fragte angelegentlich:

»Wart Ihr in der Venta?« – »Ja, Señor.« – »Und traft den Mann?« – »Es war alles so, wie Ihr vorhergesagt hattet.« – »Und wie lief es ab?« – »Besser und lustiger, als wir es uns auch nur denken konnten.«

Sie erzählten Hilario das Vorkommnis unter Lachen, und er konnte sich nicht enthalten, in ihre Lustigkeit einzustimmen. Daß seinem Peiniger ein solcher Streich gespielt worden war, gewährte ihm einesteils die größte Genugtuung und gab ihm gleichzeitig den Stoff in die Hand, diesem Mann mit der nicht zu verachtenden Waffe des lächerlich machenden Witzes entgegenzutreten.

»Ihr habt Eure Sache sehr gut gemacht, Señores«, sagte er. »Nun sollt Ihr aber auch sehen, wie ich die meinige gemacht habe. Kommt!«

Hilario schritt voran, Cortejo und Landola folgten ihm, und der Neffe ging hinter ihnen. Um eine Ecke biegend, zog er jene hülsenartige Rolle aus der Tasche, brannte das eine Ende an, drehte sich gegen sie um und blies in das andere. Im nächsten Augenblick sprang er weit nach vorn, und sein Neffe tat dasselbe nach rückwärts.

Ein Flammenstrahl war Cortejo und Landola entgegengezuckt. Sie hatten rufen wollen, brachten aber kein Wort hervor, denn es umgab sie eine penetrante Luftart, die ihnen sofort den Atem raubte. Einen Augenblick später lagen sie besinnungslos an der Erde.

Als Cortejo wieder erwachte, war ihm der Kopf fürchterlich schwer, so daß er kaum seine Gedanken zu sammeln vermochte. Er tastete um sich her und gewahrte zu seinem Entsetzen, daß er sich in einem steinernen Raum befand, an dessen einer Mauer er mit einer Kette angeschlossen war.

»O Himmel!« rief er unwillkürlich aus. – »Ah, der eine erwacht!« hörte er seitwärts eine dumpfe, männliche Stimme sagen. – »Er redet«, fügte eine weibliche hinzu, die von gegenüber ertönte. – »Wer ist hier?« fragte er. – »Arme Gefangene, so wie du«, antwortete die männliche Stimme. – »Ich hörte zwei Personen sprechen?« – »Ich war es und meine Tochter.« – »Wer bist du?« – »Ein Unglücklicher. Mehr darf ich nicht sagen, da ich dich nicht kenne.«

 

Cortejo vermochte sich noch nicht in seine Situation zu finden.

»Zum Teufel! Warum bin ich hier?« fragte er. – »Um gefangen zu sein«, lautete die Antwort. – »Gefangen? Ich? Unsinn!« – »Fühle an die Mauer, und fühle deine Ketten!«

Cortejo klirrte mit den Ketten und tastete, soweit diese es ihm zuließen, an der feuchten Wand hin. Er fühlte vor sich einen Wasserkrug und ein Stück trockenen Brotes.

»Heiliger Himmel«!« rief er. »Das kann doch nur ein Scherz sein.« – »Ein Scherz? O nein! Hier unten ist alles bitterer Ernst. Auch wir glaubten an Scherz. Dann hockten wir in einem furchtbaren Loch, bis man uns eine bessere Zelle gab. Vorhin wurden wir aus dieser hierher gebracht, wo es wieder schlechter ist, und unser Peiniger sagte, daß wir Gesellschaft erhalten würden, die uns in große Freude versetzen werde. Die Gesellschaft seid ihr, aber wo bleibt die Freude?« – »Wer ist es, den du euren Peiniger nennst?« fragte Cortejo. – »Der Pater Hilario. Er ist auch der eurige.« – »Der Pater? O nein, er ist mein Freund!« – »Dein Freund? Also auch du hast ihm so vertraut wie wir. Hat er dir nicht giftige Luft in das Gesicht geblasen?« – »Ja.«

Cortejo hatte noch immer nicht die volle Besinnung und Urteilskraft erlangt. Er antwortete wie einer, der langsam aus dem Traum erwacht. Die dumpfe Stimme, die er hörte, klang wie aus einem Grab hervor, und auch ihm war ganz so, als ob er in einem solchen liege.

»Er hatte kein Licht, als er euch brachte«, sagte der andere, »aber ich habe gehört, daß er es war und sein Neffe. Sage uns, wer du bist.« – »Auch ich kann es dir nicht sagen, bevor ich nicht weiß, wer du bist. Du sprichst von noch einem. Wer ist noch da?« – »Einer, der mit dir gebracht und rechter Hand von dir an die Mauer gefesselt wurde.« – »Ah! Sollte es Lan…« – Cortejo besann sich noch zur rechten Zeit und fuhr fort, sich verbessernd: »Sollte es mein Gefährte sein?« – »Er wird es sein. Du bist mit ihm tot, wie wir beide auch. Hier gibt es kein Licht, kein Leben, keine Gnade und kein Erbarmen. Hier ist alles tot, und das einzige Leben, das es noch gibt, das ist ein unstillbares Lechzen nach Rache.« – »Seit wann seid ihr gefangen?« – »Ich weiß es nicht. Hier gibt es keine Sonne und keine Sterne. Hier gibt es keine Unterscheidung zwischen Tag und Nacht, denn hier ist nur Nacht.«

Da richtete Cortejo sich auf, so weit es ging, und rief: »Das gilt wohl euch, aber nicht mir. Ich kann, ich will, und ich darf nicht Gefangener sein!« – »Du Tor! Du bist es ja bereits!« – »Der Pater betrügt mich nicht!« – »Er betrügt alle!« – »So werde ich sehen, ob es wirklich ernst ist.«

Cortejo legte sich in seine Ketten und versuchte, sie zu sprengen; aber es gelang ihm nicht, trotzdem er alle seine Kräfte daransetzte.

»Hölle und Teufel!« rief er keuchend. »Wäre es wahr?« – »Es ist wahr. Täusche dich nicht.« – »So wäre ich gefangen, und die anderen sind frei?« – »Die anderen? Welche anderen meinst du?« – »Er sagte mir, daß er Feinde von mir hier unten habe!« – »Sollte er es dir so gemacht haben wie mir? Auch ich habe Feinde hier unten. Aber glaube nicht, daß sie oder die deinigen frei sind. Wer diese Gewölbe betritt, der sieht das Licht der Sonne niemals wieder. Wer sind deine Feinde?« – »Ich muß über sie schweigen. Wer sind die deinigen?« – »Auch ich darf es dir nicht sagen.« – »Wer verbietet es dir?« – »Ich selbst. Es soll mich niemand kennen.«

Da ging ein langer Seufzer durch den feuchten Raum. Landola begann sich zu regen. Er war vorhin vorangegangen und hatte die tödliche Luft zuerst voll empfangen; darum hatte er auch länger besinnungslos gelegen.

»Oh!« stöhnte er, indem er sich streckte.

Seine Ketten rasselten. Er hörte dies und horchte.

»Oh – oh – oh!« stöhnte er von neuem. »Was – was – was ist das?« fragte er. – »Henrico! Henrico, sind Sie es?« fragte Cortejo. – »Henrico?« fragte Landola müde und gedehnt. »Henrico, ja, so heiße ich. Er – er hat es – aus meiner Hand gelesen.« – »Ah! Bei Gott, er ist es! Henrico, sind Sie es denn wirklich?«

Cortejo nannte absichtlich nur den Vornamen Landolas.

»Henrico?« stöhnte der Gefragte, »wer, wer redet hier? Wo – wo bin ich?« – »Gefangen soll ich sein und gefangen auch Sie. Ich glaube es nicht.« – »Gefan… fangen?« stöhnte es wieder unter Kettengerassel. »Ah, was – wer klirrt hier? Wer hält – hält mich fest?« – »Ketten sind es, Ketten!« – »Ketten? Ketten? Ah! Richtig! Der Pa… Pater wollte uns ja die Gefa… fangenen zeigen, Ster…« – »Still!« fiel Cortejo rasch ein. »Keine Namen nennen.«

Landola konnte sich noch immer nicht aus seiner Betäubung finden. Er wiederholte im Ton eines Menschen, der chloroformiert ward:

»Keinen Namen? Kei… keinen? Warum denn nicht, Cortejo?«

Er hatte diesen Namen nun trotz der eindringlichen Warnungen doch genannt.

»Halt! Still!« rief Cortejo.

Aber von der anderen Seite tönte es rasch herüber:

»Welcher Name war das? Wer ruft mich?«

Da horchte Gasparino auf.

»Dich?« fragte er. »Dich rief keiner.« – »O doch! Es war mein Name.« – »Wie? Du heißt Cortejo?« – »Ja.« – »Wie ist dein Vorname?« – »Es ist doch nun verraten, und so sollst du auch ihn hören. Ich heiße Pablo Cortejo.« – »Gott, Gott!« schrie Gasparino. »Sollte es mehrere dieses Namens geben? Sagtest du nicht, daß deine Tochter hier sei?« – »Ja.« – »Heißt sie Josefa?« – »Ja. Kennst du sie? Kennst du uns?«

Da streckte sich Gasparino gegen seine Fesseln, daß sie klirrten und seine Knochen krachten.

»Hölle, Teufel und Verdammnis!« donnerte er. »So ist es also wahr! Dieser Pater hat mich betrogen. Ich bin gefangen. Gott oder Satan, ganz gleich, wer mir helfen will, aber gib, oh, gib mir Kraft, diese Ketten zu zersprengen!«

Cortejo stemmte sich von neuem gegen die Fesseln, aber vergeblich.

»Strenge dich nicht an, es ist umsonst!« klagte der andere. »Aber sage mir, woher du unseren Namen kennst?« – »Euren Namen? Ach, ich wollte, der Himmel stürzte ein und begrübe dieses Kloster unter seinen Trümmern. Weißt du, wer der ist, der vorhin, aus der Ohnmacht erwachend, deinen Namen nannte?« – »Sage es!« – »Henrico Landola.«

Da klirrten drüben bei dem anderen die Fesseln, zum Zeichen, daß der Schreck ihn bewegt habe.

»Henrico Landola!« schrie er überlaut. – »Ja.« – »Der Seekapitän?« – »Ja«, antwortete Gasparino.

Und zu seiner Rechten ließ sich Landolas Stimme hören:

»Ja, ich bin es! Henrico Lan… Landola, der Kapitän.« – »Ist‘s möglich. Auch das noch!« rief Pablo, die Ketten vor Grimm aneinanderschlagend. »Und du, wer bist denn du?« – »Ich? Höre und verfluche die Erde und alles, was Leben hat! Mein Name ist der deinige.« – »Der meinige?« – »Ja, denn ich bin Gasparino Cortejo, dein Bruder!«

Zwei laute Schreie erschollen, ein männlicher und ein weiblicher. Dann ward es da drüben still. Pablo und seine Tochter waren in Ohnmacht gesunken. Nur hüben noch rasselten die Ketten.

22. Kapitel

Oft scheint es fast, als ob die Vorsehung sich entschlossen habe, den Frevler entkommen zu lassen und die wohlberechtigten Pläne des Guten für immer zuschanden zu machen.

Aber Gottes Wege sind nicht unsere Wege.

Nachdem Kurt Helmers seine Besuche in Mexiko gemacht hatte, setzte er sich zu Pferde und verließ in Begleitung des Matrosen Peters die Hauptstadt. Sie erreichten nach einem raschen Ritt das Städtchen, in dem sie Geierschnabel und Grandeprise trafen; dann ging die Reise weiter.

Kurt war mit guten Karten versehen und besaß in den beiden Jägern zwei Führer, wie es keine besseren geben konnte.

Cortejo und Landola hatten als Verfolgte nicht die offene Straße eingeschlagen, sondern sich als Führer einen Mestizen gemietet und kamen infolge der schlechten Seiten- und Gebirgswege nur langsam vorwärts. Kurt ritt die Straße und konnte daher Strecken zurücklegen, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach vor den beiden Verbrechern in Santa Jaga ankommen mußte.

Darauf rechnete er auch bestimmt. Aber diese Berechnung sollte sich leider als trügerisch erweisen.

Es war am zweiten Abend, als er in der Stadt Zimapan ankam. Hier traf er auf Truppen. Die Stadt war von Franzosen besetzt, die sich vorbereiteten, unter ihrem Befehlshaber, einem General, sich nach Querétaro zu konzentrieren, um von da aus über Mexiko den Einschiffungshafen Verakruz zu erreichen. Im Norden der Stadt standen die Kaiserlichen unter dem ebenso bekannten wie berüchtigten General Marquez bereit, nach dem Abzug der Franzosen die Stadt zu besetzen. Doch war die Disziplin so locker, daß Scharen von ihnen sich in die Stadt begaben, um des Abends ein wenig mit ihren französischen Waffenbrüdern zu fraternisieren.

Durch dieses Gewühl hindurch mußte sich Kurt mit seinen Begleitern Bahn brechen. Am liebsten hätte er sich für diese Nacht draußen im Freien ein Lager gesucht, aber die beiden Jäger rieten davon ab. Sie wären doch zwischen die aufgelösten Truppen, bei denen auf rechte Manneszucht nicht zu rechnen war, geraten, und dabei vielleicht Unbilden ausgesetzt gewesen, die sie in der Stadt umgehen konnten.

Aber diese Aussage erwies sich als irrig. Die Stadt glich nicht einem Ameisenhaufen, sondern vielmehr einem Mehlwürmertopf, in dem es von Käfern, Würmern, Larven und Milben »wimmelte und kribbelte«. Von Venta zu Venta, von Posada zu Posada und zuletzt gar von Haus zu Haus suchend, fanden sie nicht das kleinste Örtchen, wo sie auf eine Stunde der Ruhe hätten rechnen können. Und deren bedurften sie doch ebensosehr, wie ihre Pferde des Futters und des Wassers.

Glücklicherweise erfuhren sie von einer alten »zahmen« Indianerin, die in einem zerrissenen und schmutzigen Hemd vor einer zerfallenen Hütte hockte, daß draußen vor der Stadt ein Bach fließe, an dessen Ufern Gras in Menge zu finden sei. Sie beschlossen also, an diesem Wasser zu biwakieren.

Leider war hier fast kein Plätzchen zu haben. Die französische Reiterei hatte sich hier festgesetzt, und so mußte Kurt froh sein, endlich ein kleines Stückchen Erde zu erobern, das zwei Schritte breit an den Bach stieß, so daß seine Tiere wenigstens zu saufen vermochten. Vor und hinter und neben der kleinen Truppe brannten Wachtfeuer, von denen sie hell beleuchtet wurden, so daß ihre Gesichtszüge ganz deutlich zu erkennen waren.

Dies störte nicht nur ihre Behaglichkeit und Ruhe, sondern es zog auch die Aufmerksamkeit der Soldaten auf sie und sollte ihnen sehr verhängnisvoll werden.

Gerade vor ihnen lag eine Gruppe von vielleicht dreißig Kavalleristen im Gras. Die Leute schmauchten den starken mexikanischen Tabak und unterhielten sich von den Taten, die sie zum Ruhm Frankreichs hier in diesem Land »begangen und verschuldet« hatten. Ein ziemlich alter Sergeantmajor befand sich bei ihnen, der der Unterhaltung mit großer Würde präsidierte.

Eben war eine Gesprächspause eingetreten, als Kurt mit seinen drei Leuten herbeikam und sich in der Nähe niederließ. Ein Murren erhob sich unter den Franzosen.

»Was wollen diese Leute hier?« fragte einer. »Haben sie ein Recht hierzusein?« – »Dulden wir Zivilisten unter uns?« fragte ein zweiter. – »Mexikanische Landstreicher gehören nicht in die Nähe der Söhne unseres schönen Frankreichs«, meinte ein dritter.

Und ein vierter wandte sich direkt an den Feldwebel und sagte:

»Sergeantmajor, dulden wir das?«

Der Alte strich seinen Schnauzbart eine ganze Weile lang und erwiderte:

»Nötig haben wir es wahrscheinlich nicht!« – »Nun, so ist es Ihre Pflicht, uns von diesen Leuten zu befreien.«

Als der Alte zögerte, meinte ein junger Kerl zu ihm:

»Oder fürchten Sie sich vor diesem Zivil?«

Da warf der Feldwebel dem Sprecher einen Blick zu, der wenigstens zerschmetternd oder zermalmend wirken sollte, und sagte:

»Laffe! Als du noch keine Hosen trugst, trug ich bereits die Muskete. Ich werde euch zeigen, wie schnell dieses Zivil vor mir die Flucht ergreifen wird.«

Er schritt auf die vier Männer zu. Kurt lag im Gras und hatte sich eine Zigarre angesteckt; die anderen drei lagen mehr am Rand des Baches und beaufsichtigten ihre Pferde.

»Was wollt Ihr hier? Auf und fort!«

Diese Worte donnerte der Alte Kurt entgegen, indem er den Arm gebieterisch ausstreckte. Kurt regte sich nicht einmal.

»Habt Ihr gehört? Augenblicklich fort«, wiederholte der Alte.

Auch jetzt gab Kurt noch keine Antwort.

»Ah! Ihr wollt Euch widersetzen?« fragte der tapfere Reitersmann. »Gut, meine Leute werden Euch fortbringen.«

Kurt sah, daß er sich anschickte, Leute herbeizurufen. Das hätte eine Szene gegeben. Darum sagte er ruhig:

»Sergeantmajor, wo haben Sie für diese Nacht Ihr Quartier?«

 

Das empörte den Alten noch mehr. Er antwortete laut, so daß man es weithin hören konnte:

»Was? Er fragt mich nach meinem Quartier? Welches Recht hat Er dazu? Und weiß Er nicht, daß man sich erhebt, wenn man mit einem Helden Seiner Majestät des Kaisers spricht?« – »Gut, ich werde aufstehen, doch auf Ihre Verantwortung hin«, meinte Kurt leichthin. »Ich bemerke aber, daß ich dies nur aus Rücksicht auf Frieden tue, und wiederhole meine Frage, wo Sie heute abend Ihr Quartier haben.« – »Er hat sich darum nicht zu bekümmern!« – »O doch! Hat Ihre Truppe den Befehl, sich heute hier zu lagern, und ist Ihrer Abteilung vom Kommandanten diese Stelle angewiesen worden, so weiche ich gern; haben Sie aber Ihr Quartier in der Stadt, so habe ich dasselbe Recht wie Sie und bleibe.«

Der Alte sah den jungen Mann erstaunt an.

»Wer ist Er?« fragte er. »Er tut ja gerade so, als ob Er auch gedient habe und vom Reglement etwas verstehe.«

Es hatte sich um die beiden und die drei anderen Zivilisten ein weiter Kreis von Soldaten gebildet, die neugierig zuhörten.

»Können Sie lesen, Sergeantmajor?« fragte Kurt. – »Mille tonnerres!« fluchte der Alte. »Tausend Donner. Wie kann er es wagen, daran zu zweifeln?«

Kurt antwortete ruhig:

»Weil ich viel Sergeantmajors kennengelernt habe, die nicht lesen konnten. Obgleich ich nach Ihrem Kommandeur verlangen könnte, will ich mich doch herablassen, Ihnen Rede zu stehen. Hier, Kamerad, lesen Sie!«

Er zog von seinen Pässen denjenigen hervor, der in französischer Sprache abgefaßt war, und gab denselben dem Sergeanten hin.

»Wird auch viel Gescheites sein«, brummte der Alte.

Er trat näher an das Feuer, um besser lesen zu können. Kaum aber war er fertig, so kam er zurück, machte in kerzengerader Haltung sein Honneur und sagte im respektvollsten Ton:

»Verzeihung, mein Leutnant! Das konnte ich nicht wissen!« – »So hätten Sie vorher sich ordnungsmäßig erkundigen sollen. Wo haben Sie Ihr Quartier?« – »In der Stadt.« – »So bleibe ich also hier. Treten Sie ab!«

Der Alte drehte sich stramm um und marschierte nach seinem Platz zurück, wo er sich kleinmütig niederließ. Rund um ihn herum begann ein Flüstern:

»Warum ging er nicht?« fragte einer. – »Weil wir kein Recht haben, ihn fortzuweisen.« – »Sie gaben ihm das Honneur!« – »Donnerwetter! Er ist ein Offizier, und ich habe ihn Er genannt und so angedonnert. Ein Glück, daß wir morgen abmarschieren.« – »Ist er ein Franzose?« – »Nein, ein Deutscher.« – »A bah! Was für ein Deutscher?« – »Ein Preuße!« – »Hole sie alle der Teufel! Welchen Grad hat er?« – »Premierleutnant.« – »Bloß? Pah!« – »Sapperlot! Aber bei den Gardehusaren! Und beim Generalstab ist er auch! Bei dieser Jugend!«

Das flößte Respekt ein; aber man ärgerte sich doch, daß ein alter Sergeantmajor von einem Zivilisten abgewiesen wurde. Das Ereignis sprach sich von Gruppe zu Gruppe; die Kinder des französischen Ruhmes ereiferten sich darüber, und es entrierte sich eine Art von Wallfahrt nach dem Ort, wo der Deutsche lag, und nach der Gruppe, in deren Mitte der Sergeantmajor saß.

Unter anderem kam auch ein leichter Reiter herbei, der mit im Norden des Landes gefochten hatte. Er erkundigte sich nach dem Ereignis und betrachtete sich die Reisenden.

»Sacrebleu!« meinte er überrascht. »Den sollte ich kennen!« – »Den Offizier?« fragte der Sergeantmajor. – »Nein, den anderen.« – »Welchen?« – »Den mit der großen Nase!« – »Wirklich?« – »Bei Gott, ich kenne ihn. Ich will mich erschießen lassen, wenn ich ihm nicht gegenübergestanden habe. Ich sah von seinen Kugeln viele unserer Braven fallen. Es war im Gefecht bei Cena Sonores.«

Diese Worte brachten eine ungeheure Wirkung hervor.

»Was? Er ist ein Feind?« fragte der Alte. – »Ja. Er war bei Juarez; er ist ein amerikanischer Jäger und wird Geierschnabel genannt.« – »Dann ist er ein Spion!« rief einer halblaut. – »Bist du deiner Sache gewiß?« fragte der Alte. – »Ganz und gar. Aber ich werde gehen, um Mallou und Rénard zu holen. Sie haben an meiner Seite gefochten und werden ihn wiedererkennen.« – »Gehe, mein Sohn! Mir geht ein Licht auf. Ein deutscher Offizier in Zivil mit einem Spion des Juarez und noch zwei anderen, die wohl auch Spione sind, das wäre ein Fang, wie er nicht besser gemacht werden könnte.« – »Dann würden wir diesem Deutschen zeigen, daß er doch vom Wasser fort muß. Aber wohin! Hahaha!« – »Still, Jungens«, befahl der Alte. »Diese Personen dürfen nicht ahnen, was hier vorgeht, sonst könnten sie doch suchen, uns zu entkommen, und das wäre jammerschade!« – »Uns entkommen?« fragte der Junge, der vorhin so voreilig gewesen war. »Dies ist ja ganz und gar unmöglich. Wir sind ja da!« – »Halte den Mund, Knabe!« entgegnete der Alte. »Lerne erst die Jäger kennen, dann wirst du erfahren, was so ein Kerl zu bedeuten hat. Wenn Juarez dieses Land wieder erobern sollte, so hat er es nur der Disziplin, der Ausdauer und der eisernen Tapferkeit und Bravour dieser amerikanischen Jäger zu verdanken.«

In diesem Augenblick kehrte der Soldat mit seinen zwei Kameraden zurück und sagte:

»Hier sind Rénard und Mallou. Sie mögen sehen, ob ich recht habe oder nicht.« – »Ja, Jungens«, meinte der Alte, »seht euch doch einmal den Kerl da drüben an, der die lange Nase hat. Der da, euer Kamerad, meint, daß euch diese Nase bereits bekannt sei.«

Die beiden Soldaten folgten dieser Aufforderung. Kaum hatten sie Geierschnabel erblickt, so meinte Rénard:

»Sacrebleu! Den Kerl kenne ich!« – »Und ich auch!« fügte Mallou hinzu. – »Wirklich?« fragte der Alte, der sehr gespannt aussah. – »Ja«, antwortete Rénard. »Er hat uns in der Bataille von Cena Sonores gegenübergestanden.« – »Es ist Geierschnabel, der berühmte amerikanische Jäger«, erklärte Mallou. »Er gehört zu den Truppen des Juarez, und wir drei haben mit eigenen Augen viele von den Unsrigen von seinen Kugeln fallen sehen.« – »Was? Wirklich? Ihr kennt ihn also genau?« fragte der Sergeantmajor, der es für angezeigt hielt, in einem solchen Fall, der jedenfalls ein sehr wichtiger war, so sicher wie möglich zu gehen. – »Natürlich, natürlich ist er es! Man kann sich ja gar nicht irren. Wer dieses Gesicht gesehen hat, für den ist eine Täuschung geradezu unmöglich, mein Sergeantmajor.« – »Hm«, brummte der Alte. »Das kann diesen Leuten verdammt gefährlich werden. Kennt Ihr vielleicht noch einen anderen von ihnen?« – »Nein.« – »Na, das tut auch weiter nichts zur Sache. Nun aber ist es unsere Pflicht, uns dieser Leute zu versichern. Aber das muß mit Vorsicht geschehen, da der eine von ihnen ein Offizier ist. Man muß dem General Meldung machen. Das werde ich besorgen, und ihr drei geht mit. Ihr anderen laßt euch einstweilen nicht das mindeste merken, habt aber ein scharfes Auge auf sie. Sollten sie sich entfernen wollen, so haltet ihr sie zurück, und zwar mit Gewalt, wenn es notwendig sein sollte.«

Er entfernte sich mit den drei Soldaten, die als Zeugen dienen sollten, und es trat nun eine Pause der Spannung ein, während welcher Kurt nicht das mindeste ahnte von dem, was ihm und den Seinigen bevorstand.