Kostenlos

Waldröschen I. Die Tochter des Granden

Text
Autor:
0
Kritiken
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

9. Kapitel

Als der Wagen vor der Rampe des Schlosses angehalten hatte und der Leutnant vom Bock gesprungen war, um den Damen die Hand zum Aussteigen zu bieten, da ein Diener zufälligerweise nicht zugegen war, ruhte das Auge des Notars, der unter dem Eingang stand, mit finsterem Erstaunen auf der Gestalt des jungen Mannes.

»Was ist das?« murmelte er. »Wer ist dieser Mensch? Welche Ähnlichkeit! Das ist ja ganz genau Graf Emanuel wie er vor dreißig Jahren aussah! Ist das Zufall, oder ist es etwas anderes?«

Er sah nur einen einzigen Augenblick lang den scharfen, forschenden Blick des Offiziers auf sich ruhen, aber es war ihm doch, als sei dieser Blick der Ausdruck einer Frage, die eine Gefahr enthielt.

Die Damen waren ausgestiegen und kamen die große Freitreppe empor. Der Notar trat ihnen mit einem verbindlichen Lächeln entgegen, verneigte sich tief vor ihnen und sagte zur Gräfin:

»Ich bin ganz glücklich, Sie als die erste begrüßen zu können. Darf ich bitten Condesa, mich den Herrschaften vorzustellen?« – »Gern«, antwortete Rosa.

Als sie zunächst den Namen Gasparino Cortejo nannte, fiel abermals ein eigentümlich forschender Blick aus dem Auge des Leutnants auf den Notar. Und als dieser letztere den Namen Alfred de Lautreville hörte, glitt es wie ein Zug der Beruhigung über sein scharfes Vogelgesicht. Der Offizier war ein Franzose – die Ähnlichkeit konnte also nur ein Zufall sein.

Jetzt war die Ankunft der Equipage im Schloß bemerkt worden, und es kamen Graf Alfonzo, Doktor Sternau und die Schwester Clarissa herbei, um die Gäste zu begrüßen. Man bemerkte natürlich die fremden Pferde vor dem Wagen, und Alfonzo fragte nach der Ursache dieses auffälligen Umstands.

»Señor des Lautreville hat die Güte gehabt, uns seine Pferde zu leihen, da die unsrigen erschossen worden sind«, erklärte Rosa. – »Erschossen?« fragte der Advokat erstaunt. »Wieso? Von wem?« – »Von demselben Mann, der uns heute nacht entflohen ist«

Sie erzählte den Vorgang, der bei den Zuhörern die größte Teilnahme erweckte. Dem jungen Offizier dankte man lebhaft für seine Tapferkeit und auch Cortejo reichte ihm die Hand. Er war sehr erfreut durch den Tod der beiden Briganten, denn nun hatte er keine Zeugen seiner Schuld mehr zu befürchten und bemerkte:

»Dieser Überfall wird sehr streng und auch wohl augenblicklich untersucht werden, denn es ist die Untersuchungskommission hier angekommen, an ihrer Spitze der öffentliche Ankläger aus Barcelona, der sich jetzt bei dem Grafen befindet. Die Herren haben nur noch die Condesa zu vernehmen, dann sind sie mit der Untersuchung des gestrigen Raubanfalls fertig und können sogleich nach Pons fahren.«

Man begab sich nun zu dem Grafen, bei dem man den Oberrichter fand. Graf Emanuel bewillkommnete die Freundin seiner Tochter mit Herzlichkeit und bedankte sich bei dem Leutnant mit großer Wärme für die Rettung der beiden Damen.

»O bitte«, wehrte Mariano ab, »es handelt sich hier keineswegs um eine so außerordentliche Heldentat. Wenn ich ja etwas gerettet habe, so ist es nur die Börse, nicht aber das Leben der Damen.« – »Nein«, fiel Rosa ein, »es ist in Wirklichkeit unser Leben, das wir Ihnen zu verdanken haben, denn wir wollten das Geld nicht hergeben, und die beiden Menschen legten bereits auf uns an, um uns zu erschießen. Sehen Sie unser Haus als das Ihrige an, Señor. Wir werden Sie auf keinen Fall so bald von Rodriganda fortgehen lassen.«

Mariano machte eine abwehrende Handbewegung und entgegnete:

»Ich tat meine Pflicht, als ich Sie nach Rodriganda geleitete, darf aber nicht wagen, Ihre Güte zu mißbrauchen.« – »Dies ist kein Mißbrauch«, fiel der Graf schnell ein. »Sie werden uns nur zu erhöhter Dankbarkeit verpflichten, wenn Sie unsere Einladung annehmen. Ich erwarte ganz bestimmt, daß Sie sich bei uns von Ihrer Reise ausruhen. Rosa wird Ihnen sofort Ihr Zimmer anweisen lassen.«

Es war nicht bloß die Höflichkeit, die den Grafen diese Worte sprechen ließ. Er war blind und konnte den Offizier nicht sehen, aber er hörte die Stimme desselben, und in dieser Stimme lag ein unerklärliches Etwas, das den Blinden mit süßer Gewalt fesselte.

Der Notar stand dabei und verglich die Züge der beiden Männer. Er mußte sich innerlich sagen, daß die Ähnlichkeit eine ganz ungewöhnliche sei, und so beschloß er im stillen, auf seiner Hut zu sein.

Als sich nach einiger Zeit die Herrschaften trennten, wurde der Leutnant von einem Diener nach den für ihn bestimmten Gemächern geleitet. Er erhielt drei Räume, ein Vorzimmer, ein Wohn- und ein Schlafzimmer. Er legte in dem Wohnzimmer seinen Degen ab und trat in den Schlafraum, um sich der Waschtoilette zu bedienen. Dort stand die Kastellanin, die nachgesehen hatte, ob sich alles in Ordnung befinde, und nun von ihm überrumpelt wurde.

Bei dem Schall seiner Schritte drehte sie sich nach der Tür. Sie wußte, daß der Gast ein französischer Offizier sei, und wollte ihn als solchen mit einem recht höflichen Knicks begrüßen. Da fiel ihr Auge auf sein Gesicht und – sie vergaß den Knicks. Mit großen, weitgeöffneten Augen starrte sie ihn an und rief:

»Herr, mein Gott, stehe mir bei! Graf Emanuel!«

Dieser Ausruf machte einen solchen Eindruck auf Mariano, daß er einen Schritt zurücktrat. Die Frau, die hier vor ihm stand, kannte er. In ihrem Schoß hatte er gelegen und oft in ihr gutes, fettglänzendes Gesicht geblickt.

»Elvira! Nicht wahr, Ihr seid die Kastellanin Elvira?« – »Ja«, antwortete sie, tief aufatmend. »Ihr kennt mich, Señor?« – »Ja.« – »Woher?« – »Ich hörte Euren Mann von Euch sprechen. Aber sagt, warum nanntet Ihr mich soeben Graf Emanuel?« – »Señor, das ist wunderbar! Ihr seht gerade und leibhaftig so wie der alte Graf Emanuel aus, als er zwanzig Jahre zählte.« – »Wirklich? Das ist ein Naturspiel, das zuweilen vorkommt.« – »Aber so genau, wie aus den Augen geschnitten. Wenn das mein Alimpo sähe!« – »Er hat mich ja bereits gesehen.« – »Ach ja, Ihr sagtet ja, daß er von mir gesprochen habe.« – »Hat Condesa Rosa seinen Gruß ausgerichtet?« – »Seinen Gruß? Nein. Hat er mich grüßen lassen?« – »Ja.«

Da zog sich ihr Gesicht ganz entzückt noch mehr in die Breite, und sie sagte mit strahlenden Augen:

»Ja, so ist er. Er läßt mich grüßen! Oh, wie schön von ihm! Aber was läßt er mir denn sagen?« – »Daß er nicht erschossen worden sei.« – »Mein Gott, ja, ich hörte von dem Diener, daß er mit angefallen worden ist. Wie gut für unsere gnädige Condesa, daß sie sich unter seinem Schutz befunden hat.« – »Allerdings«, lächelte Mariano, »er läßt Euch sagen, daß er sehr tapfer gesiegt hat.« – »Das glaube ich, ja, das glaube ich! Mein Alimpo ist tapfer, er ist sogar zuweilen ganz und gar verwegen und tollkühn, ich muß ihn mehr im Zaum halten! Euch aber, Señor, will ich nach der Bildergalerie führen, wo das Porträt des Grafen hängt. Er ließ es gerade in dem Jahr anfertigen, in dem der kleine Don Alfonzo geboren wurde. Ihr werdet sehen, daß Ihr diesem Bild genau gleicht wie ein Ei dem anderen. Vorher jedoch ruht Euch aus. Ihr habt mit Räubern gekämpft und werdet gar erschrecklich müde sein.«

Sie wollte sich zurückziehen, er aber hielt sie zurück und sagte:

»Bleibt, Señora, oder habt Ihr keine Zeit, mir einige Fragen zu beantworten?« – »Für Euch habe ich immer Zeit, Señor«, antwortete sie. »Euch und Señor Sternau könnte ich keine Bitte abschlagen.« – »Ihr meintet den deutschen Arzt? Was ist das für ein Mann?« – »Oh, ein Mann, ein Mann – ja, beinahe so brav und tüchtig wie mein Alimpo. Er ist aus Paris gekommen und wird unseren Grafen sehend machen. Die berühmtesten Ärzte haben vor ihm weichen müssen. Gestern wurde er von Räubern angefallen.« – »Das hörte ich vorhin. Kennt man keinen Grund, weshalb er getötet werden sollte? Hat er vielleicht einen Feind?« – »Der? Einen Feind? Nein, sicher nicht! Den müssen ja alle Menschen liebhaben.«

Der Angriff auf den Arzt gab Mariano viel zu denken. Es war ganz außer allem Zweifel, daß der Capitano die Hand dabei im Spiel hatte; dann aber mußte es jemand geben, der den Tod des Arztes wollte und den Capitano dafür bezahlt hatte. Dieses Schloß Rodriganda steckte voll finsterer Geheimnisse, die aufgeklärt werden mußten.

»Ich werde, wie es scheint, einige Zeit hier verweilen«, fuhr Mariano fort, »Und darum wird es zu entschuldigen sein, wenn ich mich über die Bewohner des Schlosses zu unterrichten wünsche. Darf ich mich bei Euch erkundigen?« – »Tut es immerhin, Señor. Ich werde Euch gern Auskunft erteilen.« – »Schön! Da ist zunächst dieser Señor Gasparino Cortejo. Was ist das für ein Mann?« – »Wenn ich aufrichtig sein soll, Señor Leutnant, so kann kein Mensch diesen Cortejo leiden. Er steht seit langer Zeit als Sachwalter im Dienst des Grafen und ist in geschäftlichen Dingen seine rechte Hand. Er ist stolz und finster, und man hält ihn für einen Mann, der das Vertrauen des Grafen zu seinem eigenen Vorteil benutzt. Das sagt mein Alimpo auch.« – »Sodann diese Doña Clarissa?« fragte Mariano. – »Sie ist eine Stiftsdame und seit einiger Zeit als Duenja der Condesa hier. Sie ist sehr fromm und verkehrt am liebsten mit Gasparino. Man liebt sie nicht.« – »Und der junge Graf?« – »Dieser ist erst seit einigen Tagen anwesend. Er war in Mexiko.« – »Wie lange?« – »Er war noch Knabe, als er hier abgeholt wurde.« – »Ah, das ist sonderbar! Ein Graf gibt seinen Stammhalter als Kind über die See hinüber in ein Land, wo die unsichersten Zustände herrschen und das Leben eines Menschen nichts gilt.« – »Oh, Señor, es gab Umstände, die den Grafen veranlaßten, es zu tun.« – »Darf man diese Umstände erfahren?« – »Gewiß, Señor, sie sind ja allbekannt, das sagt mein Alimpo auch. Der Oheim des gnädigen Grafen, der Don Ferdinando hieß, war als jüngerer Sohn von der Nachfolge ausgeschlossen; er nahm sein Erbteil und ging nach Mexiko, wo er sich ankaufte und nach und nach ein steinreicher Mann wurde, daß er sein Vermögen gar nicht kannte. Er war unverheiratet geblieben und wollte den zweiten Sohn unseres Grafen, der damals zwei Söhne hatte, zum Erben einsetzen. Dabei aber stellte er die Bedingung, daß dieser Sohn ihm zur Erziehung übergeben werde. Don Emanuel ging darauf ein, weil es sich um ein ganz außerordentliches Vermögen handelte.« – »Der Knabe wurde also nach Mexiko gebracht?« – »Ja.« – »Wann?« – »Oh, ich erinnere mich noch ganz genau, denn es war gerade der Geburtstag meines guten Alimpo, als der Knabe abgeholt wurde, nämlich im Jahr 18**, den ersten Oktober.«

 

Marianos Augen wurden immer größer, und sein Puls schlug doppelt schnell, aber er beherrschte sich und fragte:

»Der Knabe hieß also Alfonzo?« – »Ja.« – »Er wurde abgeholt?« – »Ja.« – »Von wem?« – »Von dem Inspektor Don Ferdinandos, der zu diesem Zweck herübergekommen war.« – »Wie hieß er?« – »Pedro Arbellez. Ich habe mir diesen Namen ganz genau gemerkt, weil er so spaßhaft klingt.« – »War noch jemand bei dem Kind?« – »Nur die Frau, die seine Amme gewesen war.« – »Wie hieß diese?« – »Maria Hermoyes.« – »Wo schiffte sich Pedro Arbellez ein?« – »In Barcelona. Der Graf und die Gräfin begleiteten das Kind bis dahin; ich war auch dabei.« – »Begleiteten sie den Knaben bis an das Schiff?« – »Nein. Es lief wegen eines Sturmes nicht aus; darum blieb der Mexikaner noch zwei Nächte in einem Gasthof.« – »Wie hieß dieser Gasthof?« – »Zum großen Mann.«

Das stimmte ja ganz genau mit der Erzählung des toten Bettlers überein. Mariano hatte alle Mühe, seine Aufregung zu verbergen. Er nahm eine Miene an, als ob er an diesen Dingen ein ganz gewöhnliches Interesse finde, und fragte so gleichmütig wie möglich.

»Stand Señor Cortejo damals bereits im Dienst des Grafen?« – »Ja.« – »Ist er verheiratet?« – »Gewesen, ja.« – »Hat er Kinder?« – »Nein.« – »Hm, wißt Ihr nicht, ob er sehr nahe Verwandte hat, die Kinder besitzen?« – »Er hat weder Verwandte noch Freunde.« – »Lebt Don Ferdinando in Mexiko noch?« – »Nein. Er ist seit zwei Jahren tot.« – »Und Alfonzo hat ihn beerbt?« – »Ja, Señor. Er ist ungeheuer reich geworden.« – »Ihr sagtet, daß Don Emanuel zwei Söhne gehabt habe?« – »So ist es. Aber der Älteste starb bald darauf, als Alfonzo nach Mexiko gegangen war. Er war in Madrid, um Offizier zu werden, und bekam das Fieber, dem er erlag. Darum ist nun Alfonzo der einzige Sohn und wird die Grafenkrone erben.« – »Mir scheint, dieser Alfonzo sehe dem Señor Gasparino und der Doña Clarissa recht ähnlich.« – »Ach, Señor, habt Ihr dies auch bemerkt?« – »Die Ähnlichkeit ist beinahe auffallend.« – »Ja, das sagt mein Alimpo auch.« – »Ist Don Alfonzo beliebt?« – »Nein. Er war ein so lieber Knabe, und ich hab‘ ihn sehr viel auf diesen meinen Händen getragen, aber in Mexiko scheint er ganz anders geworden zu sein. Er verkehrt mehr mit Cortejo und Clarissa als mit seinem Vater und seiner Schwester.« – »Hm! Und nun diese Doña Amy Lindsay?« – »Dies ist eine Engländerin, die von unserer Condesa geliebt wird. Ihr Vater soll sehr reich sein. Weiter weiß ich nichts.« – »So bin ich also mit meinen Fragen zu Ende. Ich danke Euch, Señora.« – »So erlaubt, daß ich Euch auch eine Frage vorlege, Señor.« – »Tut es!« – »Seid Ihr vielleicht mit den Rodrigandas verwandt?« – »Nein. Mein Name ist Lautreville.« – »Oder sind die Lautrevilles mit den Cordobillas verwandt? Die gnädige Gräfin, unserer Condesa Mutter, war nämlich eine Cordobilla.« – »Nein, wir sind nicht mit ihnen verwandt.« – »Dann ist Eure Ähnlichkeit ganz unbegreiflich!« meinte die Kastellanin. »Und nun sagt mir noch, ob mein Alimpo bald wiederkommen wird.« – »Ganz sicher noch heute.« – »Ich danke Euch, Señor! Ich werde jetzt gehen. Wenn Ihr mich oder die Bedienung braucht, so dürft Ihr nur klingeln.«

Sie ging. Mariano schritt in tiefer Erregung in seinem Zimmer auf und ab. Was er erfahren hatte, war genug, jeden Tropfen seines Blutes in Wallung zu versetzen. Wenn seine Ahnung sich erfüllte, so war er der richtige, echte Erbe von Rodriganda, der Sohn des Grafen Emanuel, der Bruder der herrlichen Gräfin Rosa. Und dieser Alfonzo war ein untergeschobenes Kind, dessen Herkunft man nur bei dem Advokaten erfahren konnte. Vielleicht wußte doch auch der Capitano etwas davon.

Aber welchen Grund hatte dieser letztere, ihn nach Rodriganda zu senden? Das konnte Mariano nicht begreifen. Wenn er wirklich der Sohn des Grafen war, so war es doch gefährlich, ihn in die Nähe desselben zu bringen, da irgendein ganz zufälliger Umstand das Geheimnis entdecken konnte.

Während Mariano sich mit diesen Gedanken beschäftigte, saßen zwei zusammen, die sich von demselben Thema unterhielten, nämlich Gasparino Cortejo und Schwester Clarissa.

»Ja, es ist mir ein Stein vom Herzen«, gestand der erstere, »seit ich weiß, daß die Räuber tot sind. Dieser Leutnant konnte mir keinen größeren Gefallen tun, als sie erschlagen.« – »Desto bedenklicher ist aber seine Ähnlichkeit«, meinte die Schwester. – »Sie ist geradezu auffällig! Ich erschrak gewaltig, als ich ihn erblickte.« – »Ich ebenso! Wer ihn und Alfonzo neben dem Grafen sieht, hält ihn ganz sicher für den Sohn desselben.« – »Es ist mir ein Rätsel. Als Naturspiel ist die Ähnlichkeit denn doch zu bedeutend.« – »Hat vielleicht der Capitano …« – »Wo denkt Ihr hin, Señora! Ein Räuber ist niemals so unvorsichtig. Ich kann mir nur einen einzigen Grund denken.« – »Welchen?« – »Der Knabe, den wir den Briganten überließen, ist auch umgetauscht worden. Nun denkt der Capitano, er hat den meinigen noch, während es doch nicht der Fall ist.« – »Und der zweimal Umgetauschte wäre dann dieser Leutnant?« – »Ja.« – »Wie käme dieses Kind nach Frankreich zu den Lautrevilles?« – »Wer weiß das! In der Welt passiert gar vieles, was man für unmöglich hält.« – »Man muß schlau sein und diesen Leutnant ausforschen. Gott der Herr hat uns ja die List dazu gegeben, über unsere Gegner zu triumphieren«, meinte die Schwester salbungsvoll. – »Pah! Dazu bedarf es keiner großen List. Ein junger und unerfahrener Mensch ist leicht auszuholen. Ich werde sein Vertrauen sehr bald gewinnen und dann alles leicht erfahren können.« – »Weiß der Capitano, wessen Sohn damals umgewechselt wurde?« – »Nein.« – »Nun, dann ist es ja sehr leicht möglich, daß der Leutnant doch der richtige Rodriganda ist. Es kann ja Gründe geben, die den Räuber veranlaßten, diesen Menschen unter der Maske eines Leutnants nach Rodriganda zu schicken.« – »Das ist falsch. Der Leutnant ist nicht bei den Räubern aufgewachsen; das sieht man doch gleich bei dem ersten Blick. Dieses Äußere, diese Eleganz und Tournüre eignet man sich nicht unter Briganten an. Er scheint nicht eine gewöhnliche Bildung zu besitzen, wie aus den Worten hervorging, die ich ihn sprechen hörte. Nein, er ist kein Brigant.« – »Bei klarerem Nachdenken scheint es mir allerdings ebenso. Wäre er das Kind, das wir dem Capitano überließen, so würde er heute seine Kameraden nicht getötet haben!« – »Das ist der Umstand, der auch mich beruhigt. Aber dennoch war es eine Schwachheit von uns, darauf einzugehen, daß der Knabe nicht getötet werden sollte. Wer tot ist, der ist stumm und kann nicht mehr schaden.« – »Eine noch größere Schwäche war es von Euch, Señor, dem Capitano jenen Zettel zu unterschreiben. Man hält es für unglaublich, daß ein Jurist eine solche Dummheit begehen kann.« – »Ich befand mich ja in seiner Hand, meine teure Clarissa.« – »Das will mir nicht einleuchten! Ein Räuber tritt nicht vor den Richter, um jemand anzuklagen.« – »Nein, aber ein Räuber geht zum Grafen und bringt ihm seinen richtigen Sohn zurück. Das Dokument wird mir keinen Schaden tun. Der Hauptmann bezweckt mit demselben jedenfalls nur eine Gelderpressung.« – »Wie könnte er dem Grafen das Kind zurückbringen, da er ja gar nicht weiß, ob es dessen Sohn ist!« – »Er weiß es allerdings nicht; das heißt ich habe es ihm verschwiegen. Aber ein Bandit ist scharfsinnig. Er kann nachgeforscht haben. Und der Umstand, daß er sich weigerte, den Knaben zu töten, läßt mich vermuten, daß er von der Abstammung desselben eine Ahnung hat. Übrigens ist die Sache jetzt einfach: wenn er sich einbildet, mir gefährlich zu werden, so schieße ich ihn nieder.« – »Ja, mein Teurer«, sagte die Schwester mit einem frommen Augenaufschlag, »Es ist die Pflicht der Kinder Gottes, die Welt von dem Ungeziefer zu befreien, das im Staub kriecht. Was denkt Ihr nun von dieser englischen Lady? Ist sie nicht eine Schönheit?« – »Eine Schönheit ersten Ranges.« – »Und das sagt Ihr in einem so begeisterten Ton. Ich hoffe nicht, daß die Miß mir gefährlich wird.« – »Das hast du nicht zu befürchten. Du weißt, daß du die einzige bist, die mich von meiner schwächsten Seite kennengelernt hat.« – »Und ich bin die, welche mit deiner Schwachheit Nachsicht hatte. Gott hat uns die Liebe zur Verschönerung dieser sündhaften Erde gegeben, und es ist Ungehorsam gegen seinen väterlichen Willen, wenn man ihm widerstrebt.«

Die beiden frommen Seelen trösteten sich in inniger Umarmung über die Sündhaftigkeit der Erde. Hätten sie gewußt, daß Mariano ihren Schlichen so scharf auf der Fährte war, so wäre ihnen wohl die Lust vergangen, dem »väterlichen Willen Gottes« in dieser Weise gehorsam zu sein.

10. Kapitel

»In deiner Liebe ruht mein Glauben,

Ruht all mein inniges Vertrau‘n,

Will das Geschick dich mir auch rauben,

Ich werde doch den Himmel schau‘n.

In deiner Liebe ruht mein Hoffen,

Ruht meiner Zukunft Heil und Licht.

Steht solch ein Paradies mir offen,

So tret‘ ich ein und zaud‘re nicht.

In deiner Liebe ruht mein Leben,

Ruht meine ganze Seligkeit.

O laß, o laß nach dir mich streben,

Und sei mein Eigen allezeit!«


Die Anwesenheit der beiden Gäste brachte in das einsame Leben auf Rodriganda etwas mehr Bewegung und Abwechslung.

Was den Grafen Emanuel betraf, so freute er sich, wenn die jungen Leute auf eine halbe Stunde sein Krankenzimmer teilten, um ihn zu erheitern. Er fühlte sich auf eine ganz unerklärliche Weise zu dem Leutnant hingezogen; auch das stille, sinnige Wesen der Engländerin mutete ihn sympathisch an, und der Umgang mit solchen Personen konnte gar nicht anders als von vorteilhafter Wirkung auf seinen angegriffenen Zustand sein.

Da die drei Ärzte Rodriganda verlassen hatten, so befand er sich unter der alleinigen Behandlung Sternaus, und die Kunst desselben hatte solche Erfolge, daß der Arzt bereits nach einigen Tagen erklärte, daß der Stein entfernt sei. Nachdem der angegriffene Körper sich gekräftigt habe, könne man daran denken, sich auch mit den erblindeten Augen zu beschäftigen.

Das war eine Botschaft, die alle Bewohner des Schlosses in Freude versetzte – die beiden Frommen und Alfonzo ausgenommen, die äußerlich Freude zeigten, innerlich aber zürnten und miteinander Pläne schmiedeten, die Heilung zu verhindern.

Es war eigentümlich, daß die regelmäßig im Park unternommenen Spaziergänge stets zu vieren begonnen wurden und doch zu zweien endeten. Wahrend der Graf auf der Veranda die balsamische Luft genoß, lustwandelten die anderen zwischen Blumen. Da fand sich dann stets der Arzt zu Rosa und der Leutnant zu Amy, ein Umstand, dessen sogar der Graf mit einem liebenswürdigen Scherz gedachte. Mariano fühlte, daß die Liebe mächtig in ihm emporflammte, so daß er sie unmöglich bewältigen konnte, und Amy sah in dem ritterlichen Jüngling die Verwirklichung ihres Ideales, ohne weiter und tiefer über die Gefühle nachzudenken, die ihr Herz beseelten.

So verging über eine Woche, ohne daß irgendein Ereignis von außen her das Stilleben unterbrochen hätte. Man las, man promenierte, man fuhr zuweilen aus, man musizierte, und überall zeigte sich Mariano als ein vollendeter Kavalier. Nur bei der Musik schloß er sich von jeder Beteiligung aus. Er gestand aufrichtig, daß er nicht Klavier spielen könne.

Es war eines Abends, zur Zeit der Dämmerung, der Arzt befand sich bei dem Grafen in dessen Zimmer, Rosa war mit dem Bruder ausgefahren, und der Leutnant hatte wieder, wie oft, in der Galerie vor dem Bild gestanden, das ihm so ähnlich war, da trat er aus der Galerie in die an dieselbe stoßende Bibliothek, in der es bereits ziemlich dunkel war, so daß er nicht bemerkte, daß Amy sich dort befand.

Sie hatte, in einer Fensternische sitzend, vorher in einem Buch gelesen und genoß jetzt die stille Dunkelstunde in jenem Hinträumen, für welche die Dämmerung so sehr geeignet ist. Als sie ihn eintreten hörte, verhielt sie sich ruhig, weil sie glaubte, daß er nur hindurchzugehen beabsichtige. Er aber tat dies nicht, sondern trat an eins der anderen Fenster und blickte hinaus in die Landschaft, von der das scheidende Tageslicht Abschied nahm.

So vergingen einige Minuten in tiefer Stille, dann wandte er sich um, vielleicht um zu gehen, und sein Blick fiel dabei auf eine spanische Gitarre, die in der Nähe des Fensters an der Wand hing. Er nahm sie herab und fand, daß sie gestimmt sei. Rosa liebte dieses Instrument und hatte es am Nachmittag gespielt Er griff einige Akkorde und begann endlich einen spanischen Tanz, bei dessen rauschenden Klängen sich Amy unwillkürlich erhob.

 

Die Gitarre ist in Spanien ein sehr beliebtes Instrument; sie ist fast in jeder Familie zu finden, und man trifft nicht selten Leute, die eine wirkliche Virtuosität darauf erlangt haben. Auch Amy hatte solche Spieler gehört, so aber, wie der Leutnant, hatte noch keiner gespielt. Darum schlug sie, als das Spiel zu Ende war, die Hände zusammen und rief:

»Bravo! Señor! Das war ja ein Meisterstück! Und Sie sagen, daß Sie nicht spielen können!«

Er war anfangs erschrocken, trat aber doch näher und erwiderte:

»Ah, Señorita, ich wußte nicht, daß Sie anwesend waren. Übrigens habe ich nur gesagt, daß ich nicht Klavier zu spielen verstehe.« – »Aber warum ließen Sie uns nicht wissen, daß Sie ein solcher Künstler auf der Gitarre sind?« – »Weil ich meine eigene Ansicht über die Musik habe.« – »Und welche Ansicht ist dies, Señor?« – »Die Musik ist vorzugsweise die Kunst des Gefühls, des Herzens, und niemand gibt seine Gefühle gern der Öffentlichkeit preis. Ich kann ein Konzert anhören und mich daran erfreuen, aber ich kann nicht meine eigenen Gedanken spielen, um sie hören zu lassen.« – »So sprechen Sie von Ihren eigenen Kompositionen?« – »Ich habe niemals den Namen einer Note lernen mögen. Ich spiele, was mir meine eigene Phantasie eingibt, und das spiele ich nur für mich und nicht für andere.« – »Oh, Sie sind egoistisch. Singen Sie auch?« – »Ja. Was mir der Augenblick eingibt.« – »Sie sind also ein Improvisator! Und niemand darf Sie hören?« – »Gar niemand.« – »Auch – ich nicht, Señor?«

Er schwieg. Da trat sie nahe an ihn heran, legte ihm das kleine Händchen auf den Arm und versetzte:

»Ich möchte Ihnen etwas sagen, was ich sonst keinem sagen würde.« – »Bitte, sprechen Sie!«

Sie zögerte einige Augenblicke und entgegnete mit leiser Stimme:

»Sie können alles, Sie wissen alles; ich habe Sie beobachtet und bin stolz auf Sie gewesen. Aber eine Lücke fand ich doch, und das hat – ja, das hat mich geärgert.« – »Welche Lücke ist das, Señorita?« fragte er lächelnd. – »Sie waren nicht musikalisch. Ein Mann ohne Sinn für Töne kann kein Herz, kein Gemüt haben. Das ist es, was mich ärgerte. Ich wollte Sie so gern fehlerfrei sehen. Und nun ich jetzt bemerkte, daß ich mich geirrt habe, sagen Sie, daß niemand, gar niemand Sie hören dürfe! Señor, lassen Sie mich Ihre Vertraute sein, lassen Sie mich in dem Bild, das ich von Ihnen habe, jene Lücke ausfüllen, die mich so schmerzte!«

Mariano hätte bei diesen Worten laut aufjubeln mögen. Sie gestand ihm, daß sie sich so viel mit seinem Bild beschäftige; es hatte sie geärgert und geschmerzt, daß es etwas geben sollte, worin ihm andere überlegen seien; das machte ihn so glücklich, daß er antwortete:

»Nun wohl, Señorita, ich werde Ihnen etwas vorsingen. Aber was?« – »Was singen Sie am liebsten?« – »Nichts und alles. Ich lerne niemals ein Lied; ich improvisiere nur.« – »Nun, so singen Sie ein – Liebeslied.« – »Dann aber bin ich ja gezwungen, mir eine Dame zu denken, der ich diese Liebe und dieses Lied widme!« – »Natürlich!« meinte sie in heiterem Ton. – »Aber wenn ich nun keine solche Dame kenne?« – »Gibt es wirklich keine, der Sie ein Lied widmen könnten, Señor?«

Er schwieg eine Weile, endlich antwortete er:

»Ja, es gibt eine, und an diese will ich jetzt denken, wenn ich singe.«

Damit führte er sie zu dem Sessel, auf dem sie vorhin gesessen hatte, und schritt ganz in den Hintergrund des Raumes zurück, wo er sich auf einen Diwan niederließ. Dort herrschte bereits ein solches Dunkel, daß sie ihn nicht erkennen konnte.

Es verging eine Weile, und sie ahnte, daß er jetzt an keine andere, als nur an sie allein denke. Nun hörte sie die Saiten klingen, leise und mild, dann stärker, in einzelnen Akkorden und Tönen, die sich suchten und schließlich zu einer Melodie zusammenfanden. Und jetzt hörte sie seine Stimme:

 
»In deiner Liebe ruht mein Glauben,
Ruht all mein inniges Vertrau‘n.
Will das Geschick dich mir auch rauben,
Ich werde doch den Himmel schau‘n,
In welchem deines Auges Sonne
Mich grüßt so klar, so hell, so rein,
Voll Prophezeiung süßer Wonne,
Daß du mein Eigen werdest sein.«
 

Als der erste Ton seines Liedes erschollen war, war Amy erschrocken zusammengezuckt. Das klang ja so süß, so unbeschreiblich mild, das konnte unmöglich die Stimme eines Mannes sein! So blieb es während des ganzes Verses. Nun aber leitete ein kurzes Zwischenspiel nach Moll hinüber, und es erklang lauter und bewegter die nächste Strophe:

 
»In deiner Liebe ruht mein Hoffen,
Ruht meiner Zukunft Heil und Licht.
Steht solch ein Paradies mir offen,
So tret‘ ich ein und zaud‘re nicht.
Das Leid und Weh vergang‘ner Zeiten
Sinkt in Vergessenheit zurück.
Und Gottes Segen wird uns leiten
Zu dieses Lebens höchstem Glück.«
 

Jetzt leitete ein abermaliges Zwischenspiel nach der Durtonart zurück, die Akkorde wurden voller und kräftiger, die Melodie setzte sich aus festen, sicheren Tonmotiven zusammen, und auch die Stimme des Sängers erklang im vollen Brustton:

 
»In deiner Liebe ruht mein Leben,
Ruht meine ganze Seligkeit!
O laß, o laß nach dir mich streben,
Und sei mein Eigen allezeit.
Trau meines Herzens sich‘rem Schlage
Und meines Pulses heil‘ger Macht,
Du bist die Sonne meiner Tage,
Und ohne dich ist‘s um mich Nacht!«
 

Das Lied war verklungen, und lange Zeit herrschte in dem jetzt dunklen Raum das tiefste Schweigen. Dann aber kam Mariano langsam aus dem Hintergrund herbei, um das Instrument an seinen Platz zu hängen.

»Ist nun die böse Lücke verschwunden, Señorita?« fragte er. – »Oh, vollständig!« meinte sie. »Und dieses Lied gab es vorher nicht? Dieses Lied haben Sie erst jetzt gedichtet und improvisiert?« – »Ja.« – »Und die Melodie auch?« – »Ebenso.« – »Aber, Señor, da sind Sie ja ein wirklicher, ein wahrhaftiger Dichter! Darf ich nun nur eins noch erfahren? An wen war das Lied gerichtet?« – »An – Sie!«

Kaum war das Wort verklungen, so fühlte sie sich von ihm umschlungen, und er zog sie an sich, legte ihr die Hand auf das schöne Köpfchen und sagte:

»Gott segne Sie, Miß Amy! Ich liebe Sie unendlich, aber ich darf jetzt noch nicht davon sprechen. Doch später werde ich Sie in Mexiko oder in jedem anderen Winkel der Erde aufsuchen, um mir das Glück zu holen, das ich nur bei Ihnen finden kann!«

Ein langer, inniger Kuß glühte auf ihren Lippen, die sich nicht sträubten, und dann verließ er die Bibliothek. Sie hörte seine verhallenden Schritte und sank in den Stuhl, wo sie noch lange saß, vor Glück und Freude weinend und die glühenden Wangen in den Händen verbergend.

Später hörte sie das Rasseln eines Wagens. Rosa kehrte mit ihrem Bruder zurück. Sie hatten unterwegs den Briefboten gefunden und von ihm mehrere Briefe und Zeitungen erhalten. Diese wurden an die Adressaten verteilt. Auch an den Advokaten fand sich ein Schreiben vor. Es trug den Poststempel Barcelona und lautete:

»Señor!

Soeben bin ich mit meiner ›Pendola‹ hier eingelaufen. Die Reise hat viel Geld gebracht Ich erwarte Euch baldigst, denn ich möchte die Jahreszeit benutzen und bald wieder in See stechen.

Henrico Landola,

Seekapitän.«

Dieser Brief brachte einen sehr freudigen Eindruck auf den Advokaten hervor. Er ging sofort zu seiner Verbündeten, der Stiftsdame, und rief, als er kaum die Tür hinter sich geschlossen hatte:

»Clarissa, eine frohe Nachricht!«

Sie erhob sich aus der Chaiselongue, in der sie gesessen hatte, und meinte: