Auf fremden Pfaden

Text
Autor:
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Auf fremden Pfaden
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Inhaltsverzeichnis

Saiwa Tjalem

Der Boer van het Roer

1.

2.

3.

4.

Er Raml el Helahk

Der Khabir

In den Magarat ess ssuchur

Isa Ben Marryam akbar

Blutrache

In Basra

El Lakit

Um des Kindes willen

Der Kutb

In Kairo

In Kaïrwan

Der Kys Kaptschiji

1.

2.

Maria oder Fatima

Gott läßt sich nicht spotten

1.

2.

3.

Ein Blizzard

Fußnoten

Karl May

Auf fremden Pfaden

Saiwa Tjalem

Ein eigentümliches, röchelndes Grunzen weckte mich aus dem Schlafe. Oder war es nur das Schnarchen eines meiner Schlafgefährten oder einer meiner Schlafgefährtinnen gewesen? Es herrschte in der hermetisch verschlossenen Winterhütte eine Atmosphäre, welche ganz zum Verzweifeln war. In dem engen Raume hatten acht Menschen und fünf Hunde Platz gefunden, aber fragt mich nur nicht, wie! Diese dreizehn Geschöpfe staken mit ihren zweiundfünfzig Vorder- und Hinderbeinen so neben-, über-, unter- und durcheinander, daß die Entschlingung so zahlreicher und verworrener Gliedmaßen eine absolute Unmöglichkeit zu sein schien.

In der Mitte der aus Rentierfellen erbauten Zelthütte kohlten die Überreste eines riesigen Feuers, dessen stechender Rauch eine einzige, undurchdringliche Wolke bildete, da die Abzugsöffnung zugedeckt worden war. Ich lag mit dem Kopfe auf der fischthranduftenden Hüfte der guten Mutter Snjära, welcher Name zu deutsch »Maus« bedeutet; mein rechtes Bein stak unter dem Leibe des alten Onkel Sätte, welches Wort mit »Pfeil« übersetzt werden muß, und mein linker Fuß diente einem der Hunde als Kopfkissen. Vater Pent, d. i. Benedikt, der Gesegnete, hatte sich meinen Pelzrock aufgeknöpft, um sein teures Haupt auf die Gegend meines Magens zu betten, so daß der Schwanz des Hundes, welchem er selbst als Matratze diente, mir lieblich krabbelnd um die Nase strich. Zu diesen unschätzbaren Bequemlichkeiten kam die Hitze, welche sich innerhalb meiner luftdichten Fell- und Pelzbekleidung entwickelte, und der aromatisch-diabolische Duft einer dreizehnfachen Trans- und Respiration nebst der Lebhaftigkeit jener kleinen, ritterlichen Geschöpfe, welche in solcher Hundenähe unvermeidlich sind, und von denen der alte, lustige Fischart gesungen hat: »Mich beizt neizwaz, waz mag daz gseyn?« Zieht man dazu in Betracht alle diatonischen und chromatischen Herzensergießungen, deren schnarchendes Fortissimo das Zelt erfüllte, so wird man es nicht unbegreiflich finden, daß ich mich für einen Augenblick dem weichen Arm des Schlafs entwand.

Doch nein, es war kein Schnarchen gewesen, welches mich erweckte, denn ich vernahm jetzt, da ich munter war, jenes grunzende Röcheln zum zweitenmal. Es ertönte draußen in einiger Entfernung von der Hütte. Gleich darauf krachte ein Schuß, und eine laute Stimme rief:

»Attje, tassne le tarfok ... Vater, der Bär ist da!«

Im Nu waren alle zweiundfünfzig Extremitäten in schleunigster Bewegung, und jene scheinbar unmögliche Entwirrung hatte sich in Zeit von zwei Sekunden glücklich vollzogen. Die acht Menschen schrieen und brüllten; die fünf Hunde bellten und heulten; das Feuer wurde vollends zertreten, indem ein jeder nach seinen Waffen suchte und diejenigen eines anderen erwischte. Und doch befanden wir uns nach kaum einer Minute vor der Hütte und eilten nach der Gegend, in welcher noch immer Neete, der Sohn des alten Pent, um Hilfe rief. Er hatte mit Kakke Keira die Wache, kam uns in höchster Aufregung entgegengesprungen und schrie aus Leibeskräften: »Tarfok, tarfok le mesam ... der Bär, der Bär hat mein Rentierkalb!«

»Wo ist er?« fragte der Alte.

»Tuos, tuos, kwouto pluewai ... dort, dort, auf dem Sumpfe!«

»Nehmt eure Ski,« kommandierte Vater Pent; »eure Flinten, Messer und Spieße. Nehmt auch Stricke mit. Wir eilen ihm nach!«

Die Schneeschuhe lehnten alle an dem Zelte. Wir legten sie an, und fort ging es, dem Sumpfe zu, der sich in geringer Entfernung von der Lappenwohnung in die Ebene zog. Kakke Keira blieb bei der Frau und den drei Töchtern zurück. Wir anderen zählten fünf Personen: Pent, Onkel Sätte, Neete, ich und ein zweiter Knecht, welcher Anda, d. i. Andreas, hieß.

Es war vielleicht eine Stunde nach Mitternacht, aber wir konnten dennoch recht gut sehen, denn am Himmel stand ein Nordlicht, wie ich es in dieser Pracht und Herrlichkeit noch niemals beobachtet hatte. Es war nicht jenes leise sich ausbreitende und wieder zusammenfallende, milde Farbenspiel, auch nicht jenes groß und ruhig am Firmamente stehende Phänomen, sondern es war ein ununterbrochenes, gewaltiges Emporschleudern strahlender Farbenbüschel, welche in die Unendlichkeit hinauszusprühen schienen, ein Wirbeln von tausend hintereinander in immer größeren Radien sich drehenden Feuerrädern, ein ununterbrochenes Kämpfen, Ringen, jagen und Haschen von allen möglichen Gluten, Lichtern, Farben und Nuancen, ein Schauspiel, welches wahrhaft überwältigend auf mich gewirkt hätte, wenn nicht der Jäger in mir erweckt worden wäre.

Die Spur des Bären war in dem tiefen Schnee ganz deutlich zu erkennen, und nach kurzer Zeit sahen wir ihn selbst als dunkeln, sich rasch fortbewegenden Punkt auf der weißen Fläche des Sumpfes erscheinen. Es mußte ein gewaltiges Tier sein, da er imstande war, bei einem so raschen Laufe das Rentierkalb mit sich fortzuschleppen.

Dennoch brauchten wir uns vor ihm nicht zu fürchten. Der lappländische Bär ist noch weniger gefürchtet als der Wolf; er besitzt nicht im entferntesten die Furchtbarkeit, welche z. B. den nordamerikanischen Grizzly so gefährlich macht, und wagt sich nur dann an den Menschen, wenn ihn die Notwehr dazu treibt. Die Lappen waren alle sehr gewandte Schneeschuhläufer. Wir flogen mit der Schnelligkeit eines Eilzuges über die Fläche dahin; aber dies schien dem alten Pent noch immer nicht flüchtig genug zu sein.

»Schneller,« rief er, »sonst erreicht er den Finop, und versteckt sich hinter die Plassait, wo wir ihm nur schwer folgen können.«

Wir griffen weiter aus; aber es war, als habe der Bär die Worte des Anführers vernommen. Er bog plötzlich nach links ab. Das Tier mußte seine Verfolger bemerkt haben und trottete nun dem Hügel zu, welcher den Vorläufer des Fjälls bildete, der mit seinem vom Schnee bedachten Tannendunkel auf das Sumpfland niederblickte. Wir suchten dem Flüchtlinge den Weg abzuschneiden, aber es gelang uns nicht; er war aus unserem Auge entschwunden, noch ehe wir den Hügel erreichten.

»Hier ist die Käja,« meinte Onkel Sätte; »sie führt gerade an der bösesten Stelle empor. Legt die Ski ab! Sie taugen hier nichts mehr.«

Wir hingen die Schneeschuhe über und stiegen die steile Lehne in die Höhe. Der Schnee lag mehrere Fuß tief, was den Aufstieg sehr beschwerlich machte. Wir gaben uns alle mögliche Mühe, so daß wir unter unserer schweren Kleidung in Schweiß gerieten, kamen aber doch nur langsam vorwärts. Endlich erreichten wir die Kuppe des Hügels, mußten uns aber mit der Spur des Bären begnügen; er selbst hatte einen bedeutenden Vorsprung gewonnen.

Das Terrain war hier außerordentlich zerrissen. Wir mußten uns zwischen scharfen, halb verschneiten Felstrümmern hindurchwinden, bald rechts, bald links, bald vorwärts, bald wieder zurück. Es war, als habe sich der Bär ein Extrapläsir gemacht, uns recht in die Irre zu führen. Und dabei durften wir die Vorsicht keinen Augenblick außer acht lassen, da es hinter jedem Steine möglich war, auf ihn zu stoßen.

Endlich erreichten wir eine kleine Erhöhung, wo er sich eine kurze Rast gegönnt hatte. Wir hatten es wirklich mit einem ganz ungewöhnlichen Schlaukopf zu thun. Er hatte sich für diesen erhöhten Standpunkt entschieden, weil er von hier aus unser Nahen bereits von weitem bemerken konnte, und war zugleich so klug gewesen, die ihm gewordene Frist zu einem schnellen Imbiß zu benutzen. Er hatte im allerhöchsten Fall zehn Minuten dazu übrig gehabt, aber während dieser kurzen Zeit war doch das Kalb beinahe ganz verschwunden.

 

»Wuoike ... o weh!« rief Vater Pent. »Dieser Partne pahakase hat uns nur die Haut und die Füße übrig gelassen. Hautesn so mon kalkap lapmet ... ich werde ihn zu Tode prügeln!«

Er schwang das Schaufelende seines Spießes drohend über dem Kopfe und nahm die Spur von neuem auf. Sie führte jetzt in einer steilen Schlucht zum Fjäll empor. Der hohe Schnee war uns außerordentlich hinderlich; wir glitten fast bei jedem Schritte wieder abwärts, und es dauerte eine lange Zeit, ehe wir die Höhe des Waldes erreichten. Es war von Vorteil, daß die Tannen des letzteren sehr licht standen; zahlreiche Felsen lagen zerstreut zwischen den Stämmen; die Spur war deutlich zu sehen.

Immer einer hinter dem andern, schritten wir lautlos vorwärts. Da, eben als wir auf eine Lichtung treten wollten, blieb Pent, welcher der vorderste war, hinter dem letzten Baume stehen.

»Was siehest du?« fragte Onkel Sätte laut.

Ich ging hinter Pent und hatte gerade wie er einen Mann gesehen, welcher links von uns in schnellem Laufe zwischen den Bäumen hervorkam. Als er aber die Stimme des Onkels hörte, eilte er schnell wieder in das Halbdunkel des Waldes zurück.

»Wer war dies?« fragte ich leise.

»Ich habe ihn nicht erkannt, Herr.« antwortete der Alte. »Was hat ein Mann zu dieser Zeit hier zu suchen!«

»Du bist ja wohl der einzige, der in dieser Gegend wohnt?«

»Ja. Sollte es ein Mann sein, der auf dem Aitoi geht?«

»Das glaube ich nicht. Er würde uns den Gruß nicht verweigert haben. Er ist geflohen, sein Weg muß also ein Weg des Unrechts sein.«

»Herr, meinst du dies wirklich?«

»Ja.«

»So muß man ihm folgen!«

Diese Worte waren in einem hastigen, sorgenvollen Tone gesprochen, den ich mir nicht gleich erklären konnte. Darum fragte ich:

»Denkst du, daß es ein Rentiermörder ist?«

»Nein, ich denke etwas anderes, Wäljam. Ich muß sehen, wer es ist. Folgt ihr unterdessen dem Bären!«

»Du darfst nicht allein gehen!« warnte sein Sohn Neete.

»Was weißt du, Knabe! Geht! Ich brauche keinen Menschen, welcher bei mir bleibt!«

Diese Worte waren in einem so befehlenden Tone gesprochen, daß wir ihnen ohne Widerrede gehorchten. Es war sicher nicht ohne Gefahr, sich hier im Walde und bei diesem Schnee mit einem Fremden zu befassen, der sich so verdächtig benommen hatte. Er mußte einen ganz besonderen Grund haben, allein zu bleiben, wo eine Begleitung doch so notwendig erschien. Wir ließen ihn gehen und verfolgten die Fährte des Bären weiter. Unsere Anstrengung sollte sehr bald belohnt werden. Die Spur führte bereits in kurzer Zeit nach einem freien Plätzchen, welches von Steingewirr bedeckt war. Hier lag das Tier versteckt, denn als wir den Ort umgingen, fanden wir nicht, daß die Fährte wieder herausführte.

Die Hunde waren bis jetzt bei uns gewesen, jeder mittels einer Schnur an seinen Herrn gebunden. Nun aber, als wir den Platz umstellt hatten, wurden sie losgelassen. Sie schossen zwischen die Steine hinein und bald vernahm ich neben ihrem wütenden Gebell ein tiefes und unmutiges Brummen. Der Lärm stand einige Zeit lang still und bewegte sich dann nach der mir entgegengesetzten Seite. Der Hund des Lappen benimmt sich, während er dem Wolfe sofort nach der Kehle geht, dem Bären gegenüber vorsichtig; er lockt ihn aus dem Lager, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben, und so war auch heute nicht zu hören, daß einer unserer Hunde einen Schlag erhielt. Dagegen aber fiel sehr bald darauf ein Schuß und gleich darauf ein zweiter. Dann erhob sich von seiten der Meute ein triumphierendes Geheul, dem man sofort anmerkte, daß der Bär erlegt worden sei.

»Neete, ist er tot?« rief Anda, welcher rechts von mir postiert worden war, über die Lichtung hinüber.

»Mije lepe winsam ... wir haben gesiegt!« antwortete der Gefragte herüber. »Wiesodake le tarfok ... der Bär ist tot. Kommt zu uns, Kratnatjeh!«

Wir eilten dem Rufenden zu; der Bär lag leblos am Boden. Der junge Neete hatte ihn bis auf zwei Schritte auf sich herankommen lassen, ihm dann den Lauf seines Doppelgewehres in den geöffneten Rachen gesteckt und zweimal losgedrückt.

»Er hat es gewußt, daß das Kalb mir gehört, welches er gefressen hat,« meinte er sehr gleichmütig, »und darum ist er zu mir gekommen, um sich von mir töten zu lassen.«

Bei den Lappen hat nämlich jedes Familienglied seine eignen Tiere bei der Herde, und für diese auch sein eignes, bestimmtes Zeichen. Bereits bei der Geburt schenkt der Vater dem Kinde ein Rentier; bei der Taufe erhält es ein zweites; wer den ersten Zahn bei ihm entdeckt, muß ihm ein drittes schenken. Auch das Gesinde erhält seinen Lohn und seine Extrageschenke in Rentieren, weshalb ein Knecht, der eine Magd heiratet und seine Tiere mit den ihrigen vereinigt, sehr leicht eine Herde zusammenbringt, die ihn zum selbständigen Manne macht. Daher giebt es eine eigentliche Armut bei den Lappen nicht, außer wenn einer durch die Seuche oder einen schneelosen Frost seine Herde verliert. In diesem letzteren Falle können die Tiere das Moos, welches ihre Winternahrung bildet, nicht von dem harten Eise befreien und müssen vor Hunger und Elend zu Grunde gehen.

»Sotn le änak ... es ist ein Männchen,« sagte der Onkel. »Zieht ihm das Fell ab, und schneidet ihn in Stücke, damit wir ihn leichter tragen können. Rupmaha le mijit, katjeh mije wattepe ... der Leib gehört uns, die Tatzen geben – –«

Er hielt mitten im Satze inne; meine Anwesenheit schien ihn an der Vollendung seiner Rede zu verhindern. Ich ahnte den Grund davon. Die Lappen sind zum großen Teile Christen, haben aber aus ihrer heidnischen Vorzeit noch viele Gebräuche mit herübergenommen, an denen sie zähe festhalten, obgleich sie dies dem Fremden gegenüber nur höchst ungern merken lassen. Vielleicht sollten die Bärentatzen dem Thiermes, einer ihrer früheren Gottheiten, geweiht werden, dessen Bilde, einem roh zubehauenen Holzklotz, noch viele Lappen im stillen Haine ein verborgenes Heiligtum errichten. Sie wurden auch wirklich von den Pranken getrennt und separat zusammengebunden.

»Seht, wie mager sie schon sind!« sagte Neete, der Sohn Pents. »Dieser Bär hat bereits in der Erde gesteckt und ist in seinem Winterschlafe gestört worden. Nun suchte er sich einen anderen Ort und hat dabei Hunger bekommen. Er kam so still, daß ich ihn erst gewahrte, als ich das arme Wesen zum letztenmal grunzen hörte. Möge seine Seele als Sjäkenes ewig im Metse spazieren gehen müssen!«

Die einzelnen Stücke des getöteten Tieres, welches eine Länge von sicher sechs Fuß gehabt hatte, wurden aufgenommen, und wir traten den Rückweg an. Als wir den Ort erreichten, an welchem Vater Pent sich von uns getrennt hatte, blieb ich halten.

»Er ist noch nicht wieder zurück,« sagte ich. »Wird es nicht besser sein, wenn wir nach ihm sehen!«

»Wir dürfen es nicht,« antwortete Onkel Sätte. »Er ist der Gebieter und hat befohlen, daß ihm keiner folgen solle. Wir müssen ihm gehorchen.«

»Aber, wenn ihm ein Unglück geschehen ist!»

»Das glaube ich nicht. Er kennt jeden Schrittbreit dieser Gegend, jeden Baum des Waldes und jedes Tier, welches hier lebt. Wir können ganz ruhig sein. Er wird bereits wieder nach der Hütte zurückgekehrt sein.«

»Das ist sehr zweifelhaft. Er als Jäger würde sich ganz sicher wieder angeschlossen haben, um uns zu helfen, den Bär zu erlegen.«

»Dazu waren wir ja Männer genug; das hat er gewußt. Laßt uns also ruhig weiter gehen!«

Wir legten die Strecke Waldes zurück, stiegen den felsigen Hügel hinab und befanden uns dann wieder auf der sumpfigen Ebene, wo wir die Schneeschuhe wieder anlegen und schneller vorwärts kommen konnten. Das Nordlicht war im Verglühen, als wir die Hütte erreichten.

Die Grundlage derselben bildete eine Anzahl von Stangen, welche rund in den Boden so gesteckt waren, daß ihre Spitzen oben zusammenstießen. Sie waren, da Vater Pent zu den wohlhabendsten Lappen zählte, mit einer doppelten Lage von Rentierhäuten bekleidet, und oben hatte man ein Loch gelassen, damit der Rauch abziehen könne; dasselbe wurde jedoch zur Schlafenszeit verschlossen, um die Wärme nicht entfliehen zu lassen. Dieser Hautüberzug ging rund um die Hütte noch eine Strecke über den Boden hin, um allerlei Vorräte darunter aufbewahren zu können. Jetzt, im Winter, war diese Wohnung von einer dichten Lage gefrorenen Schnees bedeckt, der keine Kälte in das Innere dringen ließ. In der Mitte des Wohnraumes befand sich, wie bereits gesagt, der Feuerherd, über welchem ein kupferner Kessel hing, der mit einer Kette oben an eine der Stangen befestigt war. Rundum hatte man über eine Lage von Heu weichgegerbte Felle ausgebreitet, um Lager und Sitze für die Glieder der Familie und – die Hunde – zu bilden. Das Geschirr hing an den schrägen Wänden, und oben, in der Nähe des Rauchabzuges, hatte man die Rentierkeulen nebst den Rentiermagen befestigt, welche den Käse und die gefrorene Milch, vielleicht auch das als Universalmedizin dienende Rentierblut enthielten.

Als wir anlangten, empfing uns Kakke Keira mit lautem Jubel, welcher seinen Grund wohl in dem Bärenschinken hatte, der den Lappen stets ein willkommener Leckerbissen ist. Auf seine lauten Rufe traten die Frauen aus der Hütte.

»Kussne le attje ... wo ist der Vater?« fragte Mutter Snjära, als sie bei dem Überblicke der Personen sah, daß der alte Pent fehlte.

»Ist er noch nicht angekommen?« erkundigte sich Onkel Sätte.

»Nein. Etnatjam, wo ist er geblieben?«

»Draußen im Walde.«

»Im Walde? Im Wuorai? Wenn nun ein Bär, ein Wolf oder gar ein Wuoikenes ihn überfällt! Weshalb ist er im Walde geblieben?«

»Er sah einen Mann, dem er gefolgt ist. Es war ein Ammats, der sich vor uns verbergen wollte.«

»Tije lepet takkam jerpmetipme ... Ihr habt unverständig gehandelt. Dieser Fremde ist vielleicht ein Rentiertöter, der viele Waffen bei sich hat. Warum habt ihr den Vater allein gelassen?«

»Sotn le trawam nau ... er hat es befohlen.«

»Dann habt ihr ihm gehorchen müssen,« beruhigte sie sich. »Was er befiehlt, das muß geschehen, denn er weiß, was er thut.«

Vater Pent war also wohl ein echter Patriarch, der unumschränkt regierte und seinem Willen stets die richtige Geltung zu verschaffen wußte. Bei der Erklärung, daß er selbst gewünscht hatte, allein zu sein, war sofort alle Sorge bei den Frauen verschwunden, und man beschäftigte sich nur noch mit der Jagdbeute, welche wir mitgebracht hatten. Die Tatzen verschwanden, ohne daß ich wußte, wohin; die Eingeweide wurden in den Kessel geworfen, um sogleich gekocht und gegessen zu werden, während man das Fleisch zum Gefrieren in die Kälte hing.

Menschen und Hunde saßen wieder traulich beim Feuer zusammen; den Schlaf hatte man vergessen. Da hörten wir es vor der Thür scharren, und das Fell, welches den Eingang bedeckte, wurde in die Höhe gehoben.

»Repe!« rief Mutter Snjära erschrocken.

So hieß nämlich der Lieblingshund des Alten, der ihn in den Wald begleitet hatte. Er kam unter dem Felle hindurchgekrochen und blieb mit eingezogenem Schwanze stehen, um ein klagendes Geheul auszustoßen.

»Repe, kusne le attje ... Repe, wo ist der Vater?« fragte der Onkel, sich schnell vom Lager erhebend.

Der Hund merkte, daß er verstanden worden sei. Er sprang winselnd an dem Frager empor und dann gegen die Thür zurück.

»Er will Hilfe holen,« sagte ich, nach meiner Büchse greifend. »Es ist seinem Herrn ein Unglück widerfahren. Wir müssen ihm schnell folgen!«

»Oder ist er dem Attje nur vorangesprungen,« meinte Kakke Keira, der Knecht, welcher von dem anderen Knechte abgelöst worden war.

»Nein. Das ist ganz das Gebaren eines Hundes, der Hilfe sucht.«

Wir traten vor die Thür und schrieen den Namen des Alten in die nordische, helldunkle Nacht hinaus. Die Kälte ließ den Ruf in weite Entfernung klingen, aber so scharf wir auch lauschten, wir konnten keine Antwort hören.

»Härra, du hast recht,« entschied der Onkel; »es ist ihm etwas passiert. Nehmt eure Ski und eure Gewehre, und laßt uns dem Hunde folgen!«

»Das ist nicht genug,« antwortete ich. »Nehmt auch Riemen, Stricke und Stangen mit. Er könnte in eine Sala gefallen sein.«

Die Frauen klagten und jammerten; wir aber nahmen schweigend alles Nötige mit uns, fuhren mit den Füßen in die langen Schneeschuhe und überließen uns nun der Führung des klugen Hundes, welchen der Onkel, als der vorderste in unserer Reihe, an einer Leine vor sich gebunden führte.

 

Wir verließen die Hütte in der entgegengesetzten Richtung als vorher. Bei Anfang unserer Bärenjagd hatten wir die Berge zu unserer Linken gehabt, jetzt aber lagen sie zur Rechten. Ihr Fuß stand auf dem Rande einer weiten Ebene, welche mit tiefem Schnee bedeckt war, und ihn entlang stürmte der Hund im raschesten Laufe dahin. Ohne die Schneeschuhe hätten wir ihm gar nicht zu folgen vermocht. So hatten wir vielleicht vier englische Meilen zurückgelegt, als er nach rechts einbog und sich nach einer Höhe wandte, welche keine große Steile zeigte, so daß wir uns also der Schneeschuhe nicht zu entledigen brauchten. Fast in derselben Schnelligkeit wie bisher ging es bergan, bis wir ein unbewaldetes Plateau erreichten, dessen Fläche auf der anderen Seite außerordentlich schnell wieder zur Tiefe stieg.

»lpmel«, rief der Onkel erschrocken, »sotn watsa salajägnai ... o Gott, es geht in das Spalteis hinein! Orrop wahrok ... laßt uns vorsichtig sein!«

Er zog die Leine an, zwang auf diese Weise den Hund, langsam zu laufen, und sondierte mit seinem Spieße jeden Schrittbreit des Bodens, ehe er ihn betrat.

»Ist dieser Boden gefährlich?« fragte ich ihn.

»Herr, wir gehen über Rutaimo, wo die bösen Geister wohnen. Jeder von ihnen hat sich eine Spalte gebohrt, die er mit Schnee bedeckt, um die Samelatjit zu betrügen. Tritt einer darauf, so stürzt er hinab in die Hölle, wenn nicht der Saiwaolmak seine Hand ausstreckt, um ihn festzuhalten. Zuweilen kommt auch ein heiliger Engel und zieht ihn wieder heraus.«

So vermischten sich in der Vorstellung des alten Lappländers christliche Bilder mit den heidnischen. Ihm war es schließlich sehr gleich, ob er von einem Engel oder einem Götzen Hilfe zu erwarten habe; vielleicht glaubte er, der eine sei so mächtig wie der andere.

Wir glitten also langsamer über das Plateau dahin und erreichten wirklich mehrere Spalten, über welche der Schnee eine zusammenhängende Kruste gebildet hatte, die zwar imstande war, den Hund, nicht aber einen Menschen zu tragen. Wir erkannten diese Stellen sowohl an der Formation als auch an der Farbe ihrer weichen Decke, über welche wir uns mittels unserer Spieße hinüberschwangen. Dann ging es abwärts. Hier mußten wir die Spieße fest einstemmen, um unsere vorsichtige Bewegungsart beibehalten zu können, da sich die Spalten zahlreicher zeigten als vorher; der Hund zerrte ganz gewaltig an der Leine, und bei einem unvermuteten Rucke gelang es ihm, dieselbe zu zerreißen. Er stürzte sich in weiten Sprüngen den Berg hinab, doch nicht weit, so blieb er halten, um ein lautes Geheul zu erheben.

»Dort ist es!« rief Onkel Sätte; »möchte es noch Zeit zur Hilfe sein!«

Wir bemühten uns, die kurze Strecke so schnell wie möglich zurückzulegen, und standen bald vor einer engen, tief in den Boden gerissenen Kluft, durch deren Schneedecke ein Loch gebrochen war. Der Hund stand vor demselben und suchte es durch Scharren zu erweitern, hütete sich dabei aber doch vor der Gefahr, hinabzustürzen. Eine Ski-Spur führte von rechts zu der Stelle, aber nicht darüber hinaus.

Neete, der Sohn, legte sich platt nieder und rief hinab:

»Attje, totn lep tanne ... Vater, bist du hier?«

Keine Antwort erscholl, aber der Hund war ganz außer sich; er setzte wiederholt an, hinabzuspringen, wurde aber immer wieder von der Furcht zurückgehalten.

»Er ist unten«, sagte ich. »Lassen wir alles Fragen, denn wir haben keine Zeit zu verlieren. Gebt die Stricke her; es muß einer hinab!«

»Ich gehe hinab,« antwortete Neete; »ich bin der leichteste. Härra, du bist der größte und stärkste von uns allen; du wirst die Kartsait halten!«

»Gut! bindet die Halkoit zusammen und legt sie quer über die Spalte, damit sie uns als Stütze dienen. Aber schnell!«

Nur eine Minute später schwebte der junge Mann in die Öffnung hinein, in welcher eine fürchterliche Kälte herrschen mußte. Er war noch gar nicht weit hinab, so gab er das Zeichen.

»Mon lep sot ... ich habe ihn,« rief er. »Gebt noch ein Seil herab!«

Diese Seile waren zwar dünn, aber aus unzerreißbaren Rentierhautriemen geflochten; man konnte ihnen den schwersten Menschen anvertrauen. Während ich den Sohn hielt, wurde ihm ein zweites Seil hinabgelassen, an welches er den Vater binden sollte. Dieses geschah in kurzer Zeit, und dann wurden beide heraufgezogen.

Vater Pent fiel steif auf den Schnee.

»Er ist tot!« jammerte Neete. »Die bösen Geister haben ihm das Leben geraubt!«

Ich untersuchte den alten Lappmann. Sein Herz schlug, und keines seiner Glieder schien verletzt zu sein. Darum tröstete ich die anderen:

»Sotn ela ... er lebt! Es fehlt ihm nichts als nur die Besinnung. Welche Stellung hatte er in der Spalte, Neete? Sie scheint nicht tief zu sein.«

»O, Härra, sie ist tief, sehr tief, und ganz mit Eis belegt,« antwortete er. »Aber sie ist schmal, und da hat sich sein Spieß eingeklemmt, der ihn gehalten hat.«

»Wekkes auto ... welch ein Wunder!«

»Ja, der heilige Jesots hat ihn bewacht. Aber sage, ob es möglich ist, daß er dennoch sterben kann?«

»Es ist möglich, daß er mit dem Kopfe an das Eis geschlagen ist. Er ist trotz der dichten Kleidung steif vor Kälte und muß sich also sehr lange in der Kluft befunden haben; das läßt mich wohl vermuten, daß er betäubt worden ist, denn von einer Ohnmacht wäre er längst wieder erwacht. Nehmt die Stangen und macht eine Bahre. Wir wollen ihn zur Hütte tragen! Einer mag voraneilen und den Rentierschlitten holen, damit wir schneller vorwärts kommen.«

»Ich werde es thun!« erbot sich der wackere Kakke Keira. »Ich werde so eilen, daß es mich nicht friert, und lasse euch meinen Pelz zurück, denn sonst könnt ihr keine richtige Trage machen.«

Er warf den weiten Pelz ab, ergriff seinen Spieß und sein Gewehr und glitt auf seinen Schneeschuhen denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Mit Hilfe des Pelzes, der Stangen und der Seile wurde eine ganz passable Bahre zusammengesetzt; wir banden den Geretteten darauf fest und traten den Rückweg an. Dieser wurde uns natürlich schwer, denn es war keine Kleinigkeit, die Last wohlbehalten über die Spalten zu bringen. Dies nahm so viel Vorsicht und Zeit in Anspruch, daß der Schlitten bereits unten am Berge hielt, als wir die Ebene erreichten. Kakke Keira hatte sich einstweilen den Pelz Andas geborgt.

Der Besinnungslose wurde auf den Schlitten befestigt, und dann ging es im sausenden Laufe über die nun bequeme Fläche auf die Hütte zu. Natürlich kam der von dem windesschnellen Rentiere gezogene Schlitten mit Onkel Sätte, der ihn führte, eher an, als wir, und als wir die Schuhe abgelegt hatten und eintraten, fanden wir Vater Pent bereits am Feuer liegen. Er war noch immer besinnungslos; dennoch aber beschäftigte sich Mutter Snjära unter Assistenz ihrer Töchter sehr eifrig damit, ihm jammernd und wehklagend den gewaltsam aufgebrochenen Mund voll großer Stücke gefrorenen Rentierblutes zu stopfen.

»Wollt ihr ihn töten!« rief ich ihnen zu.

»Das Blut hilft für alles, Härra!« beteuerte sie mir.

»Hier schadet es nur! Nehmt es wieder heraus und öffnet ihm die Kleider. Ich habe eine bessere Medizin!«

Ich hatte in meinem sehr zusammengeschrumpften Reisesacke allerdings von Medikamenten weiter nichts als noch ein halbes Fläschchen Arnikatinktur, doch war dies gegen die Verletzung durch einen Fall ja ein ganz gutes Mittel, wenn nicht auch innere Teile gelitten hatten. Die Kleider wurden ihm geöffnet, um die Respiration zu erleichtern, und da Naphtha und Salmiakgeist oder ähnliches nicht vorhanden war, so bat ich um Schnupftabak. Alle erstaunten sehr weidlich darüber, daß ein Toter schnupfen solle, dennoch aber wurden mir gerade so viele aus Rentierhaut gefertigte Dosen entgegengestreckt, als männliche und weibliche Personen anwesend waren. Der Lappe liebt den Tabak außerordentlich, fast ebenso wie den Branntwein; aber da er den letzteren so viel entbehren muß, so raucht und schnupft er viel, und daher gab es hier Dosen genug in der Hütte.

Ich applizierte dem Betäubten eine ziemliche Prise in denjenigen Teil seines Gesichtes, welchen die Lappen Njuonne nennen, und hatte auch wirklich gar nicht lange auf die beabsichtigte Wirkung zu warten; seine spitze Stirn legte sich in Falten, die geschlossenen Augenlider begannen zu zittern, der Mund öffnete sich, zwar langsam, aber so weit wie möglich; die gegen Kälte und allerlei kleines Getier mit Pechsalbe beschmierten Wangen dehnten sich aus, und dann erfolgte jene bekannte Explosion, für welche die Sprachen aller Völker nur eine und dieselbe Bezeichnung haben – app ... zieh!

»Aeitnan ... zur Gesundheit!« ertönte es jubelnd aus aller Munde.

Der Bann war gebrochen; die Augen öffneten sich, bewegten sich einige Augenblicke staunend im Kreise, und dann erklang auch bereits, und zwar in sehr bestimmtem Tone, das erste hörbare Lebenszeichen:

»Muaji, wattopte malep ... gebt mir Blut!«

Mutter Snjära blickte mich fragend an. Ich nickte ihr zu, denn diesem imperativen Verlangen eines augenblicklich erst vom Tode Erwachten vermochte mein fühlendes Herz nicht zu widerstehen. Da der Inhalt des alten vielleicht nicht reichen würde, so wurde augenblicklich ein neuer Rentiermagen geöffnet und das darin aufbewahrte Blut herausgeschlagen. Dann warf sich die Mutter mit ihrem drei Assistentinnen über den Patienten, und er erhielt von vier Seiten den Mund so energisch vollgestopft, daß er fünfmal schlingen mußte, ehe er Zeit fand, einmal Atem zu holen. Die großen Stücke zu Eis gefrorenen Blutes verschwanden so schnell und massenhaft in der Speiseöffnung des armen Kranken, und er verriet eine so ausdauernde Inklination für diese Art, dem Tode zu entgehen, daß es mir angst und bange wurde und ich endlich Einhalt that. Kaum aber waren seine wiedererwachten Lebensgeister nicht mehr in dieser Richtung beschäftigt, so fuhr er sich mit der Hand an den Kopf und klagte: