Buch lesen: «Bruder Tier», Seite 5

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Vom Sinn der Pinguinexistenz

Wenn noch immer in Brehms Tierleben zu lesen ist, dass man nicht viel Aufhebens von dem Nutzen machen kann, den die Pinguine den Menschen bringen, dann ist das eine sehr armselige Art der Betrachtung. Denn die Frage lautet vielmehr: Was ist der wahre Sinn ihrer Existenz?

Sofort aber muss man dann daran denken, dass diese Gruppe von Vögeln einen Kontinent bewohnen, der völlig menschenleer geblieben ist. An den Randgebieten der Arktis lebt noch der Eskimo. Die Antarktis aber, vom Meer umgeben, ist eine völlig menschenleere Landschaft. Die Lebensbedingungen sind so unwirtlich und bedrohlich, dass Menschen nur unter größten Opfern einige Zeit dort existieren können. Der Pinguin aber hat den Schritt gewagt, die dunkle Einsamkeit und Kälte der Antarktis mit seinem Dasein zu durchdringen. Das allein ist eine Jahr für Jahr sich neu vollziehende Heldentat. Besonders die Adelie- und Kaiserpinguine besiedeln die schnee- und eisbedeckten Hochflächen des Südpols. Tragen sie damit nicht ein Stück Erdenschicksal in diesen so verlassenen Bereich des Erdgestirns? Und wenn die Pinguine, nach vollzogenem Brutgeschäft, wieder ins Meer zurückgehen, dann schwimmen sie hinaus nach allen Seiten; zu den Falklandinseln bei Südamerika, zum Kap von Südafrika, nach Neuseeland, nach Tasmanien und bilden so eine lebendige Verbindung zu den von Menschen bewohnten Gebieten. Die Pinguine binden den antarktischen Kontinent an die übrigen Erdgebiete, indem sie jährliche Botschafter zwischen beiden sind. Das sind keine Staatsverträge und territorialen Ansprüche, die sie verbreiten. Sie tragen die Kunde vom Dasein des Menschen auf Erden in die polaren Regionen.

Vielleicht wird eine nähere Kenntnis der wenigen Gattungen existierender Pinguine es einmal ermöglichen, sie den verschiedenen Arten der Menschenrassen zuzuordnen, sodass sie dadurch ein Schattenbild der ganzen Menschheit darstellen, das auf dem und um den antarktischen Kontinent herum existiert. Sie, die in vielen Zügen den Menschen karikiert wiederholen und nachahmen, tragen sein Bild in die äußersten Grenzen des Erdendaseins hinein.

Einstmals war die ganze Vogelwelt ein gewaltiges Geistwesen, das brütend über den Wassern schwebte. Die meisten Vogelgeschlechter können deshalb noch heute ihre Flügel ausbreiten und himmelwärts fliegen. Andere aber mussten dem Flug entsagen und sich der Erde und dem Wasser verschreiben. Die Pinguine sind die Affen der Vögel. Auch sie hatten einst Flügel, aber sie stürzten zu schnell in die Verhärtung hinunter und verloren dabei die Kunst des Fliegens. Stattdessen erwarben sie sich das Schwimmen, und nun ziehen sie jährlich zweimal vom Wasser zum Land und zurück und verkünden dem nächtlichen Südpol das Lied vom Menschen. Es ist ein rauher Gesang; mehr dem Schrei des Esels gleich als dem Lied der Vögel. Sie krächzen und quaken und prusten und bellen – und dennoch ist es ein Laut, der aus dem Innern in die furchtbare Stille der Polarnacht tönt und ihr zuruft: Die Erde ist beseelt.


Die Wanderungen der Aale und Lachse
Ursprünge und Ziele

Während der letzten Jahre sind die Naturforscher, besonders die Zoologen und Paläontologen, durch einen aufsehenerregenden Fund in Atem gehalten worden. Einer der ältesten Fische der Erdgeschichte, von dem die Wissenschaft angenommen hatte, dass er seit etwa 70 Millionen Jahren ausgestorben ist, wurde in einigen lebenden Exemplaren aus den Tiefen des Indischen Ozeans heraufgeholt. Das erste Tier am 22. Dezember 1938, das aber damals in den angehenden Wirren des kommenden Krieges nicht besonders viel Aufmerksamkeit fand; bis nun [1956] sind acht weitere Exemplare aufgefischt worden. Das letzte, am 12. November 1954, konnte sogar lebend an die Küste gebracht werden und ist dort unter besonderen Umständen, da es vor dem Licht der Sonne nicht genügend geschützt wurde, eingegangen.

Coelacanthiden (Hohlstachler) ist der Name dieser uralten Gruppe von Fischen, die sich trotz des «Kampfes ums Dasein» und der «natürlichen Zuchtwahl» in der gleichen Form erhalten haben, die ihre Brüder und Schwestern in den Versteinerungen Grönlands, Südafrikas, Madagaskars und Australiens von der Karbonzeit im Erdaltertum bis zur Kreidezeit im Erdmittelalter zeigen. Wichtig daran ist, dass lebendige Zeugen dieser frühen Erdenzeit in die unmittelbare Gegenwart hineinragen, ohne Änderung der Gestalt und Lebensart, und damit eine Brücke bilden, die bisher als untergegangen angesehen wurde.

Aus den Meerestiefen um Madagaskar und Südafrika herum sind diese acht Urwelt-Geschöpfe aufgestiegen. Die nächsten Jahrzehnte werden vielleicht noch mehr derartige Geheimnisse enthüllen und damit viele der Anschauungen, die sich eine agnostische Wissenschaft über das Werden der Organismen gemacht hat, in ihrer Fadenscheinigkeit aufzeigen.1 Latimeria – dieser Name wurde dem uralten Fisch gegeben – ist nur eines der Zeichen, dem manche folgen werden, dem aber einige auch vorangegangen sind. Dazu gehört die Enträtselung des Aal-Problems.

Erst vor kurzer Zeit, während der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, ist ein bedeutendes Licht auf das Kommen und Gehen der Aale gefallen. Schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat der italienische Naturforscher Grassi die Frühformen des europäischen Aales identifiziert und dabei gezeigt, dass die bisher als selbstständige Gattung angesehenen Fischlein mit dem Namen Leptocephalus nichts anderes sind als die Larven der sich daraus entwickelnden Aale. Der dänische Forscher Johannes Schmidt griff am Anfang dieses Jahrhunderts diese Hinweise auf, und durch jahrelange und mühevolle Untersuchungen ergab es sich ihm, dass die europäischen sowohl als die amerikanischen Aale in der Sargassosee im Atlantischen Ozean den Zentralraum ihrer Existenz haben. Dort ist ihre Wiege wie auch wahrscheinlich ihr Grab.

Damit aber konnte ein vorher kaum glaubliches biologisches Phänomen klar dargelegt werden. Die Aale wandern in regelmäßigen Zügen während ihrer Larvenzeit aus der Sargassosee quer durch den ganzen Atlantik, bis sie die europäischen Küstengebiete erreichen. Das dauert etwa zwei bis drei Jahre. Dann steigen sie die Flüsse aufwärts, werden dabei groß und stark und kehren nach einem drei- bis vierjährigen Aufenthalt wieder nach Westindien zurück.

Nach der Sargasso-See!

Wo es am dunkelsten

Tiefsten und dunkelsten.

Dort ist das Ziel, der Beginn und das Ende uns

Liebe und der Tod.

So lässt der Dichter Albert Verwey die Aale sprechen. Und so wird es auch sein, dass «Beginn und Ende» sie dort erwartet. Warum aber steigen sie nach jahrelanger Wanderung durch die offenen Meere zu Milliarden in den Flüssen nach aufwärts? Alles was bisher darüber gesagt wurde, war menschlich, allzu menschlich. Dass die Aale z. B. bessere Lebensbedingungen in den Flüssen fänden oder dass sie dorthin getrieben würden, wo ihre «Vorfahren» schon gewesen, und was mehr an gedanklichem Unsinn sonst darüber ausgesonnen worden ist. Die Lebensbedingungen sind in den Flüssen viel schwieriger und gefährlicher als in der offenen See; und was gilt für ein Tier das Wort «gefährlich»? Was gilt für ein Tier solch ein Gedanke wie «bessere oder schlechtere Lebensbedingungen»? Was bedeutet es, bei einem Tier von Instinkt zu sprechen?

Das Tier lebt eingebettet in eine Welt von Phänomenen, deren Teil es selbst ist und welche es nicht mehr oder weniger gut benutzt oder gar ausnutzt, sondern innerhalb welcher es seine ihm vom Weltenwesen zugeordneten phänomenologischen Akte erfüllt. Ein Tier ist nie ein Werdendes; das ist der Mensch allein. Ein Tier ist immer ein Vollendetes, in eine bestimmte Umwelt hinein Gegliedertes, und darin vollzieht sich durch Jahrtausende der dieser Gruppe, Familie oder Art zugehörige Akt.

Das Tier agiert seine Rolle, die ihm für eine gewisse Zeit auf der Bühne des Daseins aufgetragen ist. Seine Zuschauer sind die Götter selbst, die dieses Welttheater sich erschaffen haben. Auch der Mensch agiert auf dieser Bühne; auch ihm lauschen und folgen die Götter, greifen auch manchmal selbst in das Spiel ein. Er aber sieht sich auch selber zu und weiß, dass er spielt, dass er Spieler und Zuschauer zur gleichen Zeit ist. Das Tier aber ist allein Spieler.

So wurde Latimeria jetzt auf die Bühne des Welttheaters gestellt; so kamen die Züge der Aale in das Proszenium und werden jetzt besonders deutlich erblickt. Es ist selbst ein Phänomen der großen Welt. Dort wo Erd- und Himmelskräfte sich finden und miteinander wirken, da haben sie einstmals, vor vielen Jahrtausenden, die Aalwanderungen in das Erdendasein gesetzt. Seitdem bestehen sie und weisen hin auf diejenige Zeit, auf die Epoche, in welcher dies geschah. Dorthin müsste der Blick gerichtet werden, um Einsicht, nicht Erklärung zu finden in dieses seltsam grandiose Spiel, das sich seit diesem Weltenaugenblick im Leben der Erde zuträgt.

Nun gibt es aber allerlei Fische, die wandern; die Neunaugen z. B. und die Störe, die Lachse und Heringe, und von allen gilt, was eben von den Aalen gesagt wurde. Nur zeigen die Lachse eine Art der Wanderung und des Lebens, die fast polar dem, was die Aale tun, entgegensteht. Denn die Lachse, die auch die Flüsse aufwärts wandern und dann wieder ins Meer zurückkehren, haben im Quellgebiet jedes Flusses und Baches ihre Wiege. Dort werden die Eier und Samen ausgestreut, und die jungen Lachse entwickeln sich an diesen Orten; dann erst, nach Zeiten wechselnder Länge, gehen sie ins offene Meer, um später wieder an die Orte ihrer Kindheit zurückzuwandern und selber Nachkommen zu zeugen.

So gehen die Aale ins Meer, um dort ihren Nachwuchs zu zeugen, die Lachse hingegen steigen die Flüsse hinauf, um dort oben zur Begattung zu kommen. Es ziehen die Aale vom Meer zum Fluss und zurück ins Meer. Die Lachse wandern vom Fluss zum Meer und zurück in die Flüsse. So entstehen zwei Gegensatzpaare, die im Betrachten der Polarität vielleicht Einsicht zu bieten mögen in etwas, was bisher noch im Dunkel geblieben ist.

Gegensätzliche Lebenszyklen

Die Wissenschaft hat diese Polarität mit zwei Namen belegt; sie nennt die Lachse und alle jene Fische, die, um sich fortzupflanzen, vom Meer in die Flüsse hinaufsteigen, anadrom, und die gegensätzlichen Aale, die im Meer ihre Wiege haben, katadrom. Mit dieser Bezeichnung allein wäre nicht viel getan, wenn nicht gleichzeitig eine lebendige Anschauung der vorliegenden Phänomene gefunden würde. Es sind heute schon genügend Einzeltatsachen bekannt, um ein einigermaßen vollständiges Bild der sich vollziehenden Wanderungen zu bekommen.

Verweilten wir ein Jahr hindurch an der Mündung einer der in die Nord- oder Ostsee sich öffnenden Flüsse und würden wir dabei wachen Auges die Möglichkeit haben, die ein- und ausziehenden Fische zu beobachten, wir könnten eine überwältigende Fülle von Phänomenen wahrnehmen. Es müsste aber so sein, dass wir unsere Beobachtungen noch um die Zeit der Mitte des 19. Jahrhunderts machten, als keine Stauwehre die Flüsse sperrten und keine Fabriken mit ihren Abwässern das Leben zerstörten.

Zur Herbstzeit, vom Oktober an und den ganzen Winter hindurch, steigen die Lachse aus dem Meer in die Flüsse. Es sind die großen, reifen Männchen und Weibchen, die aufwärts wandern, den Quellen zu. Im Frühjahr werden diese Winterlachse durch die Frühlingslachse ersetzt; das sind kleinere, schwächere und jüngere, die fast alle nur Männchen sind. Sie ziehen bis in den Sommer hinein in die Flüsse und dann wird es still. Im Spätsommer und Frühherbst gibt es nur selten einen Lachs an der Flussmündung zu sehen. Es gibt aber auch da verschiedene Rhythmen, die sich fast für jeden einzelnen Fluss spezialisiert haben. So stiegen früher, als die Flüsse noch nicht verschmutzt und verbaut waren, im Frühsommer die St.-Jakobs-Lachse den Rhein und die St.-Bartholomäus-Lachse die Elbe aufwärts, denen dann später die größeren Weibchen folgten und im Herbst die Hauptarmee der großen und schweren Lachse.

Anfang Mai aber, an der Rheinmündung, etwa zwischen dem 4. und 18. dieses Monats, erschienen in der anderen Richtung ziehend die jungen Salme, die, ein bis eineinhalb Jahre alt, zum ersten Mal ins Meer zurückwandern. Sie hatten ihre Kindheit oben in den Bergen verbracht und gehen nun hinaus in die große Welt. Sie tragen noch ihr Jugendkleid mit den dunklen Querbändern, das erst allmählich durch den vollen Silberglanz der Schuppen ersetzt wird. Die meisten der alten Lachse jedoch sind in ihren Laichgebieten an Erschöpfung gestorben.

Immer sind die Lachse, ob sie hinauf- oder hinunterziehen, Einzelgänger, die vielleicht zu kleinen Gruppen zusammenfinden können, aber dies nur wie zufällig tun. Bei den Aalen aber ist es anders. Im Spätwinter und Frühling erscheinen sie, vom Atlantik herkommend, an den Westküsten Europas; in Irland und England früher, in Dänemark, Deutschland und in den baltischen Ländern entsprechend später, und bilden als kleine, durchsichtige, 6 – 8 cm lange Glasaale zu Zehntausenden lange, die Flüsse aufsteigende Züge. Brehm zitiert einen Beobachter, der es in folgender Art beschreibt:

Als wir eines Morgens Ende Juni oder Anfang Juli auf dem unmittelbar an die Elbe stoßenden Deich des Dorfes Dreenhausen traten, sahen wir, dass entlang des ganzen Ufers ein dunkler Streifen sich fortbewegte. Er wurde von einer unzähligen Menge junger Aale gebildet, die dicht an der Oberfläche des Wassers stromaufwärts zogen und sich dabei stets so nahe und unmittelbar am Ufer hielten, dass sie alle Krümmungen und Ausbuchtungen einhielten. … Dieser wunderbare Zug der Fische dauerte ununterbrochen in gleicher Stärke den ganzen Tag hindurch und setzte sich auch am folgenden fort.

Die aufsteigenden Aale bleiben durch mehrere Jahre in den Flüssen und Bächen, kehren dann aber, zum Blankaal geworden, groß, dunkelpigmentiert und rund, wieder ins Meer zurück. Meistens in der Herbstzeit ziehen sie in den offenen Ozean hinaus; auch dies geschieht nicht einzeln, sondern in kleineren und größeren Karawanenzügen.

So werden die Flussmündungen fast das ganze Jahr über zu den Einfalls- und Ausfallstoren dieser Milliarden von Fischen, die eine lebendige Kommunikation zwischen dem Salzwasser des Meeres und dem Süßwasser der Ströme, Flüsse und Bäche vermitteln. Mit ungeheurer Gewalt streben Aale sowohl als Lachse flussaufwärts. Brehm zitiert wieder:

Ich befand mich Ende Juli zu Ballyshannon in Irland an der Mündung des Flusses, der während des vorigen Monats Hochwasser gehabt hatte. In der Nähe eines Falles war er getrübt von Millionen kleiner Aale, die fortwährend die nassen Felsen an den Ufern des Wasserfalles zu erklimmen suchten und dabei zu Tausenden umkamen; aber ihre feuchten, schlüpfrigen Leiber dienten den übrigen zur Leiter, um den Weg fortzusetzen. Ich sah sie sogar senkrechte Felsen erklettern; sie wanden sich durch das feuchte Moos oder hielten sich an die Leiber anderer, die bei dem Versuch ihren Tod gefunden hatten.

Ähnlich, nur nicht so massenweise, ist das Aufwärtsstreben der Lachse. Sie zwingen die größten Hindernisse wie Felsen und Wasserfälle, indem sie sich von Felsvorsprung zu Felsvorsprung emporschnellen, um so Schritt für Schritt ihrem Ziel näherzukommen.

Aale und Lachse wandern, streben, ziehen und schwimmen die gesamte Weite und Breite eines Flusses ab; sie gehen in die meisten Nebenflüsse, in die Bäche und Rinnsale, sodass sie mit dem ganzen Netzwerk eines einzigen Stromes innig verflochten sind. Dabei scheinen die Aale mehr die Breite, die Lachse mehr die Höhe zu lieben. Der Strom als individuell-biologische Einheit wird von diesen Fischen erfüllt und erhält durch sie eine enge Verbindung zum Meer.

Das Leben der Lachse und Aale ist aber nicht nur dadurch voneinander verschieden, dass die einen anadrom, die anderen katadrom sind, sondern in vielen Einzelzügen drückt sich diese Polarität aus.

Aus dem Sargassosee kommen die Aale. Dort, wo der Golfstrom, in der Höhe von Florida, aus dem Golf von Mexiko kommend, nach Norden sich kehrt und der Küste von Nordamerika entlang strömt, ist weiter im Süden das Becken ihrer Brut. Es ist ein mächtiges Gebiet, das fast zur Gänze von einem Zweig des Golfstromes umspült wird. Dort ist das Meer um 6000 Meter tief. Von den Laichplätzen in etwa 400 Metern Tiefe steigen die jungen Aale nach oben. Die amerikanische Art brütet etwas westlicher, die europäische Gruppe etwas östlicher. Milliarden kleinster, 2-3 cm langer, durchsichtiger und blattförmiger Fischchen erheben sich aus diesen Tiefen. Es sind dem Aussehen nach noch richtige Fischformen, die, je mehr sie den westlichen und östlichen Küsten zustreben, etwas größer werden. Die Wanderung nach Europa, die zugleich die Umwandlung zum Glasaal bedeutet, dauert etwa zweieinhalb bis dreieinhalb Jahre. Es wird angenommen, dass die Befruchtung im März bis April in den Tiefen von 400 m sich vollzieht, dass dann langsam die jungen Larven aufsteigen, heranwachsen und auf der Wanderung nach Osten sich in den runden wurmförmigen Glasaal umwandeln. Der Weg nach Westen ist kürzer, und die amerikanischen Glasaale sind deshalb auch kleiner als die europäischen.

Sobald die Aale Flüsse erreicht haben, verändern sich ihre Leibesfunktionen. Gelbbraunes Pigment setzt sich an der Haut ab, und gleichzeitig beginnt eine mächtige Stoffaufnahme und -abgabe. Ihr Wachstum vollzieht sich schnell; sie nehmen oft gewaltig an Größe und Gewicht zu und verweilen für etwa drei bis acht Jahre im Gebiet des Süßwassers. Am Tag halten sie sich im Schlamm des Bach- oder Flussbodens verborgen, und erst wenn es dunkel geworden, beginnt die Zeit ihrer Jagd. Die Aale sind besonders in der Nacht aktiv und lebendig; das Licht des Tages aber fürchten sie. Louis Roule, einer der kenntnisreichsten Ichthyologen, schreibt darüber:

Der Aal muss zu den nächtlichen Tieren der Gewässer gezählt werden, die erst dann aktiv werden, wenn es dunkel ist. Er behält die früh erworbenen Eindrücke, die er sich in den Tiefen des Meeres, wo er geboren wurde, erworben hat. Wenn Aale in einem Aquarium gehalten werden, und ein Lichtstrahl wird plötzlich auf sie gerichtet, dann geraten sie unmittelbar in eine Panik, stürzen in allen Richtungen fort, um endlich sich im dunkelsten Winkel zusammenzudrängen. Sie pressen sich so nah als möglich aneinander, um dem Licht, das sie hassen, zu entgehen. Diese dauernde, unentrinnbare Furcht vor dem Licht ist ein wesentlicher Faktor im Leben der Aale und enthüllt uns die Tatsache, dass sie wirklich Geschöpfe der Tiefe sind.

Es ist aber nicht nur das Licht, das sie fürchten. Sie entziehen sich ebenso der Kälte, und während des Winters sind sie tatenlos; eingegraben in den Schlamm halten sie eine Art von Winterschlaf. Unter den übrigen Flussfischen sind sie die ersten, die sich im Herbst verkriechen, und die letzten, die im Frühling wieder zum Vorschein kommen. Ihr Lebenselement ist die dunkle Wärme; die helle Kälte aber ist das Reich, das sie fliehen.

Ganz verschieden davon sind die Lachse. Wenn sie im Herbst aus dem Meer in die Flüsse steigen, dann beginnt ihr ganzer Leib zu erglänzen. Gerlach beschreibt es so:

Beim Aufstieg wechseln die Lachse ihre Farben. Auf den Kiemendeckeln und an den Seiten der Männchen leuchten rote Flecken; solche sind auch über den bläulich schimmernden Kopf verstreut. Der Bauch wird purpurn. Ein Rosarot überhaucht die Flossen.

In diesem Farbenzauber steigen sie flussaufwärts, bis sie die Quellen der einzelnen Nebenflüsse und Bäche erreicht haben. Sie suchen das Licht und die Kälte der Höhen; um und nach der Weihnachtszeit, also im eisigen, lichtdurchglänzten Wasser, findet die Paarung statt.


Die Weibchen entleeren gewaltige Mengen von Eiern in eine vorher mit den Flossen zubereitete Grube und die männliche Milch ergießt sich darüber. Ein bis zwei Wochen dauert dieses Begattungsspiel und kurz darauf sterben die meisten Lachse. Die wenigsten treiben zurück ins Meer, woher sie gekommen waren und laichen im nächsten Jahr ein zweites und ganz selten ein drittes Mal ab.

Während der gesamten aufsteigenden Flussreise nahmen sie keine Nahrung zu sich. Der Darm ist in dieser Zeit wie degeneriert und behält kein Futter. Dafür entwickeln sich die Geschlechtsorgane zu gewaltigen Massen. Die Ovarien sind fast ein Viertel, die Hoden beinahe ein Achtel des gesamten Körpergewichtes am Ende der Reise.

Die aus den befruchteten Eiern sich entwickelnden Salme verbleiben für ein bis eineinhalb Jahre im Quellbereich. Erst nach dieser Zeit, zum Junglachs herangewachsen, ziehen sie die Flüsse hinunter, zurück ins Meer. Dort beginnt dann die Jagd, und das Leben währt zwei bis vier Jahre lang. Wo während dieser Periode die Lachse jagen, ist heute unbekannt. Es gibt zwar viele Theorien, aber die Wahrheit ist noch verborgen. Sicher ist eines, dass es die Tiefen sind, in welche die Lachse vordringen; ob diese Tiefen küstennah oder viele hunderte Meilen weit fort sind, wird nicht gewusst.2

Die Aale hingegen, feist und groß geworden, wenn sie ins Meer zurückkehren, sind keine Räuber mehr. Sie haben ein einziges Ziel: Hin zur Sargassosee! Jetzt aber beginnen bei ihnen, die das Dunkel liebten, die Augen zu wachsen. Diese werden um das acht- bis neunfache größer, und der nun dunkel gewordene Leib fängt leicht silbern zu erglänzen an. Vielleicht ertragen sie jetzt auch das Licht, nicht das direkte, aber das reflektierte Sonnenlicht, das im Wasser sich bricht und das ihnen jetzt den Weg weist, zurück zu den Tiefen, woher sie gekommen.

So werden Lachs und Aal wirklich zu gegensätzlichen Paaren. Die einen lieben das Licht und die Kälte, die anderen fürchten sie; dafür aber lieben diese die dunkle Wärme, an welcher die anderen keinen Anteil haben. Beide aber verbinden Meere und Ströme, Salzwasser und Süßwasser und leben im Wasserkreislauf der Erde wie Wanderer, die dort und hier ihre Stätte haben und gleich den Zugvögeln im Ziehen ihr Dasein empfinden und sich als Geschöpf erleben.

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