Aggression - zerstörend oder lebensfördernd

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Karl Frielingsdorf

Aggression

zerstörend oder

lebensfördernd

Karl Frielingsdorf

Aggression

zerstörend oder

lebensfördernd

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2016

© 2016 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: Peter Hellmund (Foto: gettyone)

Satz: Hain-Team (www.hain-team.de)

ISBN

978-3-429-03930-1 (Print)

978-3-429-04851-8 (PDF)

978-3-429-06270-5 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Vorwort

Aggression und Beziehung – was ist das?


1.Was ist Aggression?
2.Einige mit der Aggression verwandte Begriffe: Ärger, Wut, Zorn, Hass, Feindschaft, Groll
3.Unterschiedliche Formen von Aggression


3.1.Zerstörerische (destruktive) Aggressionen
3.2.Unterdrückte Aggressionen
3.3.Lebensfördernde (konstruktive) Aggressionen


4.Was ist Beziehung?


4.1.Definition
4.2.Der Mensch als eigenständiges und relationales Wesen
4.3.Aggression und Beziehung


5.Geistesgeschichtliche Wurzeln für das abwertende Verständnis von Aggressionen und Gefühlen


5.1.Das ganzheitliche biblische Menschenbild
5.2.Dualistische Tendenzen
5.3.Die wiedergewonnene ganzheitliche Sicht des Menschen


6.Zusammenfassung

Elternbotschaften über Gefühle, Aggressionen und Beziehungen


1.Die Bedeutung der Gefühle für die Persönlichkeitsentfaltung
2.Die Auseinandersetzung mit den Elternbotschaften über Gefühle
3.Elternbotschaften über Aggressionen und Beziehungen


3.1.Elternbotschaften über Aggressionen
3.2.Elternbotschaften über Beziehungen

Aggressionen können Beziehungen fördern und zerstören


1.Aggressionen in der Beziehung zur Umwelt


1.1.Die zerstörerische Aggressivität gegenüber der Umwelt
1.2Die Schöpfungstheologie als Basis einer lebensfördernden Beziehung zur Umwelt
1.3.Ethische Folgerungen für eine heilsame Beziehung zur Umwelt


2.Aggressionen in der Beziehung zu anderen Menschen


2.1.Einführung
2.2.Aggressionen und offene Beziehungsstörungen


2.2.1.Gewalttätige Aggressionen und Beziehungsstörungen
2.2.2.Aggression und Gewaltlosigkeit


2.3.Aggressionen und verdeckte Beziehungsstörungen


1.Unklare Beziehungen
2.Die Doppelbindung
3.Übertriebene Reaktionen
4.Die Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit
5.Verdeckte Beziehungsstörungen im Umgang mit Behinderten
6.Verdeckte Beziehungsstörungen im Umgang mit Kranken
7.Übungen zum Beziehungslernen


3.Aggressionen und die Beziehung zu mir selbst


3.1.Einführung
3.2.Die aggressive Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit
3.3.Lebensbedingungen, die Aggressionen fehlleiten können
3.4.Aggressionen und die authentische Selbstdarstellung
3.5.Einige Hinweise zur Einübung einer geordneten Selbstliebe


4.Aggressionen in der Beziehung zu Gott


4.1.Einführung
4.2.Schwierigkeiten bei der Auseinandersetzung mit Gott
4.3.Einige Hinweise zur Auseinandersetzung mit Gott

Eine Frucht der Aggression ist die Liebe

 

Literaturverzeichnis

Vorwort

Das Phänomen „Aggression“ hat mich persönlich schon immer interessiert und spielt in meiner pastoraltherapeutischen Arbeit eine wichtige Rolle. Mein besonderes Anliegen war und ist es, Aggression nicht nur negativ im Sinne von zerstörender Gewalt zu sehen, sondern auch als Lebensenergie und beziehungsstiftende Kraft. So entstand 1999 mein Buch „Aggression stiftet Beziehung“, das leider aus verschiedenen Gründen trotz großer Nachfrage nicht mehr neu aufgelegt wurde. Die Nachfrage ist immer noch groß und das Thema „Aggression“ sehr aktuell. So habe ich mich auf vielfachen Wunsch entschlossen, dieses neue Buch „Aggression, zerstörend oder lebensfördernd“ zu schreiben. Dabei habe ich Teile aus dem ersten Buch aktualisiert und bearbeitet übernommen, vieles ergänzt und neu geschrieben. Wenn man die Literatur der letzten 20 Jahre zum Thema Aggression anschaut, wird deutlich, dass das Wort „Aggression“ in unserem Sprachgebrauch immer noch überwiegend negativ verstanden wird.

Man verbindet mit diesem Begriff in der Alltagssprache Gewalt, Wut, Hass, Streit und Krieg und spricht in diesem Zusammenhang abwertend von einem „Aggressor“, dem Anstifter und Täter der Schädigung. Ausdrücke wie „vor Wut schäumen“, „vor Zorn explodieren“, „jemand an die Gurgel gehen“, „eine Mordswut haben“, „jemand umlegen“, „jemand fertigmachen“ verstärken diese einseitig negative Deutung.

Aggressionen wirken sich auch psychosomatisch aus und zeigen entsprechende Reaktionen. Wem ist nicht schon einmal vor Wut „der Kamm geschwollen“ oder wer hat nicht schon „eine Stinkwut“ gehabt und „rot gesehen“ bis hin zu der zornigen Regung „Ich könnte dich umbringen“. Den Aggressionen scheint eine Kraft innezuwohnen, die den Menschen „zum Tier“ werden lässt. „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ („homo homini lupus“). Der weltweite Terror, die globalen kriegerischen Auseinandersetzungen, die wachsende Gewalt in der Öffentlichkeit und im privaten Leben, über die uns die Medien täglich berichten, verstärken diese Sichtweise und lassen Aggression und Aggressivität in einem schlechten Licht erscheinen.

Dieses einseitige Verständnis von Aggression im Sinne von Feindseligkeit, Gewalt und Zerstörung spiegelt sich auch in der psychologischen Literatur der letzten 30 Jahre wider. Viele Autoren fragen nach den Ursachen der Aggression, schildern deren krankmachende und zerstörerische Folgen für den Menschen und suchen nach Möglichkeiten der Prävention und Reduktion von Aggression und Gewalt (Bierhoff 1998). Es gibt nur wenige Autoren (z. B. Kernberg, Klessmann, Schellenbaum, Tillich, Thompson), die die Aggression ganzheitlich verstehen und ihr lebensfördernde Seiten abgewinnen, um eine langfristige Lösung der Aggressionsproblematik zu finden.

Inzwischen ist man um eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Psychologie, Soziologie, Anthropologie und Theologie bemüht. So fragt die Psychologie in ihren verschiedenen Schulen nach den Ursachen des aggressiven, gewalttätigen Verhaltens und findet dort intrapsychische, interpersonale oder auch sozialpsychologische Erklärungsansätze. Bei extremen Formen von Gewalt in politischen und religiösen Denksystemen und Ideologien, wie z. B. in den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus, im IS-Staat, in den aktuellen Kriegen in Syrien, im Irak, in Afrika oder bei den Völkermorden in Burundi oder im ehemaligen Jugoslawien, spielen noch andere Ursachen und Beweggründe eine wichtige Rolle. So z. B. die Tatsache, dass in solchen Fällen die Gewalttäter von ihren Vorgesetzten und ihrer Umgebung nicht bestraft, sondern für ihre Brutalität gelobt und befördert werden.

Wenn Skinheads und neonazistische Banden Ausländer, Flüchtlinge oder Andersgläubige misshandeln, töten (NSU), Häuser anzünden, Ferienlager überfallen und Friedhöfe schänden oder der IS die Enthauptung und Verbrennung von Gefangenen in den Medien zeigt, dann setzen sie die traditionellen ethischen Maßstäbe und Menschenrechte außer Kraft. Ihre Gewalttaten entstammen einer selbstgeschaffenen Ideologie mit entsprechenden Regeln und Prinzipien. „Ohne Rücksicht auf Verluste“ setzen sie diese um, und sei es, dass sie dafür „über Leichen gehen“ müssen. Dabei wird der Einzelne von der Verantwortung suspendiert: Er kann beliebig töten und Gewalt ausüben im Namen der Ideologie bzw. der Gruppierung, für die er kämpft. Bei den Nationalsozialisten wurde der Holocaust mit Begriffen wie „Kristallnacht“ oder „ethnische Säuberung“ beschönigt. Auf diese Weise wurde versucht, der hier ausgeübten Gewalt mit ihrer Massenvernichtung den Stachel des Anstoßes und Ärgernisses zu nehmen. Eine ähnliche Wendung ins Gegenteil geschieht im sogenannten Heiligen Krieg des IS, wo jede Gewalt und Brutalität „im Namen Allahs“ erlaubt ist, bis hin zur Selbsttötung, die noch durch das Versprechen des Paradieses schmackhaft gemacht und geheiligt wird.

Bei den hier auftauchenden Fragen nach Ideologien, nach religiösen Motivationen oder nach dem zugrunde liegenden Menschenbild ist die Psychologie auf die Zusammenarbeit mit der Philosophie und Theologie angewiesen. So fragt die Anthropologie nach der ursprünglichen Bedeutung von Aggression, die neben den zerstörenden auch die lebensfördernden und beziehungsstiftenden Kräfte der Aggression beinhaltet. Weiter fragt die Anthropologie nach den geistesgeschichtlichen Wurzeln und nach der Entwicklung des Phänomens „Aggression“ in unserer Kulturgeschichte, die u. a. zu dem heutigen, einseitigen Verständnis von Aggression beigetragen hat.

In diesem Buch werden die psychologischen, die anthropologischen und religiösen Fragestellungen berücksichtigt. Einerseits stütze ich mich dabei auf mehr als 1000 Lebensskripts von religiös sozialisierten Frauen und Männern, die sich in Einzelberatung und in Gruppen mit ihren Erfahrungen mit Aggressionen und Beziehungen auseinandergesetzt haben. Anderseits werden anthropologische Grundfragen nach dem Ursprung, der Bedeutung und dem Stellenwert von Aggression und Beziehung im menschlichen Leben aus Sicht der christlichen Anthropologie und der biblischen Schöpfungslehre gestellt.

Ein Ziel dieses Buches ist, das einseitig negative Verständnis von Aggression zu überwinden und positiv zu ergänzen. Wir bringen Aggressionen nicht automatisch mit Gewalt in Verbindung, sondern verstehen Aggression zunächst neutral als Lebensenergie, die sowohl lebensfördernd als auch zerstörend eingesetzt werden kann.

Für christlich orientierte Menschen, die glauben, dass der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen wurde, ist der innere Lebenskern, aus dem der Mensch seine aggressiven Kräfte schöpft, heil und gut. Jeder Mensch vermag letztlich in Freiheit über sein Handeln und den Einsatz seiner aggressiven Energien zu entscheiden und trägt dafür persönlich die Verantwortung. Die mir geschenkten Lebensenergien kann ich also in den Aggressionen lebensfördernd und beziehungsstiftend, aber auch zerstörend und schädigend einsetzen, sei es in der Beziehung zu mir selbst, in der Beziehung zu anderen Menschen, zur Umwelt und zu Gott. In diesem immer wieder neuen Entscheidungsprozess ist die ignatianische Unterscheidung der Geister ein wichtiges Instrument, um einen konstruktiven Umgang mit meinen Aggressionen zu lernen und gute und heilsame Beziehungen zu gestalten (vgl. Ignatius von Loyola, 81 ff. und 127 ff.).

Wir verstehen also Aggressionen in diesem Buch als Lebenskraft des Menschen, als Lebensenergie, die der Mensch für sich und andere verwenden kann. So ist Aggression nicht mehr nur ein Gegen-Einander, sondern kann genauso gut die Richtung des Auf-einander-Zu von Menschen sein. Das gilt trotz der meist negativen Elternbotschaften in den untersuchten Lebensgeschichten, die wir über Gefühle im Allgemeinen und Aggressionen im Besonderen in der religiösen Erziehung mitbekommen haben.

Da das Thema Aggression und Beziehung sehr komplex und vielschichtig ist, können wir in diesem Buch nur ausgewählte Aspekte berücksichtigen. Von dieser Vielfalt, die sich in unseren Aggressionen und Beziehungen verbirgt, erzählt eine chinesische Weisheits-Geschichte.

Einen Weisen im alten China fragten einmal seine Schüler: Du stehst nun schon so lange an diesem Fluss und schaust ins Wasser. Was siehst du denn da?

Der Weise gab keine Antwort. Er wandte den Blick nicht ab von dem unablässig dahinströmenden Wasser. Endlich sprach er:

Das Wasser lehrt uns, wie wir leben sollen. Wohin es fließt, bringt es Leben und teilt sich aus an alle, die seiner bedürfen. Es ist gütig und freigebig.

Die Unebenheiten des Geländes versteht es auszugleichen: Es ist gerecht.

Ohne zu zögern in seinem Lauf, stürzt es sich über Steilhänge in die Tiefe. Es ist mutig.

Seine Oberfläche ist glatt und ebenmäßig, aber es kann verborgene Tiefen bilden. Es ist weise.

Felsen, die ihm im Lauf entgegenstehen, umfließt es. Es ist verträglich.

Aber seine Kraft ist Tag und Nacht am Werk, Hindernisse zu beseitigen. Es ist ausdauernd.

Wie viele Windungen es auch auf sich nehmen muss, niemals verliert es die Richtung zu seinem ewigen Ziel, dem Meer, aus dem Auge. Es ist zielbewusst.

Und sooft es auch verunreinigt wird, bemüht es sich doch unablässig, wieder rein zu werden. Es hat die Kraft, sich immer wieder zu erneuern.

Das alles, sagte der Weise, ist es, warum ich auf das Wasser schaue. Es lehrt mich das rechte Leben (zitiert aus: Glauben leben 7/8 [1997], 234).

Wie der Weise im Schauen auf das Wasser, will dieses Buch unsere Aggressionen und Beziehungen anschauen und ihnen nachsinnen. Ich würde mich freuen, wenn Sie nach der Lektüre des Buches in Ihren eigenen Aggressionen mehr die lebensfördernden und beziehungsstiftenden Kräfte entdecken und sie in Ihrem Leben entsprechend einsetzen könnten.

Karl Frielingsdorf SJ

Aggression und Beziehung – was ist das?


1.Was ist Aggression?

Das Wort Aggression stößt bei vielen Menschen zunächst auf Ablehnung und Widerwillen.

Die wachsende Gewalt im öffentlichen und privaten Leben, die Religionskriege und die Völkermorde in aller Welt verbinden die Begriffe Aggression und Aggressivität mit Gewalttätigkeit und Brutalität und lassen diese in einem schlechten Licht erscheinen.

 

In diesem Kapitel wollen wir zunächst auf die eigentliche Bedeutung des Wortes „Aggression“ zurückgehen. Vom lateinischen Wort „aggredi“ = „ad-gredi“ stammend, bedeutet Aggression: „herangehen“, auf jemand „zugehen“, „sich einem anderen nähern“, „in Beziehung treten“.

Wir verstehen Aggression als ein emotional initiiertes, aktives Verhalten, das gerichtet oder ungerichtet sein kann. „Als naturale Antriebskraft gehört Aggression zur Grundausstattung des Menschen. Sie bedarf zwar der Steuerung, ist aber zugleich für seine humane Entfaltung unentbehrlich“ (Korff, 232 f.). So wären die menschlichen Handlungsantriebe ohne die Aggressionen nicht zu verwirklichen. Allerdings müssen die Aggressionen auch in den emotionalen Zusammenhang des menschlichen Lebens integriert werden, weil sie sonst destruktiv wirken. Durch die rationale Überprüfung der aggressiven Antriebsimpulse auf das Ziel, z. B. die Beziehung, hin, können die Aggressionen konstruktiv und lebensfördernd eingesetzt werden. Das kann durch Regeln geschehen, nach denen Auseinandersetzungen geführt werden oder Beziehungslernen geschieht.

Von der ursprünglichen Wortbedeutung her ist nicht von vornherein klar, mit welchen Gefühlen, Motivationen und mit welchem Ziel Aggressionen als aktives „Auf-einander-Zugehen“ verbunden sind; ob es sich dabei um eine positive Begegnung oder um einen zerstörerischen Angriff handelt. Die so verstandene Aggression kann z. B. mit Gefühlen wie Ärger, Angst, Wut und auch mit Gefühlen wie Freude, Sympathie oder Liebe verbunden sein.

Ein Beispiel: Angenommen, Sie stehen in einer Schlange vor einem Bankschalter. Plötzlich erhalten Sie von hinten einen Schlag auf die rechte Schulter. Auf dieses „Herangehen“, auf diese Aggression können Sie unterschiedlich reagieren. Wenn Sie den Schlag als einen Überfall erleben, reagieren Sie wahrscheinlich mit Schrecken, Angst und Panik. Erfahren Sie den Schlag als freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und entdecken einen guten Bekannten hinter sich, den Sie lange nicht gesehen haben, stellt sich Freude und Sympathie ein. Empfinden Sie den Schlag als eine Ungeschicklichkeit und Unachtsamkeit, erleben Sie zunächst vielleicht Ärger und dann nach der Entschuldigung des anderen Wohlwollen und Verständnis. Interpretieren Sie den Schlag auf die Schulter als Unverfrorenheit und Frechheit, werden wahrscheinlich Ärger, Wut und Empörung hochkommen. Erleben Sie den Schlag als kumpelhafte Anbiederung, werden Sie vielleicht Ablehnung, Ekel und Ärger spüren. So kann dasselbe aggressive Verhalten sehr unterschiedliche Reaktionen auslösen, je nachdem wie dieser Schlag auf die Schulter empfunden und gedeutet wird.

Über den Ursprung der Aggressionen gibt es verschiedene, oft kontroverse Theorien. Alle enthalten wichtige Aspekte, die zum Ganzen einer Aggressionstheorie beitragen können. Bevor ich aber auf diese bisher bekannten unterschiedlichen Aggressionstheorien eingehe, möchte ich auf die neuesten Ergebnisse der pränatalen und perinatalen Psychologie hinweisen, die in den letzten Jahrzehnten zu einem Paradigmenwechsel geführt haben. Sie besagen, dass das Kind von der Zeugung an und vor allem in der pränatalen Zeit ein fühlendes soziales Wesen ist, das in der frühen Lebenszeit Erfahrungen macht, die seine spätere psychosoziale Entwicklung beeinflussen und im künftigen Leben Blockaden, Vermeidungen und Re-Inszenierungen auslösen können (Hildebrandt, 2015,12). Für emotionale Erfahrungen, also auch für Aggressionen, gilt: Entscheidend für den Einfluss eines Erlebnisses auf unsere psychosoziale Entwicklung ist die Möglichkeit eines Abgleichs mit einer Art Erfahrungs-Pool. Natürlich hat ein Mensch in der pränatalen und perinatalen Phase viel weniger Vergleichsmöglichkeiten in seinem Erfahrungs-Pool als ein Erwachsener, um Irritationen oder Krisen und Aggressionen einzuordnen. Hildebrandt bringt ein Beispiel: Bei der rauchenden Schwangeren geht es keineswegs nur um Gift und Gase, es geht um die erschütternde Erfahrung, dass sich das schützende und nährende System Plazenta plötzlich in ein bedrohliches, Erstickung bringendes Organ verwandelt. Damit soll nicht gesagt sein, dass Kinder rauchender Mütter prinzipiell einen seelischen Knacks hätten. Dennoch wird die Erfahrung abgespeichert und somit lebenslang Einfluss haben, und sei es nur in Form eigener Sucht. Dabei gilt der Grundsatz: Je früher das Erleben, desto geringer ist der Vergleichs-Pool, desto tiefer der Eindruck der Spur im Lebensweg. Die moderne Hirnforschung weist darauf hin, dass ganz frühe intrauterine Erfahrungen als besonders gravierend angesehen werden, weil sie wie eine Grund-Matrize, eine Art Ur-Erfahrung das Leben beeinflussen wie die Tonart einer Sinfonie. Natürlich gibt es dort immer mal wieder strahlendes Dur, aber die Grundtonart ist möglicherweise bitteres Moll (Hildebrandt, 2015,12 ff.).

Obwohl diese Ergebnisse der Hirnforschung in den nun folgenden Aggressionstheorien kaum berücksichtigt sind, können sie uns wichtige Hinweise über den Ursprung der Aggressionen geben.

Es gibt zwei Grundtheorien über die Entstehung und Auswirkung der Aggressionen. Die psychobiologische Richtung (Lorenz, Portmann sowie Freud und die Psychoanalyse) sehen die Aggressionen als angeborene und endogene Faktoren an. Dieses psychodynamische Modell nimmt den Energiebegriff der klassischen Physik auf, der besagt, dass man keine Energie einfach verschwinden lassen kann. Sie bleibt und sucht sich einen Ort. Ist dieser Ort gefüllt und kann er keine weiteren aggressiven Energien mehr aufnehmen, dann bedarf die aggressive Triebenergie eines Ventils. Die Lösung in diesem „Dampfkesselmodell“ liegt darin, dass die aggressiven Energien frühzeitig, bevor es zum „Überdruck“ mit Explosionsgefahr kommt, hinausgelassen werden auf ein anderes „Objekt“ hin, so dass sie z. B. im Sport ausgelebt werden können (Sublimierung).

Die lerntheoretische Schule gibt den Bezug auf den endogenen Trieb auf und schaut auf die äußeren Bedingungen und die Rolle des Lernens und der Erfahrung bei der Entwicklung aggressiven Verhaltens. „In der Sicht der sozialen Lerntheorie ist der Mensch weder von inneren Kräften getrieben noch hilflos von Umwelteinflüssen bedrängt. Psychologisches Funktionieren lässt sich am besten verstehen als dauernde reziproke Interaktion zwischen Verhalten und seinen kontrollierenden Bedingungen“ (Bandura, 43 f.). Auf dem Weg der Verhaltensformung ist es möglich, mit Hilfe entsprechender Belohnungs- und Bestrafungsstrategien auf dem Hintergrund von bestimmten Verhaltensmodellen einen wünschenswerten Umgang mit Aggressionen zu erlernen.

Die Frustrations-Aggressions-Hypothese (Dollard, Miller, Sears) sieht die Aggression als eine Konsequenz von Frustration. Für sie ist Aggression eigentlich reaktiv, d. h., „sie ist eine Folge der Verhinderung unmittelbarer Trieberfüllung“. Als solche ließe sich „Aggression dann auch durch Überwindung aller Frustration schaffenden äußeren Ursachen überwinden“ (Korff, 232).

W. Doise unterscheidet vier Erklärungsebenen für das bessere Verständnis menschlichen Verhaltens, die H. W. Bierhoff auf die Aggressionstheorien anwendet:


+Intraindividuelle Erklärungen: Theorien, die intrapsychische Ursachen für aggressives Verhalten heranziehen, z. B. eine hohe physiologische Erregung oder Ärger.
+Interpersonale Erklärungen: Aggressionen entstehen aus missverständlicher Kommunikation oder unterschiedlichen Interpretationen derselben Handlungen.
+Intergruppale Ebene: Aggressionen zwischen unterschiedlichen Gruppen oder Gruppenmitglieder sind aggressiv gegeneinander, weil sie unterschiedlichen Gruppen angehören.
+Ideologische Ebene: „Gesellschaftliche Ideologien legen fest, welche Handlungen erlaubt oder gar erwünscht sind und begünstigen oder verhindern damit auch die Entstehung von Aggression und Gewalt“ (Bierhoff, 4 f.).

(Ausführliche Darstellungen zu diesem Thema findet man u. a. bei Bierhoff, 2–25 und 88–106; Klessmann 1992, 36 ff.; Berkowitz, 27 ff.; Scharfenberg, 16 ff.; Kernberg, 137 ff.). In diesen Theorien zur Entstehung von Aggressionen kommt leider der positive Aspekt von Aggression als lebensfördernde und beziehungsstiftende Antriebsenergie zu kurz. Aggression wird zu einseitig destruktiv gesehen. Für uns ist es wichtig, dass alle diese Theorien wesentliche Aspekte zum besseren Verstehen von Aggression entfalten, jedoch letztlich keine von ihnen eine ganzheitliche Aggressionstheorie darstellt.

Aggressionen sind weder rein biophysikalische noch allein sozial bedingte Phänomene. „Wir sind ihnen weder hilflos ausgeliefert noch können wir sie durch geeignete Erziehungsmaßnahmen völlig aus der Welt schaffen … Aber sie sind formbar und für verschiedene Zwecke einsetzbar. Deswegen ist es von besonderer Bedeutung, die möglichen positiven und kreativen Funktionen von Ärger und Aggression ebenso zu verstehen und darzustellen wie ihre gefährlichen und destruktiven Wirkungen“ (Klessmann 1992, 60 f.).

In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, die Entstehung der lebensbehindernden und zerstörerischen Aggressionen näher zu betrachten (Besems 1980). Auf Schädigung oder Zerstörung ausgerichtete Aggressionen sind nicht der Ausgangspunkt, sondern die Folge eines Prozesses. Normalerweise liegen den Aggressionen in der Tiefe Verletzungen zugrunde, aus denen sie sich langsam entwickeln. Jede Verletzung bringt Schmerzen mit sich. Kann der Schmerz, aus welchen Gründen auch immer, nicht angemessen ausgedrückt werden, entsteht Ärger, die psychische Dimension der auf Schädigung ausgerichteten Aggression. Kann dieser Ärger keinen Ausdruck finden, so dringt er in die tieferen Schichten des Menschen ein und ruft u. a. körperliches Unwohlsein hervor, das gewöhnlich in Form der Wut zu Tage tritt. Wenn die in der Wut enthaltene Energie nicht in Bewegung gesetzt wird, entsteht die Aggression, die ein konkretes „Objekt“ sucht, woran sie sich ausagieren kann. Geschieht dies nicht, wird die Richtung der Aggression umgekehrt, gegen sich selbst, in die sogenannte Autoaggression.

Eine Wandlung der Aggressionen in ihre lebens- und beziehungsfördernde Dimension ist dann möglich, wenn ich die Stufen der Aggression in umgekehrter Reihenfolge noch einmal durchlaufe. Dabei muss ich darauf achten, dass ich die damit verbundene Energie und ihre Richtungsorientierung jeweils wahrnehme und auf den „richtigen“ Weg bringe.

Das bedeutet, dass ich bei der Autoaggression da ansetze, wo ich mich durch Aggressionen selbst schädige oder verletze, die eigentlich anderen gelten. Hier ist es notwendig, nach innen zu schauen und zu spüren, gegen wen sich eigentlich meine Aggressionen richten. Ist mir das klar, dann kann ich die Aggressionen nach außen richten, indem ich z. B. Steine auf ein stellvertretendes „Objekt“ werfe, darauf schlage, boxe, trommle oder es anschreie.

Danach kann ich neben dem Gefühl der Befreiung noch ein körperliches Unwohlsein spüren, das sich psychisch im Ärger ausdrückt. Ich bin erschöpft und erleichtert, spüre aber immer noch die Wut nachklingen und weiß nicht, wie ich die Energie abfließen lassen soll. Hier kann jede körperliche Bewegung helfen, z. B. laufen, körperlich arbeiten, viele Sportarten, damit ich zu einem größeren Gleichgewicht komme. Wut und verbleibender Ärger können auch in Wutbriefen, die laut gelesen werden, oder in Schimpfen und Anklagen bzw. in stellvertretenden körperlichen Auseinandersetzungen ausagiert werden.

Meist kommen danach Schmerz und Trauer hoch, oft vermischt mit Tränen, die andeuten, dass sich etwas löst. Der Blick ist frei für die Verletzung, die der Aggression zugrunde liegt, sei sie nach außen oder nach innen gerichtet. Hier kann dann der Prozess des Verstehens und der Versöhnung ansetzen, in dem die Aggressionen nicht mehr schädigend, sondern fruchtbar und lebensfördernd eingesetzt werden.

Wie bereits angedeutet, verstehen wir Aggressionen auch als einen Ausdruck von Lebensenergien, die in jedem Menschen vorhanden sind. Aggression ist eine positive Kraft, eine Antriebsenergie, die aus der inneren Lebensquelle des Menschen gespeist wird. Im Unterschied zur ungebündelten und eruptiven Wut kann die Aggression zielgerichtet und komprimiert werden (Besems, 30 ff.). Diese aggressive Lebensenergie macht den Menschen lebendig und aktiv, mit ihr gestaltet er kreativ seine Lebenswirklichkeit. Wir brauchen diese Antriebskraft immer wieder, um unsere potentiellen Möglichkeiten in Fähigkeiten und in Tun umzusetzen.

Im existentiellen Sinne bezeichnet Tillich diese aggressive Lebenskraft als „power to be“, d. h. als Trieb jedes lebendigen Wesens, sich mit zunehmender Intensität und Extensität selbst zu realisieren (Tillich, 36). Mit dieser aggressiven Lebenskraft verwirklicht der Mensch zunächst sich selbst. Sie gibt ihm die Möglichkeit, sein Leben in die Hand zu nehmen. Er entwickelt Selbstständigkeit und kann zu einer autonomen Persönlichkeit werden. Damit ist natürlich nicht eine fremdbestimmte Selbstsicherheit gemeint, die sich in Leistungen und den entsprechenden Bestätigungen durch andere beweisen muss. Die innere Lebenskraft zeigt ihre wahre Stärke in Krisensituationen und bei großen Herausforderungen. „Solche aktive Selbstbehauptung ist erfolgreich in dem Maß, wie die Subjekte in diesem Prozess der Selbstbehauptung ihre eigene Kraft spüren und die davon betroffenen „Objekte“ merken, dass sie es nicht mit einer aufgeblasenen Fassade, sondern wirklich mit dem Ausdruck einer inneren „power to be“ zu tun haben“ (Klessmann 1992, 75).

Das aggressive Potential ist ebenso notwendig, um die Welt zu erforschen und die anderen Menschen als Du zu entdecken, um dann auf dieses Du zuzugehen und Beziehungen anzuknüpfen.

In der Beziehung zu Gott ist die Aggression ein wichtiger Impuls auf unserer Suche nach einer Begegnung mit ihm, nach dem Gott, der in uns wohnt und gleichzeitig als Du im „Außen“ unseres Selbst zu finden ist.

Wir können unseren aggressiven Lebensenergien unterschiedliche Richtungen geben und sie verschieden wirken lassen. Wir können sie lebens- und beziehungsfördernd einsetzen. Wir können sie aber auch destruktiv-zerstörerisch gegen uns selbst und andere richten. Oder wir können sie einfach brachliegen und ruhen lassen. Das verursacht auf Dauer einen Energiestau, der sich dann vielleicht an unpassender Stelle Raum und Luft verschafft.

Daraus ergibt sich die Aufgabe, Wege zu finden, wie wir unser aggressives Lebenspotential lebensfördernd und beziehungsstiftend einsetzen können. In diesem Sinne schreibt C. Thompson: „Aggression ist keinesfalls notwendig destruktiv. Sie kommt aus einer angeborenen Tendenz, zu wachsen und das Leben zu meistern … Nur wenn diese Lebenskraft in ihrer Entwicklung behindert wird, verbinden sich Elemente von Ärger, Wut oder Hass mit ihr und werden schließlich zu erbarmungsloser Aggression“ (Thompson, 179).


2.Einige mit der Aggression verwandte Begriffe: Ärger, Wut, Zorn, Hass, Feindschaft, Groll

Da die mit der Aggression verwandten Begriffe wie Ärger, Wut, Zorn, Hass und Groll häufig vermischt und synonym gebraucht werden, wollen wir eine kurze Klärung und Abgrenzung der wichtigsten Begriffe vornehmen.

Ärger ist vor allem ein psychisches Unwohlsein, das sich u. a. in einer lauteren Stimme, in Fluchen, Schimpfen, Drohgebärden und heftigen Bewegungen äußern kann. Die körperliche Erregung (z. B. Erröten, Schweißausbruch, drohende Gebärden, erhöhte Pulsfrequenz) muss „einer bestimmten psychologischen und kognitiven Einschätzung und Zuordnung unterworfen werden, um als spezifisches Gefühl – und nicht nur als diffuse Erregung wahrgenommen zu werden“ (Klessmann, 24; Bierhoff 5 f.).

Neben dieser Verbindung der physiologischen Erregung mit einer psychischen Einschätzung der aktuellen Situation spielt auch das soziokulturelle Element eine Rolle: „Die Einschätzung und Zuordnung sowohl der physiologischen Erregung als auch der auslösenden Situation sind bestimmten vorgegebenen gesellschaftlichen Regeln und Normen unterworfen, also nicht völlig Ausdruck individueller Spontaneität und Freiheit“ (Klessman 1992, 25). So ist Ärger eine Mischung aus Leidenschaft und einem kontrollierbaren Ausdruck. Kann der Ärger nicht geäußert werden, wirkt die Kränkung weiter und der Ärger schlägt plötzlich in Wut um.

Wut ist zunächst ein mehr körperliches Unwohlsein, ein leidenschaftliches Gefühl, das einfach „heraus“muss. Das geschieht meist unkontrolliert, eruptiv und wenig zielgerichtet und äußert sich in lautem Türzuschlagen, im Zertrümmern von Geschirr, im Treten gegen einen Schrank u. a. m. Wut ist ein Zustand „hoher affektiver Erregung mit motorischen und vegetativen Erscheinungen, der sich als Reaktion auf eine Beeinträchtigung der Persönlichkeits- oder Vitalsphäre aus einem aggressiven Spannungsstau entwickelt“ (Tisch, 2572). Nach einem Wutausbruch tritt meist wieder eine Ruhepause ein, ohne dass allerdings das eigentliche Problem gelöst ist: mit der dahinterliegenden Verletzung und Ohnmacht (ohnmächtige Wut) heilsam umzugehen.