Einführung in die systemische Sexualtherapie

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Aus der Reihe: Carl-Auer Compact
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Einführung in die systemische Sexualtherapie
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Karina Kehlet Lins

Einführung in die systemische Sexualtherapie

2020


Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

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Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

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Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

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Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlag: Heiner Eiermann

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza

Erste Auflage, 2020

ISBN 978-3-8497-0334-9 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8239-9 (ePUB)

© 2020 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

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Inhalt

Vorwort

1Einleitung

1.1Die heteronormative Erzählung

1.1.1Es gibt nur ein Geschlecht

1.1.2Die evolutionäre Perspektive

1.1.3Gesellschaftliche Einflüsse auf das Sexualverhalten

1.1.4Frauen kommen zu kurz

1.1.5Die »Neuentdeckung« der Klitoris

1.1.6Sexualität jenseits alter Reaktionen

1.2Sexualtherapie in einer vielfältigen Welt

1.3Die vorherrschende Tendenz

1.4Die systemische Sexualtherapie

2Besonderheiten der systemischen Sexualtherapie

2.1Vom Können zum Wollen

2.2Besonderheiten der systemischen Sexualtherapie

2.3Interventionen

2.4Sex als Ressource

3Die erotische Kompetenz

3.1Die evolutionäre Perspektive: der Trieb

3.2Das richtige Maß an sexuellem Verlangen

3.3Sexuelle Lustlosigkeit

3.4Der Selbstbestimmungsdiskurs

3.5Die Selbst-Ernennung

4Fremdbestimmt, partnerbestimmt, selbstbestimmt

4.1Fremdbestimmt

4.2Partnerbestimmt

4.3Selbstbestimmt

4.4Von der Fremdvalidierung zur Selbstvalidierung

5Lust in der Beziehung

5.1Bindung

5.2Differenzierung

6Die sexuelle Interaktionsfähigkeit

6.1Nicht heute Abend, Schatz!

6.2Ehrlich währt tatsächlich am längsten

7Therapeutisches Handwerk

7.1Neutralität

7.2Konsequenzen der Nichtveränderung

7.3Auftragsklärung

7.4Interesse

7.5Anamnese

7.6Das sexuelle Genogramm

7.7Prozesssteuerung

7.8Ambivalenz

8Das erotische Profil

8.1Autorschaft über das sexuelle Begehren

8.2Unterschiedliche sexuelle Profile

8.3Die sexuelle Differenz

8.4Das ideale sexuelle Szenario

9Schlusswort

9.1Zusammen auf eigenen Beinen stehen

9.2Zielneutral und normfrei

9.3Ausblick

Literatur

Über die Autorin

Vorwort

Dieses Buch erscheint zu einer Zeit, in der sich besonders in der westlichen Welt viele Veränderungen in Bezug auf Sex und Liebe vollziehen. Gerade für Fachleute im Bereich der Psychotherapie ist es wichtig, sich des sich verändernden Klimas bewusst zu werden, denn wir werden in Zukunft nicht weniger Vielfalt sehen, sondern im Gegenteil mehr. Wir brauchen darum mehr Psychotherapiebücher, die explizit unterschiedliche sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten sowie die vielen verschiedenen Arten, Beziehungen zu führen, thematisieren.

 

In meiner Arbeit als Therapeutin habe ich mich vertieft mit dem Teil der Bevölkerung beschäftigt, der unter dem Akronym LGBTQ1 bekannt ist. Meine Einstellung dazu ist insofern wenig normativ, als ich z. B. nicht ein bestimmtes Verhalten als typisch männlich ansehe oder denke, dass zwei Frauen, die eine langjährige intime Beziehung führen, aufgrund ihrer »rezeptiven« oder »passiven« Sexualität natürlicherweise immer weniger Sex haben. Diese wenig normative Einstellung signalisiert auch eine Offenheit gegenüber vielen anderen sexuellen Praktiken, was zur Folge hat, dass ich neben der LGBTQ-Bevölkerung viele Klienten sehe, die sich trauen, offen über eher ungewöhnliche sexuelle Praktiken und Präferenzen zu sprechen. Interessanterweise erlebe ich auch eine steigende Anzahl an Klienten, die sich unzulänglich fühlen, weil sie denken, sexuell gesehen nicht ungewöhnlich genug zu sein.

Auch wenn im Buch die grammatikalisch männliche Personenbezeichnung aus Gründen der Lesbarkeit verwendet wird, möchte ich betonen, dass dieses Buch einen inklusiven Ansatz verfolgt und sich an alle Geschlechter wendet. Wenn in diesem Buch die Begriffe »Klient« und »Paar« benutzt werden, schließen diese also alle Menschen ein, unabhängig von der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität. Manche meinen, dass es mehr Heterosexuelle gebe und dass der inklusive Blick die Dinge kompliziere – sowohl für den Leser als auch für den Autor. Sie halten es für einfacher, nur diesen größeren Teil der Bevölkerung anzusprechen, wobei Menschen in gleichgeschlechtlichen Beziehungen aber natürlich auch gemeint seien und die Begriffe einfach für sich übersetzen müssten. Dieser Ansatz mag für manche nachvollziehbar sein, aber letztendlich schließt er doch einen wesentlichen Teil der Bevölkerung aus und fördert gleichzeitig ein enges, stereotypes Denken. Das bedeutet nicht, dass die in diesem Buch vorgestellten Theorien nicht auch für heterosexuelle Beziehungen gelten. Im Gegenteil, die meiste der in diesem Buch verwendeten Literatur zielt auf heterosexuelle Beziehungen. Mein Ansatz soll nur klarstellen, dass es in diesem Buch um alle Menschen geht.

Es lohnt sich, mit dem Thema Sexualität zu arbeiten: Wenn es um Sex geht, kann ein Gespräch in der Therapie entwickelt werden, bei dem man mehr über einen Menschen lernt als bei irgendeiner anderen Fragestellung. Dabei ist ein neugieriger und individueller Ansatz angezeigt, bei dem der einzelne Klient oder das Paar im Zentrum steht und theoretische Vorannahmen in den Hintergrund treten. Für einen Psychotherapeuten ist der bewusste Verzicht auf vorgefasste Meinungen entscheidend. Das Ziel dieses Buches ist es darum, Richtlinien für therapeutische Reflexionen und Entscheidungen einzuführen, statt neue Wahrheiten zu präsentieren. Auch für diejenigen, die hauptsächlich mit dem heterosexuellen Teil der Bevölkerung arbeiten, hilft der Blick durch die Linse der Vielfalt, mit dem Thema Sex vertieft zu arbeiten. Sex ist zwar ein kleines Wort, hat aber eine große Fülle an Bedeutungen.

Karina Kehlet Lins Berlin, Juni 2020

1LGBTQ ist ein englisches Akronym und steht für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender und Queer. Es gibt manchmal zusätzliche Buchstaben, wie I für Intersex und A für Asexual. Weil es ein dynamisches Feld ist, wird auch oft ein +-Zeichen am Ende gesetzt, weil andere Menschen, die sich z. B. als Gender-fluid betrachten, so auch mit einbezogen werden können.

1Einleitung

Wenn man fragt, was Paare von Freunden unterscheidet, denken die meisten an Sex. Auch wenn man streng genommen vieles mit einem Partner macht, was man nicht unbedingt mit Freunden machen möchte, und man mit jemandem Sex haben kann, den man sich nicht als Lebenspartner wünscht, bleibt es nichtsdestotrotz so, dass Sex eine sehr wichtige Rolle für die meisten Paare spielt und das Thema deswegen eine besondere Bedeutung für unsere Beziehungen hat.

In der gegenwärtigen Kultur, die von wachsender Individualisierung und Traditionsbrüchen geprägt ist, wird die Paarbeziehung zunehmend als Mittelpunkt von Hoffnungen und Bestrebungen betrachtet. Zentral ist dabei die Transformation der Bedeutung von Intimität, die nach einem neuen Gleichgewicht zwischen dem Wunsch nach individueller Freiheit und der Möglichkeit der Bindung sucht. Es besteht ein großes Interesse daran, individuelle Zufriedenheit und gegenseitiges Engagement in Einklang zu bringen (Weeks, Heaphy a. Donovan 2001).

Während sich in der Gegenwart viele Veränderungen in Bezug auf Sex und Liebe vollziehen, stagnierte die sexualtherapeutische Entwicklung seit Mitte der 1980er-Jahre hingegen: Keine nennenswerten Neuigkeiten wurden gemeldet und damit ging eine Remedikalisierung der Behandlung von sexuellen Störungen einher (Clement 2004). Heutzutage ist es vor allem die pharmakologische Industrie, die Interesse an der Sexualforschung hat: mit dem Ergebnis, dass jetzt hauptsächlich untersucht wird, was bei sexuellen Herausforderungen von Menschen biologisch und physiologisch nicht stimmt. Das bedeutet, dass die vorherrschende Sicht der Wissenschaft geprägt ist von einem linearen Denken, bei dem eine bestimmte Ätiologie durch spezifische physiologische Prozesse zu einer Symptomatik führt, im Sinne von Stimulus und Respons. Diese Denkweise ist zu reduktionistisch, um gängige sexuelle Herausforderungen zu verstehen. Beispielsweise gibt es im klinischen Alltag öfters Männer, die unter Erektionsschwierigkeiten leiden und Viagra verschrieben bekommen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass diese Männer es wieder absetzen und stattdessen mit Beschwerden über ein niedriges Lustempfinden erneut auftauchen (z. B. Hall 2004). Die Bedeutung eines Symptoms scheint wichtig zu sein, wird aber übersehen, wenn man nicht das ganze Bild betrachtet.

Die Systemtheorie bietet einen konstruktiveren Rahmen, in dem es eine Verschiebung von dem individuellen psychopathologischen Denken zu einem Ansatz gibt, der auf die Verhältnisse zwischen den Individuen fokussiert. Systemisch gesehen schaut man auf das große Ganze, das Gesamtsystem ist mehr als die Summe seiner Elemente. Der Akzent in der systemischen Sichtweise liegt nicht mehr auf einem einzelnen Teil, sondern verschiebt sich auf den Umgang der Teile miteinander. Die Beziehung zwischen Klienten wird sozusagen der eigentliche Klient. Interessant wäre es zu wissen, wie der Partner des gerade erwähnten Mannes mit ihm umgeht und ob es eventuell Beziehungskonflikte gibt, die das Symptom, die ausbleibende Lust, verständlicher machen. Es ist sinnvoll, sexuelle Symptome im größeren Kontext zu betrachten, und die systemische Sexualtherapie bietet einen guten Rahmen dafür.

Die Forschung konzentriert sich jedoch bisher auf die Frage, wie oft Paare durchschnittlich Sex haben – über alles andere weiß man nur wenig (von Sydow u. Seiferth 2015). Und Diskussionen darüber, was genau Sex ausmacht, illustrieren sehr gut, dass jeder seine eigenen Ideen, Gefühle und Normen hat. Keine zwei Menschen denken gleich darüber, weshalb es ein verzwicktes Thema sein kann. Inwieweit man die gegenseitigen Erwartungen erfüllen kann, hängt sehr viel von Kommunikation ab. Für einen Therapeuten sollte es klar sein, wer entscheidet und was richtig und wichtig ist: nämlich der Klient. Im Sinne von Anderson und Goolishian (1992) ist eine Haltung des »Nichtwissens« aufseiten des Therapeuten hilfreich, damit der Klient seine eigene Wahrheit finden kann. Es gibt schließlich nicht die »eine« Wahrheit. Dementsprechend muss der Therapeut neutral bleiben und nicht eine standardisierte Sichtweise verfolgen. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen einer nichtwissenden Haltung der Neugierde und einem Therapeuten, der einfach nicht über ausreichendes Wissen für diese Arbeit verfügt. Es ist bedauerlich, wenn z. B. LGBTQ-Klienten ihre Therapeuten erst über ihren »anderen« Lebensstil aufklären müssen, weil eine Fülle an Forschungsliteratur zeigt, dass gerade diese Klienten mit der Behandlung in den psychologischen und psychiatrischen Diensten unzufrieden sind, in denen sie immer noch auf Vorurteile, Diskriminierung und offene Homo- und Transphobie stoßen (Butler 2009). Es liegt also in der Verantwortung des Therapeuten, sich Hintergrundwissen anzueignen. Man muss dabei kein Experte für LGBTQ-Angelegenheiten werden, denn auch homosexuelle Klienten kommen heute selten mit spezifischen Fragen in Bezug auf ihre sexuelle Orientierung in die Therapie, sondern haben die gleichen Fragen und Anliegen, mit denen heterosexuelle Klienten konfrontiert sind. Beziehungsprobleme sind im ganzen sexuellen Spektrum ähnlich (Kleinplatz 2013).

Es ist die Aufgabe des Therapeuten, die sich wiederholenden Muster, die Klienten in ungewollten sexuellen Dynamiken gefangen halten, zu unterbrechen und im Sinne der narrativen Systemtherapie die Klienten einzuladen, neue Geschichten zu erzählen, indem ihnen neue Fragen gestellt werden (Ogden 2012). Ein geringes sexuelles Verlangen kann ein gutes Urteilsvermögen widerspiegeln: Gesunde Menschen wollen keinen Sex, wenn es sich nicht lohnt, ihn zu wollen, oder wenn sie unter Druck stehen, ihn wollen zu müssen.

Allerdings ist Sex ein komplexes Phänomen. Es wird von biologischen, kulturellen, psychologischen und soziologischen Faktoren beeinflusst, für manche zählen auch noch religiöse Überzeugungen dazu. Der sexuelle Lebensverlauf kann sich wie eine spannende Entdeckungsreise anfühlen, kann aber auch eine Folge unerwarteter Enttäuschungen und Erlebnisse sein. Wie der sexuelle Entwicklungsprozess sich gestaltet, hängt u. a. davon ab, wie mit Sex zu Hause, in der Schule, im Austausch mit Freunden und in den Medien umgegangen wird – unser Umfeld prägt und beeinflusst uns sehr. In der Sexualforschung spricht man deswegen öfters von einem biopsychosozialen Modell.

Hinzukommt, dass niemals jemand die gleiche Sexualität hat wie ein anderer; keine zwei Menschen verfügen über die gleiche sexuelle Lebensbiografie, empfinden zur gleichen Zeit Lust oder werden durch genau die sexuellen Aktivitäten, die den Partner am meisten antörnen, erregt. Diese Verschiedenartigkeit kann man als bedrohlich ansehen und versuchen zu vermeiden, was bei vielen Paaren eine vorhersagbare – und vielleicht langweilige – Sexualität erzeugt. Wer sich nicht damit zufriedengeben möchte, findet gute Möglichkeiten, durch die systemische Sexualtherapie den Blick zu weiten.

1.1Die heteronormative Erzählung

Die Gründer der Sexualwissenschaft haben ein Modell der Sexualität konstruiert, dem wir nur schwer entkommen. Sie haben ein Modell angeboten, das insofern normativ war, als es heterosexuell, zeugungsfordernd und vor allem männlich orientiert war. Die weibliche Sexualität wurde stets als zweitrangig und responsiv gegenüber der männlichen Sexualität gesehen. Die Annahme war, dass es zwei deutlich voneinander abgegrenzte Kategorien gibt, nämlich Männer und Frauen, eine Dichotomie von Interessen, und diese »Wahrheit« wird in der heterosexuellen Struktur von Gesellschaft aufrechterhalten, wo alles andere als Abweichung von der Norm verstanden wird (Weeks 2017).

Obwohl Sex ein ständig präsentes öffentliches Thema ist, gibt es bei vielen Menschen weiterhin massive Wissenslücken (von Sydow u. Seiferth 2015). Viele Menschen messen Eigenschaften immer noch einem bestimmten Geschlecht zu. So wird beispielsweise Fürsorglichkeit als ein »weibliches« Verhalten bezeichnet. Wenn es als Persönlichkeitsmerkmal von Geburt an vorhanden ist, wird es durch den aktuellen Zeitgeist bei Jungen ignoriert oder ruft sogar negative Assoziationen vorher, während es bei Mädchen bestätigt und belohnt wird. Wenn dann das Sexualverhalten später außerhalb der Geschlechterrollenstereotypen verläuft, stellen Menschen oft ihre eigene Identität und Sexualität infrage. Theorien, Überzeugungen und Mythen über die Unterschiede zwischen Frauen und Männern ergeben fast eine Karikatur von »männlicher« und »weiblicher« Sexualität, in der sich Männer allein für Sex interessieren und Frauen nur durch liebevolle Intimität sexuell erregt werden können. Als ob Männer nicht auch Zärtlichkeit bräuchten und Frauen keinen Sex haben könnten, ohne dass er beziehungsorientiert ist. Trotzdem wird der Mann oft als der sexuell aktive Part dargestellt und die Frau als sexuell passiv.

 

»Maskulin« und »feminin« sind im Grunde relative Begriffe, weil sie miteinander in Beziehung stehen, sie ergeben nur Sinn im Vergleich zum anderen. Es wird dann unvermeidbar, dass auch normative Definitionen von Sexualität durch diese Beziehung strukturiert werden und eine Privilegierung von Heterosexualität nach sich ziehen. Es kommt dadurch zu einer Art institutionalisierter Heterosexualität. Bei Menschen, die den durch diese Begriffe geprägten scheinbaren Rahmen von Männlichkeit und Weiblichkeit verletzen oder gar sprengen, indem sie zum Beispiel einen mehr androgynen oder nonbinären Eindruck vermitteln bzw. sich transgeschlechtlich fühlen, geht es um die ultimative Grenzüberschreitung, die auf viele so herausfordernd wirkt (Weeks 2017). Es geht gegen alles, was wir gelernt haben. Aber auch die große Mehrheit der anderen leidet unter dieser heterosexuellen Norm, die z. B. beinhaltet, wie ein »echter« Mann zu sein hat. Wir sind irgendwie alle Abweichungen von dem perfekten Ideal, der uns vorgeführt wird, versuchen uns aber so gut wie möglich anzupassen.

1.1.1Es gibt nur ein Geschlecht

Gerade die weibliche Sexualität war dabei schon immer ein Problem und für viele Sexualwissenschaftler im Westen ein Rätsel. Von der Antike bis ins 18. Jahrhundert gab es außerdem nur ein Geschlecht, nämlich das männliche, und Frauen wurden als umgekehrte Version der Männer gesehen (Laqueur 1990). Historisch betrachtet ist also das Verständnis von zwei Geschlechtern relativ neu. Seit dem 18. Jahrhundert gilt vorrangig die Sichtweise, dass Frauen – und ihre Sexualität – grundlegend anders seinen als Männer, aber ihre Sexualität im Prinzip die männliche ergänze. Das heißt reaktiv vs. spontan, responsiv vs. aktiv, hervorgerufen durch einen »Fortpflanzungsinstinkt« oder durch die Kompetenz des Werbers (Weeks 2017).

Diese Idee hat sich in vielen Bereichen unserer Gesellschaft durchgesetzt und lässt sich nicht einfach löschen. Auch in mancher Forschung werden biologische Argumente benutzt. Deren evolutionäre Perspektive kennt viele Anhänger und ist gleichzeitig zutiefst konservativ in den Auswirkungen. Obwohl diese Perspektive durchaus nützlich sein kann, ist ihr Wert begrenzt, wenn man damit menschliche Sexualität erklären will. Deren Einzigartigkeit liegt ja gerade darin, dass sie sich weit von der Fortpflanzung entkoppelt hat und man auch in Zeiten, in denen die Sexualität nicht zu Fortpflanzung führen kann, sexuell interessiert und erregt sein kann (von Sydow u. Seiferth 2015).

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