Halbbitter

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Halbbitter
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Karin Knopf

Halbbitter: Mein Jahr mit 100 Männern

Das Manuskript ist in klassischer Rechtschreibung verfaßt, wörtliche Rede kursiv gesetzt.

Orthografische Fehler in den eMail- und Chat-Dialogen wurden bewußt erhalten.

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes sind sämtliche Namen verändert, teilweise die Orte vertauscht.

Titelfoto: Dagmar von den Driesch

Covergestaltung: Frank Mai

Redaktion: Claus Bienfait

© 2012 SolaVista.tv Ltd., Birmingham/Cologne

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Inhalt

1 Ehrlich bis zum Anschlag

Bekenntnis zur Unanständigkeit

2 Attraktion, Illusion, Projektion

Aus dem Poesiealbum der Mädchenträume

3 Fremder, vertraut

Alle Männer sind Schweine; hoffentlich bekomme ich auch eins

4 Das Martins-Prinzip

Routine der Selbsttäuschung

5 Die wilde Woche

Hemmungen verlieren, Überblick behalten

6 Schmerzhafte Lehre

Wenn du Liebe brauchst und keinen Sex

7 Auch Männer sind nur Menschen

Warum Arroganz der Auslese dient

8 Die Gnade der zweiten Nacht

Halbbitter ist besser als ganz bitter

9 Weibliche Lust, männlicher Frust

Datenbank der Gefühle

10 Verliebt, verrückt, verzweifelt

Jagst du schon oder lockst du noch?

11 Ungeschminkt und fern der Heimat

Er will Ansehen, sie will aussehen

12 Gustav Gans und andere Verirrungen

Das Märchen von der lieben Frau

13 Die Hänschenfrage

Männer sind wie Hunde: anhänglich

14 Problembären erlegt

Eine Kosten-Nutzen-Analyse

15 Die zehn Gebote

Online, offline

Kapitel 1

Ehrlich bis zum Anschlag

Bekenntnis zur Unanständigkeit

Das war ein Scheißabend. Gleich mal der Blitzer an der Kreuzung in Gmund. Danach mein Blindflug durch den Nebel. Und in Schwabing verfahre ich mich sowieso immer. Alle Einbahnstraßen führen in die falsche Richtung. Erst kein Parkplatz, dann kein Kleingeld. Was schiefgehen konnte, war also schon schiefgegangen.

Da hätte der Typ ohnehin nichts reißen können, null Chance, auch wenn er ausgesehen hätte wie Til Schweiger. Sah er aber nicht. Karsten sah aus wie ein Zöllner auf Heimaturlaub. Mit Schnauzbart, im karierten Hemd und mit angekauten Fingernägeln, festgekrallt an der Apfelschorle. Dafür war er ganz bei sich, leider den ganzen Abend. Er erzählte und erzählte und erzählte, nur von sich. Was er tut und wie toll er das macht. Das geht alles gar nicht.

Am meisten aber habe ich mich über mich selbst geärgert. Ich Dämeltier glaube doch immer noch an das Gute im Menschen. Auch im Mann. Aber die Wirklichkeit ist anders. Es laufen so verdammt viele Krücken frei rum. Und ich kann nicht über meinen Schatten springen. Ich stehe nun mal auf ungewöhnlich gepflegt. Und bekomme gewöhnlich ungepflegt. Dazu dümmlich. Und phantasielos. Wenn so eine Niete dann noch auf dicke Hose macht, verliere ich jede Beißhemmung.

Ich kicke die Pumps in die Ecke und fahre den Rechner hoch. Einen Blick in den Kühlschrank habe ich mir erspart. Ich komme zu nichts mehr. Aber Hauptsache, ich weiß, wie ich meinen Hunger auf Leben stillen kann. Neues Spiel, neues Glück. Einen Klick weiter wartet meine nächste Chance. Die Auswahl ist ja theoretisch unbegrenzt. In der Praxis kann ich gar nicht so viel wie ich könnte. Die Woche hat nur sieben Tage. Ein, zweimal muß ich abends arbeiten. Und zur Tagesfreizeit taugen bloß die Kandidaten mit Bikinistreifen am Ringfinger.

Spätestens jetzt muß doch jeder mich für eine Schlampe halten, stimmt's? Ja, stimmt, irgendwie schon. Manchmal denke ich das selber. Aber dann auch wieder nicht. Ich verstehe mich selbst nicht so genau. Als ich ins Netz gestartet bin, wollte ich nur einen, den einen, ganz für mich allein. Und mit ihm frohen Herzens in den Sonnenuntergang reiten.

Ein Jahr und viele Dutzend Fehlversuche später habe ich mich von der reinen Lehre verabschiedet. Oder verabschieden müssen. Quatsch, keine Ausreden. Ich will ehrlich sein: Der Appetit kam beim Essen, und jetzt kann ich nicht aufhören. Denn mit jedem Mann werde ich begehrenswerter. Mit fast jedem. Karsten hätte nun nicht sein müssen.

Vielleicht sollte ich mich erstmal ordentlich vorstellen. Ich heiße Karin Knopf. Darüber sind schon genug Witze gemacht worden. Aber überflüssig fühle ich mich nicht. Im Gegenteil: Seit ich online bin, kann ich jeden haben. Theoretisch. Doch das sagte ich schon. Jedenfalls hat das Internet aus mir eine andere Frau gemacht. Jetzt weiß ich, was wirklich zählt bei den Männern. Und so lange ich sie noch zählen kann, schäme ich mich nicht. Mein Spiegel hält einiges aus.

Doch der Reihe nach. Ich bin 39 b, will heißen: voriges Jahr habe ich meinen 40. Geburtstag erlitten. Die Vier ist unsexy, egal wie man sie schreibt. Eine Vier ist nicht mehr jung und noch nicht alt, einfach nur behäbig. Einen Sohn habe ich auch, der ist gerade in der Pubertät und ziemlich anstrengend. Das hat er mit seinem Vater gemeinsam, mit dem ich fast zwanzig Jahre verheiratet war. Geboren bin ich in Finsterwalde, am Rande des Spreewalds, als es noch das andere Deutschland gab. Ich habe im VEB Kohle und Energie als FDJ-Sekretärin gearbeitet. Nach der Wende bin ich rübergemacht in den Westen, der so golden gar nicht war, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Ich habe bei Verwandten im Schwarzwald gelebt, bevor ich nach Bayern ging. Jetzt kellnere ich im Herzoglichen Bräustüberl am Tegernsee. Ich mag meine Arbeit, die Kolleginnen mehr, den Chef weniger, die meisten Gäste mehr oder weniger. Und ich kriege ordentlich Trinkgeld, auch von denen, die mir in ihrem Vorzimmer keinen Blick schenken würden. Hier bin ich fix und frech, da wäre ich fix und fertig.

Aber das alles ist gar nicht mein Thema. Ich will berichten, was ich mit den Männern erlebt habe, die mir ins Netz gegangen sind. Die ich am Monitor einfangen habe, dann mit meiner sexy Telefonstimme und später real. Eine Freundin hatte mir von neu.de erzählt und daß sie da ihren Neuen gefunden hat. Bingo, große Liebe. Das wollte ich auch, natürlich, wie alle Frauen. Ich träumte von Mr. Right, der mir unterm Weihnachtsbaum den Karpfen tranchiert. In ein paar Wochen ist es wieder soweit.

Doch so einfach geht das nicht. Auf dem elektronischen Kontakthof läuft das nicht wie draußen, schön einer nach dem anderen und dazwischen ein paar Monate Pause. Das Karussell dreht sich schnell und immer schneller. Die Burschen stehen Schlange. Ich brauche nur noch Ja oder Nein zu sagen, für ein Vielleicht ist keine Zeit. Daumen hoch und Hose runter. Oder umgekehrt. Am Anfang war ich überwältigt von dem Angebot, wie die Ossi-Maus an der Frischetheke, mit strahlenden Augen, so viele Bananen. In diesem Supermarkt der Eitelkeiten bin ich in einen Kaufrausch verfallen. Ich habe nach links und rechts ins Regal gegriffen, erst wahllos, dann süchtig nach dem neuen Kick, nach Köpfen und Körpern, nach der Ware Mann, vor allem aber nach Anerkennung und dem Gefühl, daß er nur mich will, jetzt und hier und unbedingt. So reihte ich einen an den anderen, probierte ihn aus, legte ihn ab. Ich tat das, was niemand mir antun soll. Und im nachhinein tat mir das dann manchmal leid.

Schon als kleines Mädchen wollte ich es allen recht machen, jedem gefallen, immer gelobt werden. Anfangs hat das auch funktioniert. Ich war ein hübsches Kind, artig und ein bißchen schüchtern, der Liebling meiner Eltern, aller Onkel und Tanten. Ich sang ihnen mit Schleife im Haar hübsche Lieder vor und feierte damit meine ersten Erfolge. Dann erblühte ich zur Schulschönheit, und auch die Lehrer mochten mich, bis ich in der Pubertät zum häßlichen Entlein mutierte. Auf einmal war ich pummelig, ich hatte Pickel und zu wenig Busen. Das alles hat sich ausgewachsen, aber es war ein Schock, von dem ich mich bis heute nicht erholt habe.

Und trotzdem habe ich einen abgekriegt, Rüdiger, den begehrtesten Junggesellen aus der Niederlausitz. Ohne Mätzchen, einfach so, durch sozialistische Fügung. Vielleicht imponierte ihm, wie ich meine Brigade auf Trab brachte. Oder mein loses Mundwerk. Keine Ahnung, jedenfalls liefen wir schnurstracks aufs Standesamt. Damals in der DDR haben ja alle früh geheiratet, damit wir eine eigene Wohnung bekamen. Unsere Ehe hielt genau neunzehn Jahre, acht Monate und sieben Tage. Die Luft war schon länger raus, die Scheidung nur noch ein Verwaltungsakt. Als unser Tobi 15 wurde, ist er zum Vater gezogen. Ich war einverstanden, denn der Junge sollte ja nicht ohne männlichen Einfluß

aufwachsen. Heute kann er kochen, bügeln, nähen und den Müll runtertragen. Seine Frau wird später mal ihre helle Freude an ihm haben.

Oder auch nicht. Vielleicht schlägt das Pendel zurück. Vielleicht sind wieder richtige Männer gefragt. Ich merke es ja an mir. Mit einem biegsamen Waschlappen kann ich nichts mehr anfangen. Wer mir nicht Paroli bietet, hat nichts zu lachen. Und das ganze Emanzipationsgeplapper ist sowieso nur was für die unausgelastete Wessi-Tussi. Für so was hatten wir drüben gar keine Zeit, da waren wir Frauen gleichberechtigt, ohne darum kämpfen zu müssen, im Beruf genauso wie zu Hause.

Nach Rüdiger kam Ansgar, aber den habe ich irgendwie verdrängt. Es gab keinen Streit, es gab keine Liebe. Wir haben miteinander gelebt und nebeneinander her, völlig unauffällig, sieben verlorene Jahre. Nur wie es endete, daran erinnere ich mich genau. Ich arbeitete damals als Hausdame und habe mich Hals über Kopf in einen Bundeswehr-Soldaten verliebt, der mit seinem Sohn zur Vater-Kind-Kur bei uns in der Klinik war. Am dritten Tag bin ich nach dem Dienst heimgefahren und habe meine Sachen gepackt. Schon verrückt.

 

Vier Tage später fiel ich von Wolke sieben. Die Fahrkarte nach Köln hatte ich bereits gekauft, als der Herr Feldwebel mich wieder auslud. Seinen Abschiedsbrief kann ich heute noch auswendig. Ich sei ihm zu perfekt, sein Leben dagegen völlig ungeordnet, schrieb er mir auf liniertem Papier, das könne nichts werden, und außerdem habe er sich zum Auslandseinsatz gemeldet. Der Kanonenschlag saß, ich wußte gar nicht, wie mir geschah, ob ich das vielleicht nur geträumt hatte. Anfang oder Ende. Erst heute ist mir klar, wie orientierungslos ich damals war. Was der eine mir nicht bieten konnte, suchte ich beim anderen: Freiheit statt Routine, Abenteuer statt Ordnung.

Aus dem Loch hat mich Rüdiger Zwo befreit, ein verwöhntes Millionärs-Söhnchen, zu dem ich gleich mit Sack und Pack in seine Villa am Titisee zog. Was folgte, hätte für drei Bücher gereicht und für einen Horrorfilm. Wir schlugen und wir vertrugen uns. Er konnte nicht mit mir, ich konnte nicht ohne ihn. Er küßte mir die Füße, wörtlich, stundenlang. Dann fiel er über mich her, nächtelang. Wir trieben es wie im Rausch. Aber der Alltag war die Hölle. Mit seiner krankhaften Eifersucht verfolgte er mich, wenn ich nur mal fünf Minuten zu spät kam oder er eine fremde Nummer auf meinem Handy entdeckte.

In seinen Augen wollten alle Männer nur das Eine von mir, mein Chef, die Patienten, die Kollegen, alle gierten bloß nach meinem Körper. Natürlich sah er Gespenster, aber das konnte ich ihm tausendmal sagen, geholfen hat es nichts. Mein neuer Rüdiger drehte ab, wenn er mich nicht unter Kontrolle hatte. Mit einem Jagdmesser zerschnitt er Dutzende Paar Schuhe, die er mir selbst in den edelsten Boutiquen gekauft hatte. Mit dem Hammer zertrümmerte er den Schmuck, den er mir aus London und aus Rom mitgebracht hatte. Mehr als einmal hat er mit Gläsern und Geschirr nach mir geworfen. Bei uns war immer was los.

Ich weiß nicht, wie oft ich geflohen bin und reumütig wieder zurückgekehrt. Jedesmal haben wir uns im Bett versöhnt, heftiger als je zuvor. Immer versprach er mir, sich zu beherrschen. Und immer wieder war es eine Illusion. In Wahrheit wollte er nur mich beherrschen. Ein Jahr lang habe ich das mitgemacht, durchlebt, ertragen. Aber irgendwann war Schluß. Irgendwann habe ich mich aus der Abhängigkeit gelöst. An dem Tag, als ich meine Kündigung im Briefkasten fand. Sie haben mich rausgeschmissen, weil ich ein paar Mal gefehlt hatte. Die Kündigung war wie ein Weckruf. Jedenfalls spürte ich an diesem trüben Novemberabend, daß es meine letzte Chance war, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Gabriele, meine beste Freundin, hat mich bei sich aufgenommen. Mit zwei Koffern und einem Kleidersack stand ich im Regen vor ihrer Tür. Ich war ganz unten angekommen: ohne Mann, ohne Kind, ohne Auto, ohne Wohnung. Geld hatte ich auch nicht mehr viel, nur reichlich Selbstmitleid. Ich war eine ungeliebte, obdachlose Arbeitslose. Mit verheulter Wimperntusche.

Meine Zukunft war ungewiß, aber eins war mir klar: Jetzt konnte es nur noch aufwärts gehen.

Kapitel 2

Attraktion, Illusion, Projektion

Aus dem Poesiealbum der Mädchenträume

Auf jedes Tief folgt ein Hoch. Das ist wie beim Wetter und so sicher wie das Amen in der Kirche. Bloß mit der Vorhersage von Wann und Wie tue ich mich genauso schwer wie die Meteorologen.

Am Sonntagnachmittag bin ich leergeweint. Gabi hat meine Endlosschleifen von den bösen Buben tapfer ertragen, hat mir immer neue Varianten von Kräuter- und Früchtetees eingeflößt, mich zwischendurch wie ein Baby im Arm gehalten. Dann wurde es selbst ihr zu viel. Sie schaute mich an und sagte: Schluß mit dem Gejammer.

Während Gabriele sich auf einem Spaziergang mit den Kindern von mir erholt, darf ich an ihren Computer. Die erste Kerze am Adventskranz erinnert mich an einen Omaspruch: Und wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. Ich muß grinsen, aber mein Grinsen kommt wohl noch etwas gequält. Finster entschlossen starre ich in die Dunkelheit, um Licht am Ende des Tunnels zu entdecken. Der Tunnel, das ist mein Leben. Die Lichter sind männlich. Daß die meisten auch nur durchs Internet irrlichtern, werde ich erst später begreifen.

Bei neu.de ist es so ungerecht wie im Leben: Die Männer müssen zahlen. Mir ist das natürlich recht, denn meine paar Kröten muß ich jetzt zusammenhalten. Ich kann nur weibliches Kapital einsetzen: Charme, Schönheit, Liebe.

Als erstes brauche ich einen Nickname, so ein Art Etikett, das man sich da vor die Stirn klebt. Darüber denke ich nicht lange nach: Pflegefall_69. Das ist ernst gemeint und ironisch. Soll sich doch jeder denken, was er will. Mein Motto ist weniger originell, das bekannte Zitat von John Lennon: Leben ist das, was passiert, während du eifrig andere Pläne machst.

Dann wird da noch mein Traummann abgefragt. Und da gehe ich dann gleich mal in die Vollen:

Er sollte mich so lieben wie ich bin... Ansonsten wünsche ich mir einen

- sportlichen

- attraktiven

- humorvollen

- gepflegten

- wohlhabenden

- charmanten

- romantischen

- intelligenten

- lieben

- dynamischen

- edlen

- ehrlichen

- wilden

- starken

- standhaften

- ausdauernden Mann... *fg*

Auf die Frage, was andere an mir schätzen, antworte ich:

Daß ich eine sportliche, attraktive, humorvolle, gepflegte, charmante, romantische, intelligente, liebe, dynamische, edle, ehrliche, wilde, starke und ausdauernde Frau bin! *fg*

Und was mir peinlich ist, verrate ich auch:

Daß ich hier so SCHAMlos lüge... grins

Meine Schamlosigkeit kann ich mit vier Fotos belegen. Die hatte der wilde Rudi gemacht, als er mich nach einer unserer zahllosen Versöhnungen mal wieder zähmen konnte. Schwarzweiß und sexy, hohe Hacken mit endlos viel Bein, mein Knackarsch im Gegenlicht, und für das Porträtbild ein wirklich einladender Blick.

Kaum ist mein Profil freigeschaltet, bricht bei neu.de der Server zusammen. Einen Zusammenhang will ich nicht beschwören, aber minutenlang läuft nichts mehr. Und als die ihre technischen Probleme im Griff haben, geht bei mir die Post ab. Binnen einer Stunde haben mich sechs Dutzend Männer angeschrieben. Alle paar Sekunden will einer mit mir chatten. Ich bin überfordert, ich bin überwältigt - und ich bin überzeugt davon, daß die alle nur auf mich gewartet haben.

Daß ich die Attraktion im Netz sein soll, katapultiert mein geschundenes Ego von minus fünf auf 180. Ich schenke mir ein Glas Prosecco ein und zittere am ganzen Leib. Das ist wie Weihnachten, ein paar Wochen zu früh. Ich komme gar nicht dazu, alle Nachrichten zu lesen, geschweige denn, wie die Herren sich in ihren Profile anpreisen. Ich sehe nur lauter Männer, große und kleine, dicke und dünne, blond, rot, dunkel oder Glatze, oben ohne mit Tattoo, ganz cool mit Sonnenbrille, manche ans Auto gelehnt, mit Katze im Arm oder der Ex, dazu spießige Ausweisfotos. So weit das Auge reicht nur Männer, Männer, nichts als Männer. Mir wird schwindelig.

Ich muß das Fenster öffnen und ganz tief durchatmen. Es ist die Faszination des Schreckens. Und es ist eine Illusion. All diese Burschen können nicht mich meinen, die kleine Karin aus dem Osten. Unmöglich. All diese Burschen sind einer Projektion aufgesessen, ihrer Vorstellung von der perfekten Frau: schön, sexy und willig. Die wollen sie alle. Die Jagd ist eröffnet. Aber ich will doch nur einen, den einen, meinen. Und wie solle ich den finden? Ich sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Ich habe den Zufall bemüht, mit geschlossenen Augen auf einen aus der langen Liste von Chatanfragen getippt: Eidgenosse40, ein Schweizer, 43 Jahre alt, Personalchef eines Pharmakonzerns.

ER 17:05 halli hallo

ICH 17:11

hey...nur aus Höflichkeit, muß gleich weg...ich komme hier nicht raus...grins...vielleicht später

ER 17:13

tja ...da hättest Du einen Volltreffer landen können und beschäftigst Dich mit Nichtigkeiten... tja

ICH 17:14

laut lach....Du bist ja die Härte

ER 17:14

nein.ganz lieb.Er: aber eben.. man muß Prioritäten setzen, gelle ICH 17:15

Schweiz ist aber ganz schön weit weg, wollte eigentlich auch mal ein Date...

ER 17:15

du lachst mich aus....bääääähhhhhh ICH 17:16

nein lache Dich nicht aus, bin an Dir hängen geblieben.

ER 17:16

langsam, langsam........ Schatz

wie weit ist Basel für Dich? Wie weit würdest Du für Deinen Seelenverwandten gehen?

ICH 17:16 10m

ER 17:16

äffle, Schwarzwald ist doch nicht so weit weg...

ER 17:18 haste kindle?

ICH 17:18

16

ER 17:18

sportlich. weibchen oder Männchen????

ICH 17:19 ein jungchen

ER 17:19

habe Sohn 14 und tochter 15............. 13 14 15.....könnte spaßen

ICH 17:19

wann heiraten wir?

ER 17:19 im Mai

ICH 17:20 ok ist notiert.

ER 17:20

darf ich dich pflegen? ich kann gut rücken massieren, staubsaugen und Fenster putzen

ICH 17:20

Dann bist du ja echt ein Supermann ER 17:20

M.----@----ch

ICH 17:22

. schreib du mir, dann muß ich mir deine nicht abschreiben, bin schließlich ein Pflegefall

ER 17:22

du bist süß. ich heiße Urs und bin noch zu haben ICH 17:23

ich heiße Karin und bin WIEDER zu haben...

ER 17:24

bekomme ich noch Bilder?

ICH 17:27

ja bekommst du, aber erst wenn Du den Hochzeitstermin schriftlich bestätigst und mir den Entwurf für Ehevertrag zusendest.

ER 17:27

kein Sex vor der ehe.das wäre geil.ups, sorry ICH 17:29

hast ja meine eMail... werde belagert.muß mich verziehen....20 Männer im Chat....grins

ER 17:31 schreibst mir?

ER 17:31 brrr

ER 17:32

ciao bella

ER 17:35 Chaotin.tztztztz

Das soll schon alles gewesen sein: Ein bißchen abfragen, ein bißchen blödeln? Ich bin enttäuscht. Von meinem allerersten Online-Flirt hatte ich mir mehr versprochen. Aber ein Blick auf Urs' Profil bringt mich auf andere Gedanken. Der Typ sieht aus wie George Clooney der Jüngere, unverschämt gut. Da habe ich wohl doch gleich einen Treffer gelandet.

Es ist ein Märchen, daß ein Mann häßlich sein kann wie Eimer, wenn nur sein Konto glänzt. Ich habe noch keine Frau erlebt, die so bescheiden wäre. Wir wollen alles: intellektuell, sexuell, finanziell. Oder lieber gar nichts.

Urs Luetti widerlegt die Schweizer Langsamkeit. Er bleibt dran. Auf seine eMail antworte ich ohne Verzögerung.

ICH 18:02

Hallo, Urs,

einen Schweizer Paß wollte ich übrigens schon immer... grins... Ich sehe übrigens nicht so gut aus wie auf meinen Fotos, ist halt schwarz/weiß und früh nach dem aufstehen bin ich leider in Farbe... Dein Bild ist sehr schön... Dafür gibt es auch einen Nachschlag....

Gruß von der pflegebedürftigen Karin

ER 18:06

tönt ja alles sehr flott....was biste denn für ein sternzeichen??

Erzähl mir mal was von dir und halt den Ball flach dabei;-)

ICH 18:13

Den Ball flach halten, dürfte keine Problem sein... Bin gerade gekündigt worden. Und meine Beziehung ist auch in die Brüche gegangen... Jetzt liege, sitze und halbwegs stehe ich mit einem Bandscheibenvorfall zu Hause.... Flach genug???????? grins....

Lache trotzdem noch... weil ich weiß... nichts passiert umsonst...irgend etwas sehr GROSSES muß ja auf mich warten...

Finanziell brauche ich mir ja jetzt auch keine Gedanken mehr zu machen, Du heiratest mich ja... und die Bandscheibe massierst Du mir ja auch wieder gesund... Was war das andere noch? Staub saugen und Fenster putzen...!

Was will ich mehr??? Laut lach...

Gruß Karin - übrigens deshalb "Pflegefall" - Gott sei Dank sehe ich wenigstens einigermaßen passabel aus... *fg*

ER 18:18

Das mit deinem Job tut mir leid,....das mit deinem Partner net ©

...ich sage auch immer, daß alles vorbestimmt ist, eigentlich MEIN Lebensmotto...kann kommen was will, es muß so sein, alles hat seinen Weg, gell? Ich stelle mir vor, daß es eine Frau gibt, die zu mir gehört, auch verschwende ich mich nicht mit falschen Frauen mehr, habe ich genug gemacht.................

also ich bin personalmanager und betreue da meine 500 leute. neben bei habe ich noch eine schöne handelsfirma, klein aber fein :-) kannst ja mal schauen unter

 

auch mein zweites standbein, aber dient zur realisierung meines

grossen traumes, früher aufhören und ab in den süden!!!

bin seit 5 jahren glücklich geschieden, leide keinen streit und keine not,

habe viel freude am leben und bla bla bla

deine Fotos sind sehr schön, aber ich hätte gerne ein Frontfoto!!!!

liebe(s) grüsse

urs

ICH 18:27

Hallo Urs,

frontal bleibt dann doch mein Geheimnis, ob hinter der Hand eine riesengroße Warze oder eine Hasenscharte versteckt ist... *fg*

Ich habe mir übrigens sagen lassen, daß ich eine Figur und eine Haut wie eine 20-jährige habe.... Muß ich da irgendwelche anderen Talente haben... ?

ER 18:31

das mit dem foto finde ich gemein....frech! unmöglich!

schick mir doch bitte eine mms von deiner warze (hehe)

0041 ----

Während ich noch überlege, welches Foto ich ihm schicken könnte, ohne ihn gleich zu verschrecken, verabschiedet er sich.

ER 18:45

So, meine Liebste, muß jetzt abklemmen. Deine Schwiegermutter vom Bahnhof abholen und dann einen Geschäftsevent vorbereiten.

Denk daran, bitte, daß ich es nicht dulde, wenn meine Verlobte mit anderen Kerlen chattet ©

bin jetzt nur per sms und mms erreichbar, keine Angst, bin kein Psycho, hihi

Wer weiß. Für mich klingt das ganz schön besitzergreifend. Und davon hatte ich ein Jahr lang mehr als genug. Eifersucht und Ansprüche schrecken mich total ab und ziehen mich auch magisch an. Ich brauche meine Freiheit, werde aber sofort nervös, wenn sie mir einer freiwillig gibt. Dann habe ich Sorge, daß ich ihm nicht genug bedeuten könnte. Ich wünschte, es wäre anders, denn mit diesem Hin und Her stehe ich mir oftmals selbst im Weg.

Aber jetzt fasziniert mich der elektronische Gemischtwarenladen. Die nächste Chance wartet nur einen Klick entfernt. Ganz anders als im richtigen Leben. Wenn ich gerade von dem einen komme, kann ich nicht mit dem anderen Händchen halten. Darf ich Urs vorglühen und mich trotzdem umschauen? Klar, im Internet geht das, ohne daß ich Rücksicht nehmen muß. Dabei weiß ich noch gar nicht, was da alles geht. Doch ich bin viel zu neugierig, um der Versuchung zu widerstehen.

Mein zweiter Zufallskandidat ist ein bekannter Radiomoderator, der mich noch viel Tränen kosten sollte. Bei neu.de nennt er sich Mattes043. Zunächst hat er mich nur angeflasht, das habe ich übersehen. Dann finde ich eine Nachricht von ihm in meinem Postfach.

ER 18:41

Ok, es war extrem einfallslos, dir nur n Flash zu schicken. Aber die extrem widrigen 2jährig neffig quengligen Umstände mögen das entschuldigen. Der KLeine wollte raus und ich habs ihm versprochen und gehalten. Und nun die ko Frage, die jeder dir stellt, aber, bitte, sie liegt einfach auf der Hand: Welche Pflegestufe bist du?

Liebe Grüße aus - nicht neidisch vom Stuhl fallen -

dem weihnachtlich glitzernden Paris

Matthias

Der soll doch nicht glauben, daß er mir damit imponieren kann. Ich antworte nicht, lese aber sein Profil: In einer Partnerschaft will er den Respekt vor der Verschiedenheit leben, mit leidenschaftlicher Phantasie und atemlosem Alles oder Nichts. Gut gebrüllt, Löwe. Aber was bedeuten Worte?

ER 19:25

Eigentlich wollte ich mit meiner Mail nicht dein Interesse ermorden. Irgendwie schein ichs aber doch geschafft zu haben ® Oder ists das alte Mißtrauen gegenüber uns Badenern? Matthias

Darauf habe ich immer noch nicht reagiert. Ich erhöre ihn erst, als nach der Tagesschau sein Nickname in der Chatliste blinkt.

ER 20:17

hilfe Du bist ja schwerer zu bekommen als der amerikanische Präsident ICH 20:18

bin ja auch viel hübscher, und hier sind eindeutig zu viel Pfleger am Start ER 20:18

wie viele Männer möchten Dich den kennenlernen??

ICH 20:18

sag ich Dir lieber nicht, sonst läßt Du gleich alle Hoffnung fahren.

ER 20:19

nein, werde Dich eher sofort darauf aufmerksam machen, daß Du Dich nicht mit billigen Tischweinen abgeben solltest, wenn doch ein köstlicher Jahrgangsbordeaux auf dem Tisch steht.

ICH 20:19

steht er denn, bis jetzt begehe ich hier den totalen Blindflug, soll heißen, habe überhaupt keine Ahnung wie die Flasche aussieht und ob der Jahrgang wirklich so gut ist, wie der Wein versucht zu versprechen...

ER 20:20

schau unter Google-Bilder nach Matthias Kellermann ICH 20:19

das werde ich nachher tun

Weil ich irgendeinen falschen Button gedrückt habe, bricht die Verbindung ab. Meine Neugier siegt. Der Mann ist tatsächlich zu googeln: ein markantes Gesicht mit offenem Blick, dunkler Lockenkopf, mediterraner Typ, so eine Mischung aus Dustin Hoffmann und Rudi Carrell.

Am nächsten Morgen greife ich zu einem Trick.

ICH 10:11

Hallo, Matthias, habe leider Deinen Namen vergessen, wäre lieb, wenn Du mir eine eMail schreiben könntest. An ----@----de Bis später mal, LG der Pflegefall

Der Herr aus Paris soll auf gar keinen Fall den Eindruck haben, daß ich mich ausgerechnet für ihn interessiere. Aber ich will ihn unbedingt. Schon weil es der Lieblingsmoderator von meinem Ex ist, dem kann ich damit wunderbar einen reinwürgen. Ich darf jetzt nur keinen Fehler machen.

Gabi ist mit den Kindern auf dem Weg zu den Großeltern in Berlin. Für eine Woche habe ich sturmfreie Bude. Aber natürlich muß ich mein Glück mit irgendwem teilen. Ich schreibe ihr eine Kurznachricht aufs Handy.

ICH 10:17

Stell Dir vor, Süße, ich habe einen bekannten Radiomoderator an der Angel!!!

SIE 10:50

Super! Du kommst noch in die Bild-Zeitung.

ICH 10:54

Hoffentlich nicht als Leiche.

Alle paar Minuten rufe ich meine eMails ab. Nichts, immer noch nichts. Während ich sehnsüchtig auf Matthias Kellermanns Antwort warte, klingelt das Telefon. Es ist Urs Luetti, mein Verehrer aus Basel. Der war irgendwie in den Hintergrund gerückt, regelrecht verblaßt gegen diesen prominenten Joe Lässig.

Urs hat eine sonore Stimme, und seinen Dialekt finde ich lustig. Aber er meint es ernst. Er erzählt mir von seiner Dachgeschoßwohnung mit Blick über den Rhein, von seiner Sammelleidenschaft für alte Autos, von der Berghütte im Engadin, von seinen Kindern, die er nur alle zwei Wochen sieht, und von seiner Sehnsucht nach einem intakten Familienleben. Ich bin beeindruckt. Von dem Mann, von den Perspektiven. Ein Schweizer Paß wäre auch nicht zu verachten.

Er muß in eine Sitzung. Kaum haben wir aufgelegt, mache ich mit dem Handy ein Selbstporträt und schicke es ihm als Bildnachricht. Er reagiert prompt, tippt heimlich unterm Tisch. Das finde ich toll. Es schmeichelt mir.

So ganz kriege ich meine Gefühle noch nicht sortiert. Hier warte ich auf Nachricht, dort locke ich mit einem Foto. Nach dem einen sehne ich mich, während ich den anderen genieße. Dabei will ich doch nur einen Prinzen ganz für mich allen, für den täglichen Ritt in die untergehende Sonne. Aber: Von mehr als einem begehrt zu werden, fühlt sich schon verdammt gut an. Gut für mein angeschlagenes Ego.

Der Radiomann hat immer noch nicht geantwortet. Weder bei neu.de noch per eMail. So ein Schuft. Der hat bestimmt an jedem Finger zehn Bräute. Ich tröste mich mit Schweizer Präzision.

ER 13:14

du solltest mal zur ruhe kommen....

....dein glück wird nicht der bequeme weg sein und glaub mir, es gibt noch menschen, die es ehrlich mit dir meinen. muß jetzt mit pablo essen und würde mich freuen, bald wieder von dir zu hören...und ein foto möchte ich, kann nicht genug bekommen!

anbei noch ein bild vom februar, fondueplausch mit freunden :-) küssli dein verlobter

Die ganze Zeit bin ich online, surfe durch die pralle Männlichkeit, grusele mich vor Rauschebärten, amüsiere mich über Kuschelbären, entdecke Rechtschreibfehler noch und nöcher, komme aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Der liebe Gott hat einen großen Zoo.

Aber ein Gutes hat die Aktion. Zwei Tage im Netz haben mich meine reale Misere vergessen lassen. Ich bin auf dem Weg der Besserung, fast schon heiter, gar kein Vergleich mit dem Häufchen Elend der vorigen Woche.

Abends meldet sich Herr Kellermann wieder im Chat. Ich war schon kurz davor, nervös zu werden.

ER 21:33

Guten Abend Karin ICH 21:34