Juwelennächte

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Juwelennächte
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Karin Joachim

Juwelennächte

Kriminalroman


Zum Buch

Alte Bekannte Erst am Vortag hat Tatortfotografin Jana Vogt ihn in den Thermen von Bad Neuenahr kennengelernt, nun sitzt er tot auf einer Bank im Kurviertel. Der Journalist Daniel Bender recherchierte offensichtlich im kriminellen Milieu, was nicht nur seinen Mörder, sondern auch das LKA auf den Plan ruft. Jana indes folgt einem Hinweis aus dem Umfeld des Ermordeten und trifft den hochbetagten ehemaligen Kriminalkommissar Geiger. Dieser bittet sie zudem um ihre Hilfe bei der Aufklärung eines Doppelmordes aus den 1950er-Jahren. Janas Recherchen führen sie zurück in eine Zeit, in der die Bundespressebälle im Kurhaus von Bad Neuenahr veranstaltet wurden. Sie stößt dabei auf Banden, die die Autos der Politiker überfielen, und auf das verschwundene Collier des damaligen Ehrengastes Josephine Baker. Doch der aktuelle Mordfall nimmt ihre Zeit zu sehr in Anspruch und lässt sie auf alte Bekannte treffen, die noch eine Rechnung mit ihr offen haben.

Karin Joachim wurde in Bonn-Bad Godesberg geboren und lebt heute im Ahrtal. Sie studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Bonn und leitete ein archäologisches Museum, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. In ihrer Freizeit ist sie mit ihrem Border Terrier unterwegs, mit dem sie die Natur erkundet. Besonders gerne besichtigt Karin Joachim historische Orte sowie Parks und Gärten im In- und Ausland. Homepage der Autorin: www.karinjoachim.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Heinz / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6924-4

Karte


Prolog

Bad Neuenahr, Herbst 1954

Wenn es eines gab, das die Menschen in jenen Jahren kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den Bann zog, dann waren es die Auftritte von Prominenten anlässlich des Bundespresseballes. Glanz und Glamour zogen seit einigen Jahren im November in die Kurstadt an der Ahr ein, wenn sich Politiker, Wirtschaftsbosse und Prominente ein Stelldichein gaben. Bonn hatte keine geeigneten und dem Anlass angemessenen Räumlichkeiten zu bieten, weshalb man in das mondäne Kurhaus in Bad Neuenahr auswich. Hinter vorgehaltener Hand wurden im Vorfeld Namen genannt, die nicht nur unter der normalen Bevölkerung für Aufregung sorgten, sondern auch in ganz speziellen Kreisen. Wer der ursprüngliche Informant war, der mit seinem Wissen hausieren ging, das sich rasch in Bad Neuenahr verbreitete und von dort aus seinen Weg bis an den Rhein nahm, konnte nicht mehr nachvollzogen werden. Als endlich die Zeitungen darüber berichteten, hatten Gestalten, die nichts Gutes im Schilde führten, schon längst ihre Planungen abgeschlossen. Das Gerücht stimmte: Josephine Baker, die berühmte Tänzerin und Sängerin, würde den diesjährigen Bundespresseball mit ihrer Anwesenheit beehren. Im Kurviertel von Bad Neuenahr herrschte reges Treiben. Das markante Gebäude mit der Zweiturmfassade war kurz nach der Jahrhundertwende errichtet worden und wurde für die Veranstaltung, die das Motto »Bonnfusionen« trug, besonders herausgeputzt. Lastwagen beladen mit den Preisen für die Tombola fuhren vor, Blumendekorationen und alkoholische Getränke wurden hereingetragen, Tische und Stühle gerückt, festliche Tafeln bestückt. Nach und nach trafen die Tanz- und Unterhaltungs­orchester der Rundfunkanstalten, die Ballettensemble sowie Solisten und weitere Künstler ein, die ihre Zimmer in den Hotels der Hauptstadt sowie im Bonner Umland, so eben auch in Bad Neuenahr, bezogen hatten. Mit großem Geleit chauffierte man Künstler und Ehrengäste zum Veranstaltungsort. Doch auf dem Weg dorthin lag die Schwachstelle dieser Veranstaltung. Auf den Straßen des Rheinlandes lauerten wie in alten Zeiten Wegelagerer, die die Autofahrer überfielen – nicht nur die Gäste des Bundespresseballes. Und in diesen Tagen waren die Verbrecher besonders aktiv. Da sich jedoch herumgesprochen hatte, dass die am Straßenrand winkenden oder aus dem Nichts im Licht der Autoscheinwerfer auftauchenden Personen nichts Gutes im Schilde führten, ließen sich die Autofahrer nicht mehr beirren und fuhren meist mit hohem Tempo weiter. Nun war es an den Banditen, ihre Strategie zu ändern, was sie auch taten, und sich als Polizisten zu verkleiden. Amtspersonen gehorchte man schließlich. Das brachte die Ordnungsbehörden in ein Dilemma, denn sie führten ihrerseits Straßenkontrollen durch, um der Ganoven habhaft zu werden. Fuhren die Fahrer aus Angst, es könne sich um Banditen handeln, nun ohne anzuhalten weiter, blieb den echten Polizisten oft nichts anderes übrig, als auf die Wagen zu schießen. Unbescholtene Bürger jedoch befanden sich in einem ebenso großen Dilemma: Hielten sie an, wurden sie möglicherweise von falschen Polizisten ausgeraubt, fuhren sie weiter, durchsiebten Patronenkugeln ihren Wagen. Neuerdings veröffentlichten die Zeitungen Anweisungen, die die Reisenden darüber aufklärten, wie sie sich im Ernstfall zu verhalten hatten. Darin beschrieb die Polizei ihre Strategie, und gab bekannt, dass sie mit mehreren gestaffelten Kontrollgruppen arbeitete. Erst der dritte Polizeitrupp durfte auf den Wagen schießen, falls der Fahrer auch an diesem Posten weiterfuhr, ohne anzuhalten.

An jenem Novembertag belagerte eine kleine Diebesbande aus Oberwinter einen Abschnitt der Bundesstraße 9. Sie hofften darauf, Gäste, die den Kurort als ihr Ziel auserkoren hatten und die in vorfreudiger Erwartung auf das anstehende gesellschaftliche Ereignis unterwegs waren, ohne größere Schwierigkeiten überfallen zu können. Denn trotz aller Warnungen schob man die Bedenken beiseite und vertraute darauf, dass das Verbrechen einen selbst nicht treffen würde. Polizeikorsos begleiteten hingegen die hochrangigen Gäste, sodass ihnen keine Gefahr drohte. Nachdem die Banditen also bei den anreisenden Gästen per Zufall vorgingen und auf hohe Beute hofften, so hatten sie sich eine Strategie überlegt, die ihnen dazu verhelfen sollte, nur die abreisenden Gäste zu überfallen, die über entsprechenden Reichtum verfügten. Zugute kam ihnen, dass man sich auf der Heimfahrt noch argloser gab und aufgrund der genossenen alkoholischen Getränke weniger vorsichtig war.

An dieser Stelle kam nun eine junge Frau ins Spiel, die mit ihrer Vespa im Kurviertel von Bad Neuenahr umherfuhr, um die eintreffenden Gäste auszuspähen, einen Blick auf ihre Preziosen zu erhaschen, die Kennzeichen ihrer Autos zu notieren und die Informationen an ihren Bruder weiterzugeben, der später in der Nacht mit seinen Kumpanen auf der B 9 zur Tat schreiten würde. Die hübsche, junge Frau befand sich gerade in der Nähe, als Josephine Baker vor dem Kurhaus auftauchte. Sie umgab ein illustrer Pulk regionaler und überregionaler Amtsträger sowie eine Schar von Journalisten und Fotografen, die sie umrundeten, riefen und unentwegt mit ihren Blitzlichtern die Nacht erhellten. Die junge Frau blieb in Bewunderung für diese Frau, die trotz ihres nicht mehr jugendlichen Aussehens mit einer enormen Ausstrahlung gesegnet war, wie angewurzelt neben ihrer Vespa stehen. Die Wartende beschloss, ihr unredliches Vorhaben für eine Weile zu unterbrechen, schlug sich an den aufgeregten Fotografen vorbei bis zu Josephine Baker durch und bat stattdessen schüchtern um ein Autogramm, das ihr gewährt wurde. Als sich für einen winzigen Moment ihre Blicke begegneten, glaubte die junge Frau in den Augen der Berühmtheit zu erkennen, dass diese es in ihrem Leben nicht immer leicht gehabt hatte. Diese Begegnung bewirkte in ihr ein Umdenken, sodass sie sich entschied, sich nicht länger in den Dienst der Diebesbande zu stellen. Wie sie ihre Entscheidung den Rädelsführern erklären sollte, wusste sie zu diesem Zeitpunkt nicht. Doch der Zufall scherte sich nicht um ihren Entschluss, denn die Menge spülte die junge Frau über den Hauptaufgang ins Foyer. Sie war nicht im Besitz einer Eintrittskarte, doch sie erinnerte sich daran, dass jemand ihr einen gefälschten Presseausweis mitgegeben hatte. So gelang es ihr, sich in Ruhe umzuschauen. In einer Halle lagen die Gewinne für die große Tombola aus: Was sie zu sehen bekam, ließ ihren Atem stocken. Eine derartige Fülle von Waren und Kostbarkeiten hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Manche Gäste lebten wenige Jahre nach dem Ende des Kriegs offensichtlich ein Luxusleben, das ihr ungerecht erschien. Die Auslagen waren zu gut bewacht, als dass sie sich auch nur ein einziges Schmuckstück unter ihren Ärmel hätte schieben können. Als sie die Aufmerksamkeit eines der Sicherheitsbeamten erregte, verließ sie mit unschuldiger Miene die Halle. Keinesfalls wollte sie riskieren, dass man ihren Ausweis genauer untersuchte und die Fälschung entdeckte. Immerhin wartete zu Hause ein kleiner Junge auf sie.

 

1. Kapitel:
Freitag im Juni, früher Abend

Über dreißig Grad warm war das Thermalwasser von Bad Neuenahr, das der Walburgisquelle entsprang. Sie befand sich dreihundertfünfzig Meter tief unter der Erde und war in den Siebzigerjahren erbohrt worden, so hatte Jana es gelesen. In den Neunzigerjahren erhielten die Ahr-Thermen ihr markantes blaues Dach. Obwohl die Temperatur des Wassers und jene der Luft nahezu identisch waren, empfand Jana das Wasser auch heute wieder als sehr angenehm. Sie kam neuerdings öfter hierher und genoss die Momente, in denen das mineralhaltige Wasser ihren Körper umspielte. Am liebsten schwamm sie im Außenbecken und beobachtete dabei den Himmel. Ein anstrengender Arbeitstag lag hinter ihr. Einer von vielen, den sie in der Dienststelle in Koblenz verbracht hatte. Nach wie vor arbeitete sie mit Hauptkommissar Clemens Wieland zusammen, der sich mit seiner Doppelbelastung als ermittelnder Beamter und Dozent an der Landespolizeischule regelrecht aufrieb. Für ihre Zweisamkeit blieb immer weniger Raum, und Jana fragte sich, ob sie nicht einen großen Fehler gemacht hatte, sich derart von Clemens abhängig zu machen. Konnte es gut gehen, dass er gleichzeitig ihr Vorgesetzter und ihr Lebensgefährte war? Die Arbeit im Archiv machte ihr weniger Spaß, als anfangs angenommen. Und richtig blühte sie nur dann auf, wenn sie als Tatortfotografin zum Einsatz kam. Doch mit den Kollegen ermitteln durfte sie nur in besonderen Ausnahmefällen, weil Clemens darauf achtete, dass Jana ihre Kompetenzen nicht überschritt. Er wollte sich nicht vorwerfen lassen, sie zu bevorzugen. Doch Jana wollte unbedingt mehr ermitteln. Sie hatte sich bereits erkundigt. Einer Weiterbildung zur Kriminalkommissarin stand ein entscheidender Faktor im Wege, den sie nicht so einfach beseitigen konnte: ihr Geburtsdatum. Für eine Zulassung zum dualen Studium war sie einfach zu alt. Selbst eine Ausnahmegenehmigung würde sie nicht erhalten. Sie ärgerte sich über ihre eigene Unzufriedenheit, die offensichtlich ihr gesamtes Leben durchzog. Zwar hatte sie eine Weile mit einer freiberuflichen Tätigkeit als Fotografin geliebäugelt, doch sie konnte sich nicht vorstellen, davon zu leben. So grübelte sie über ihre Zukunft, während sie in den Ahr-Thermen ihre Bahnen zog, und sich von dem wohltemperierten Mineralwasser getragen fühlte. Die Abendsonne hüllte den Außenbereich des Bades in ein orangefarbenes Licht. Nur wenige Besucher nutzten die späte Badezeit, und so fiel Jana ein Schwimmer auf, der sich durch den Strömungskanal treiben ließ. Da er auf sie einen mitgenommenen Eindruck machte, sprach sie ihn an, um sicherzugehen, dass kein medizinischer Notfall vorlag. »Guten Abend«, sagte sie. Er antwortete mit einem kurzen Gruß, signalisierte ihr jedoch unmissverständlich, dass er nichts von Small Talk hielt. Da er klar bei Verstand zu sein schien, entschied sich Jana, sich nicht weiter um ihn zu kümmern. Ihr Eindruck hatte sie anscheinend getrogen. Üblicherweise verließ sie die Thermen gleich nach dem Schwimmen, doch heute gönnte sie sich eine Ruhezeit auf der Liegewiese. Das Laub der Bäume raschelte leise im Abendwind, die Sonnenstrahlen wärmten immer noch und so schlief sie ein. Laute Männerstimmen, die vom Ende des Schwimmbadgeländes an ihr Ohr drangen, weckten sie. Jana rieb sich die Augen und beschloss, nach Hause aufzubrechen, wo ihr Airedale Terrier Usti sicherlich schon sehnsüchtig auf sie wartete. Während Jana ihre Bluse über den mittlerweile trockenen Badeanzug zog, bemerkte sie aus dem Augenwinkel den Mann, den sie zuvor angesprochen hatte. Er trat zwischen einer Baumgruppe hervor, war nun bekleidet, trug eine helle Sommerhose und ein ähnlich gefärbtes T-Shirt. Schuhe hatte er keine an. Kurz bevor er an ihr vorbeigelaufen war, trafen sich ihrer beiden Blicke. Der Mann hielt inne.

»Ich war mit einem Freund hier verabredet«, sagte er. »Aber er kam erst jetzt. Es lohnt sich nicht mehr …« Es klang wie eine voreilige Entschuldigung.

Jana rollte ihr Handtuch zusammen, während der Mann wortlos neben ihr stehen blieb.

»Ich habe Sie noch nie hier gesehen«, sagte er schließlich.

»Ich bin zu unregelmäßigen Zeiten in den Thermen«, antwortete sie und wandte sich zum Gehen.

»Ich bin Daniel«, sagte der Mann.

Überrascht, dass ihm nun doch nach Small Talk war, stellte Jana sich ebenfalls mit ihrem Vornamen vor und wartete, ob er noch etwas sagen wollte. Aber sie wartete vergeblich. Er blickte an ihr vorbei, und es schien so, als habe er ihre Anwesenheit ausgeblendet. Jana fand den Mann einfach nur überheblich und verabschiedete sich. Er murmelte etwas, das sie nicht mehr verstand, da sie sich bereits von ihm entfernt hatte. Bevor sie ins Gebäude trat, um ihre Sachen aus dem Spind zu holen, blickte sie sich noch einmal um. Daniel hatte sich auf eine Liege gelegt und schien zu dösen. Seltsamer Typ.

2. Kapitel:
Samstag, früher Morgen

Clemens versuchte, möglichst leise aufzustehen, doch Jana war bereits vom Klingeln seines Smartphones wach geworden. Als sie gestern Abend mit dem Rad vom Schwimmen nach Hause gekommen war, hatte sie ihn oben auf der Dachterrasse entdeckt und ihm von der Straße aus zugewinkt. Er besaß natürlich einen Schlüssel zu ihrer Wohnung in der Ahrweiler Altstadt und schlief bei Jana, so oft es ihm möglich war. Während der letzten Wochen jedoch war das nur noch selten der Fall gewesen. Sie hatten seit Langem einmal wieder unbeschwerte Stunden miteinander verbracht, die mit einem Spaziergang mit ihrem Hund Usti durch die Weinberge begonnen hatten. Jana und Clemens hatten auf einer Bank gesessen und die untergehende Sonne betrachtet, bevor sie hinunter in die Stadt gelaufen waren, um den Abend bei Rotwein und Kerzenlicht auf der Terrasse ausklingen zu lassen.

Als Clemens nun bemerkte, dass Jana ebenfalls nicht mehr schlief, hörte er auf zu flüstern, und telefonierte in normaler Lautstärke weiter. Jana entnahm dem Gespräch, dass es mit der samstäglichen Gemütlichkeit vorbei war. Sie wäre zu gerne noch liegen geblieben, zumal der nostalgisch gestaltete Wecker auf ihrem Nachttisch gerade einmal kurz nach sieben anzeigte. An einem Wochentag befände sie sich nun bereits auf dem Weg zur Arbeit, nachdem sie Usti bei ihrer Freundin Meike Jacob abgegeben hatte. Je älter ihr Hund wurde, desto mehr strengte es ihn an, Jana mit ins Kommissariat zu begleiten. Mit seiner Hundefreundin Gini, mit der er auf Meikes großzügigem Waldgrundstück umherlaufen konnte, ging es ihm einfach besser. Da sie unbedingt noch mit Clemens frühstücken wollte, wartete sie das Ende seines Telefonats gar nicht erst ab, sondern stand auf, stellte in der Küche die Kaffeemaschine an und huschte ins Bad. Kaum war sie mit Duschen fertig, nahm ihr Clemens die Klinke der Duschabtrennung aus der Hand. Beide waren mittlerweile ein eingespieltes Team, was die morgendlichen Abläufe betraf.

»Es wurde ein Toter in den Ahr-Thermen gefunden«, sagte Clemens, während er seine Haare einseifte.

»In den Ahr-Thermen?«, fragte Jana und verteilte ein wenig getönte Tagescreme auf ihrem Gesicht. Ausgerechnet an dem Ort, an dem sie sich in der letzten Zeit so wohlgefühlt hatte, dachte sie.

»So habe ich es verstanden«, antwortete Clemens.

Das Rauschen des Wassers machte eine vernünftige Unterhaltung schwierig, und so verschob Jana das Gespräch auf später. Sie war bereits fertig angezogen und vollständig geschminkt, als Clemens aus der Dusche trat. Er beeilte sich sonst mehr.

»Tut mir leid, dass du wegen des Telefonats nun wach bist. Aber ich hätte dich sowieso wecken müssen, denn wir brauchen dich für die Fotos.« Er strich sanft über ihre noch feuchten Haare. Neuerdings ließ sie sie meist an der Luft trocknen, sodass ihre Wellenstruktur nun mehr zum Vorschein kam. Aus der Küche zog Kaffeeduft durch die Wohnung. Nachdem Jana eine Tasse Milchkaffee getrunken hatte, ging sie mit Usti kurz vor die Tür. Als sie wiederkam, stellte sie ihm sein Futter hin. Sie würde nicht allzu lange wegbleiben, vermutete Jana, als sie mit Clemens die Wohnung verließ und ihre Fotoausrüstung in seinen Wagen lud.

Innerhalb weniger Minuten erreichten sie Bad Neuenahr. Clemens lenkte den Wagen in die Beethovenstraße, von wo aus sie direkt auf das zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts errichtete Kurhaus zufuhren. Die Fassade glänzte in der Morgensonne und erinnerte an glorreiche vergangene Zeiten. Wie schnell die Zeit verging, dachte Jana, während Clemens von der Felix-Rütten-Straße, die nach dem bis 1930 amtierenden Kurdirektor benannt war, in die Zufahrt zu den Ahr-Thermen einbog und sein Auto auf dem Wendeplatz zum Stehen brachte.

»Wir müssen nach einer Bank Ausschau halten. Ach, da hinten.«

»Ich dachte in den Thermen.« Jana war verwirrt.

»Das dachte ich auch. Aber bei der Herfahrt fiel es mir wieder ein, dass der Kollege davon sprach, dass der Tote außerhalb gefunden wurde.«

Clemens hatte mittlerweile die Wagen der Kollegen entdeckt und fuhr einige Meter weiter.

»Parken auf Gehwegen ist nicht erlaubt«, murmelte Jana.

»Du möchtest sicherlich die Ausrüstung vom Parkhaus gegenüber hierhertragen.«

»Schon gut. Ich wollte nur witzig sein.«

»Ich auch«, sagte Clemens.

Beide mussten lachen.

Der Zugang zum Tatort war bereits abgesperrt, ein Zelt aufgebaut, und gerade installierten die Kollegen mehrere Sichtschutzwände. Jana holte ihre Ausrüstung aus dem Kofferraum, zog die Schutzkleidung an und begab sich schließlich gemeinsam mit Clemens zum Fundort der Leiche. Nach einer kurzen Einweisung durch einen Kollegen von der Polizeidienststelle Ahrweiler geleitete man sie unter das Zelt, das über einer Parkbank errichtet worden war. Jana war mit dem Einstellen ihrer Kamera beschäftigt und sah das Gesicht des Toten erst während ihres ersten Blicks durch den Sucher. Vor Schreck senkte sie ihre Arme.

»Clemens?«

»Jana?« Er stand noch neben ihr und analysierte die Auffindesituation.

»Du wirst es mir nicht glauben, weil ich es häufiger sage …«

»Nicht schon wieder.«

»Doch.«

»Wer ist es? Es wurden nämlich keine Papiere bei ihm gefunden.«

»Ich kenne nur seinen Vornamen. Er hat sich mir gestern als Daniel vorgestellt. Er sprach mich an, während ich mich auf der Liegewiese der Ahr-Thermen aufhielt. Gar nicht weit von hier.« Jana streckte sich, um über den Zaun hinweg aufs Gelände zu blicken.

»Mehr weißt du nicht über ihn?«

Jana schüttelte den Kopf, berichtete dann jedoch von der lauten Auseinandersetzung, deren Ohrenzeugin sie auf der Liegewiese geworden war.

»Ich könnte mir vorstellen, dass seine Papiere vielleicht noch in einem Spind in den Thermen sind.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Clemens.

Jana betrachtete den Körper des Toten, der auf den ersten Blick keine offensichtlichen Spuren von Fremdeinwirkung trug.

»Er trägt keine Schuhe. Als ich ging, lag er mit diesen Klamotten barfuß auf der Liege. Aber wieso sollte er ohne Schuhe die Thermen verlassen …?« Jana betrachtete den Toten eingehend. »Das Bändchen, das er ums Handgelenk gebunden hatte, das mit dem Schlüssel für die Garderoben. Das fehlt.«

»Hat ihm das jemand abgenommen?«, fragte Clemens den Kollegen hinter sich. Weder er noch jemand anderes wusste etwas über den Verbleib des Garderobenschlüssels. Dafür erfuhr er, dass im Laufe des Morgens mehrere Personen den Leichnam bewegt hatten. Der Mann, der ihn auf dem Weg zum Bäcker entdeckt hatte und nachsehen wollte, ob er ihm helfen könnte, sowie der Notarzt.

»Wo ist der Zeuge eigentlich?«, wollte Clemens wissen. Noch bevor ihm diese Frage beantwortet werden konnte, drängelte sich ein Mann mittleren Alters am Sichtschutz vorbei, der nicht zu einem der Einsatzteams gehörte.

»Sie sind zuständig hier?«, fragte er schroff.

»Wer sind Sie?«, fragte Clemens.

»Ich komme von der Verwaltung«, sagte der Mann und näherte sich dem Tatort.

»Moment! Sie haben hier rein gar nichts zu suchen«, blaffte Clemens. »Wir können uns gerne unterhalten, aber nicht hier und nicht jetzt.« Er wies ihm den Weg hinter die Absperrungen.

 

Jana verfolgte die Auseinandersetzung nur aus dem Augenwinkel, denn sie musste ihrer Arbeit nachgehen. Die Temperaturen stiegen bereits deutlich an. Während sie fotografierte, hörte sie den Mann von eben hinter ihnen auf dem Gehweg fluchen. Jana kannte derlei Begegnungen von ihren vielen Einsätzen zur Genüge. Und sie wusste, dass Clemens auf Einmischungen von Dritten nicht gut zu sprechen war.

»Sie sehen zu, dass das hier ganz schnell verschwindet! Wir sind eine Kurstadt und auf die Touristen angewiesen, die ein solcher Polizeiaufmarsch abschreckt. Fahren Sie die Polizeiwagen weg …«, dröhnte es hinter der Absperrung.

Clemens hatte genug und eilte zu seinem Kollegen, der die gesamte Wut des Mannes abbekam.

»Guter Mann«, antwortete Clemens mit ruhiger Stimme, allerdings laut genug, damit es alle Umstehenden mitbekamen. »Selbstverständlich werden wir Ihren Wünschen nachkommen. Denn es ist ja eigentlich egal, woran der Mann gestorben ist und was eigentlich genau geschehen ist.«

Heute wurde Clemens aber schnell ungehalten. Denn nichts anderes stellte diese Replik dar. Jana kannte diese ironischen Antworten nur zu gut, aber für gewöhnlich ging diesen ein etwas längeres Geplänkel mit einem Amtsinhaber voraus. Der Mann antwortete zunächst nicht, was Jana dahin gehend wertete, dass er der Ansicht war, Clemens meine es ernst und er habe mit seinen Anweisungen den erwünschten Erfolg erzielt. Jana fotografierte indes weiter, gespannt darauf, wie es mit dem Wortgefecht hinter dem Sichtschutz weitergehen würde.

»Also, nur einmal für die Akten«, hörte sie Clemens ausführen. »Selbstverständlich arbeiten wir hier so lange, wie es nötig ist. Auch wenn es Unannehmlichkeiten mit sich bringt.«

»Aber das können Sie nicht …«

»Doch! Und noch etwas: Wer ist der Betriebsleiter der Ahr-Thermen? Ich muss mit ihm sprechen.«

»Was, wieso?«

»Das kläre ich mit der zuständigen Person gerne selbst«, antwortete Clemens.

»Ich hole ihn«, sagte der Mann. Clemens trat wieder zu Jana, die ihm ein verschmitztes Lächeln zuwarf.

»Ich denke nicht, dass er eigenständig hierher gelaufen ist«, sagte Jana. Sie hatte vorhin schon ein nicht unerhebliches Detail entdeckt, das erklären könnte, wie Daniel zu dieser Parkbank gelangt war. Sie wies Clemens auf ein Tor im von Pflanzen umrankten Zaun hin, der das Schwimmbadgelände umgab. Es war anhand verschiedener Spuren deutlich zu erkennen, dass dieses erst vor Kurzem geöffnet worden war.

Jana fragte Clemens, ob überprüft worden sei, ob das Tor verschlossen war. Clemens zog einen Kollegen der Spurensicherung zu Rate, der wenige Augenblicke später feststellte, dass man es weder von außen noch von innen ohne passenden Schlüssel öffnen konnte.

»Damit hätten wir einen Hinweis darauf, wie er hierhergelangte, und warum er sonst nichts bei sich trug. Keine Schuhe, kein Badezeug und eventuelle Wertsachen.«

»Weil er nicht aus freien Stücken hierherkam. Durch den Haupteingang hat er das Bad vermutlich nicht verlassen. Jemand muss ihm ja das Tor geöffnet haben.«

»Wenn er da noch lebte.«

»Und er seinen Spind gar nicht mehr öffnen konnte«, ergänzte Jana. »Entweder weil jemand das unterband, oder weil er körperlich nicht mehr dazu in der Lage war.«

Clemens pflichtete ihr bei. »Wir müssen abwarten, was der Rechtsmediziner feststellt. Der wurde allein wegen der Tatsache eingeschaltet, dass hier ein Todesfall in der Öffentlichkeit vorliegt. Ich hoffe, er trifft bald ein. Wenn wir den Todeszeitpunkt kennen, können wir die Ereignisse zuverlässiger rekonstruieren. Außerdem, ob er noch zur Bank gehen konnte oder getragen oder gezogen wurde.«

Daniels Füße wiesen nach kurzer Kontrolle keinerlei Verletzungen auf, die auf Letzteres hätten hinweisen können.

»Warum hat man ihn nicht weiter weggebracht? Wo man keinen direkten Bezug zu seinem letzten Aufenthaltsort herleiten konnte?«, überlegte Jana.

»Wir werden unsere Untersuchungen auf das Gelände und die Räumlichkeiten der Thermen ausweiten müssen«, antwortete Clemens.

»Davon werden aber einige Leute nicht begeistert sein«, sagte Jana schmunzelnd. Nun war es an Clemens, dem Betriebsleiter beizubringen, dass das Bad vorerst nicht für die Allgemeinheit würde öffnen können. Es würde einige Zeit dauern, bis man das weitläufige Areal auf mögliche Spuren hin untersucht hatte. Noch vor dem Betriebsleiter der Thermen traf Dr. Hans Burgdorf, der Rechtsmediziner, am Tatort ein. Es wurde auch Zeit. Denn es wurde immer wärmer. Nach einer ersten Inaugenscheinnahme kam der Bonner Mediziner zu dem Schluss, dass der Tod vor mehreren Stunden eingetreten sein musste. Die Todesursache anzugeben, war unter diesen Umständen noch nicht einmal annähernd denkbar.

»Zu viele Widersprüche«, sagte der Rechtsmediziner nur. Er versprach, die Obduktion heute noch auszuführen.

»Ob er verstorben ist, kurz nachdem ich nach Hause gefahren bin?«, murmelte Jana vor sich hin.

»Sie haben ihn noch lebend gesehen?«, fragte Dr. Burgdorf erstaunt.

Jana klärte ihn auf und nannte ihm den Zeitpunkt ihrer Begegnung.

»Interessant ist vor allem auch, ob der Tod vor oder nach der offiziellen Schließung der Thermen eingetreten ist und wo er verstarb«, sagte Clemens.

»Du meinst, jemand, vielleicht auch vom Personal, könnte ihn nach der Schließung außerhalb des Bades gebracht haben?«, fragte Jana. Sie und Clemens hatten sich mit einigen weiteren Mitarbeitern der Spurensicherung auf den Weg zum Haupteingang der Thermen gemacht.

»Derjenige war auf jeden Fall im Besitz des Schlüssels.«

»Ein Gärtner möglicherweise, oder jemand vom Reinigungspersonal?«, gab Jana zu bedenken. »Vielleicht erst heute Morgen?«

Sie kamen nicht mehr dazu, diese Theorie eingehender zu besprechen. Vor dem Eingang zu den Thermen warteten zwei Männer auf sie – einen davon kannten sie bereits.

»Und wie ist denn nun eigentlich Ihr Name?«, wandte sich Clemens zunächst an den Mitarbeiter der Verwaltung.

»Ich bin Henning Gier und werde mich über Sie beschweren«, sagte dieser.

»Das können Sie gerne machen«, sagte Clemens. »Dann aber bitte beim Polizeipräsidenten, der Ihnen unsere Arbeit gerne noch einmal ausführlich erklären wird. Und sicherlich den einen oder anderen Paragrafen nennen wird, der in solchen Fällen Anwendung findet.«

Henning Gier sagte nichts mehr. Clemens gab ihm zu einer weiteren Einlassung ohnehin keine Gelegenheit mehr, sondern wandte sich stattdessen dem anderen Mann zu, von dem anzunehmen war, dass es sich um den Betriebsleiter handelte. Dieser stellte sich als Steven Pesch vor. Selbst Clemens’ Anweisung, das Bad zunächst nicht zur geplanten Stunde zu öffnen, brachte ihn nicht aus dem Konzept, was wiederum Henning Gier auf den Plan rief.

»Sie können doch nicht einfach darüber verfügen …«, mischte er sich ins Gespräch ein. Jana merkte Clemens an, dass es ihm einiges an Selbstbeherrschung abverlangte, weiterhin ruhig zu bleiben.

»Herr Gier, ich erwarte, dass Sie uns seitens der Verwaltung unterstützen. Umso früher können wir das Bad wieder freigeben.«

So einfach ließ sich der Mann jedoch nicht abschütteln.

»Ich werde Sie aber begleiten«, sagte er.

»Wohin?«, fragte Clemens. Jana und den Kollegen wurde es zu bunt, vor allem, da ihnen die Ausrüstung allmählich zu schwer wurde und sie mit ihrer Arbeit endlich beginnen wollten.

Nun mischte sich der Betriebsleiter ein, leise zwar: »Herr Gier, ich mache das schon. Außerdem ist das mein Zuständigkeitsbereich und nicht Ihrer.«

»Wenn die Herren das bitte andernorts klären möchten. Uns geht wertvolle Zeit verloren, also bitte …« Clemens nahm Steven Pesch zur Seite und bat ihn, ihn zu den Schränken zu führen, in denen die Badegäste ihre Wertsachen aufbewahrten. Jana und die anderen folgten ihm.

Jana war klar, wonach Clemens suchte: nach einem Spind, der noch verschlossen war. Sie fanden lediglich zwei vor. Wenn sie Glück hatten, lag in einem von beiden ein Hinweis auf die Identität des Toten. Aber immer noch bestand die Möglichkeit, dass derjenige, der ihn auf die Bank gesetzt hatte, den Spind ausgeräumt hatte. Steven Pesch öffnete die Türen mit einem Spezialschlüssel. In dem ersten Schrank fanden sie ein noch feuchtes Handtuch, ein gebrauchtes Papiertaschentuch sowie ein Shampoo für blondes, feines Haar. Im zweiten, weiter hinten in einem anderen Gang, ein Portemonnaie sowie ein Smartphone und ein Paar Sneakers. Diese Gegenstände gehörten offensichtlich einem Mann. Clemens sah sich die in den Innenfächern der Geldbörse aufbewahrten Scheckkarten genauer an. Ihre Leiche hieß Daniel Bender.