Meine europäische Familie

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Die neuen Techniken, die die Neandertaler übernahmen, verlängerten womöglich ihre Existenz ein wenig. Dennoch waren sie dem Untergang geweiht, als Menschen unserer Art Europa besiedelten.

Einer von vielen Erklärungsversuchen dafür, dass die Neandertaler ausstarben, während wir überlebten, besagt, dass wir beim Essen weniger wählerisch gewesen wären. Wir hätten mehr Gemüse wie zum Beispiel stärkehaltige Wurzeln gegessen. Neuere Forschungsergebnisse, wie die von Amanda Henry vom Max-Planck-Institut in Leipzig, widerlegen das jedoch. Henry hat mikroskopisch kleine Reste von fossilen Zähnen untersucht und kann bestätigen, dass auch die Neandertaler durchaus Stärke aus Pflanzenwurzeln zu sich nahmen. Es stimmt also nicht, dass sie zugrundegingen, weil sie sich zu einseitig von Fleisch ernährten.

Es könnte allerdings zutreffen, dass wir erfolgreicher bei der Jagd auf Fische und kleine, schnelle Tiere wie Hasen und Vögel waren. Denkbar ist auch, dass wir geschickter darin waren, aus Pflanzenfasern Netze zu knüpfen. Mit solchen Netzen zu fischen und zu jagen, hätte uns große Vorteile verschafft. Unsere Ernährungsgrundlage wäre dadurch sowohl abwechslungsreicher als auch verlässlicher geworden. Blieben die großen Beutetiere aus, konnte man immer noch zum Fluss hinuntergehen und ein paar Fische fangen. Außerdem bekam so ein größerer Teil der Gruppe die Möglichkeit, seine Arbeitskraft einzubringen. Die Jagd auf große Säugetiere war oft gefährlich und anstrengend. Das schafften nur starke, gesunde Menschen. Aber Netze auslegen und einholen konnten auch schwächere, ältere oder behinderte Personen.

Die Kunst des Fischens und der Jagd auf Hasen und Vögel könnte also durchaus für unser Überleben in Europa entscheidend gewesen sein.

Vielleicht setzten wir uns gegen die Neandertaler mit effektiveren Jagdmethoden durch. Womöglich erschlugen wir sie auch einfach, wenn sich die Gelegenheit bot. Ich glaube, Jean-Jacques Hublin hat recht mit seiner These, dass den Klimaveränderungen und Nähnadeln nur eine eingeschränkte Bedeutung zukommt, während Sprache, Kunst, Musik und größere soziale Netzwerke den Ausschlag gaben.

Dass die Neandertaler schon während der letzten Eiszeit, bevor wir auftauchten, stark in Bedrängnis geraten waren, begünstigte uns sicher zusätzlich.

Einige DNA-Untersuchungen belegen, dass die Neandertaler vor ihrem Ende massiv von Inzucht geprägt waren. Ein Neandertalerjunge in der Denisovahöhle im südlichen Sibirien wies eine so geringe genetische Variation auf, dass seine Eltern Halbgeschwister gewesen sein oder zumindest einen ähnlichen Verwandtschaftsgrad aufgewiesen haben müssen. Zusätzlich müssen die Eltern ihrerseits das Resultat vieler Generationen von Inzucht in einer kleinen, in sich geschlossenen Gruppe gewesen sein. Einer schwedischen Studie zufolge lebten zum Schluss in ganz Europa nur noch ein paar Tausend Neandertaler. Ihre Anzahl verminderte sich vor ungefähr 50.000 Jahren signifikant – das verrät die abnehmende Variationsbreite ihrer DNA.

Die Ankunft des modernen Menschen, die Kälteperiode sowie der Vulkanausbruch in Italien wären demnach die Sargnägel für eine bereits stark gefährdete Gruppe gewesen.

Einige Forscher vertraten früher beharrlich die Ansicht, dass die Neandertaler durchaus die mentalen Kapazitäten besessen hätten, um ihre neue Kultur aus eigener Kraft zu entwickeln. Diese Überzeugung wird heutzutage immer seltener geäußert. Es ist unübersehbar, dass die Neandertaler mehrere Hunderttausend Jahre lang auf ziemlich gleichbleibende Weise in Europa lebten, um dann ihre Gewohnheiten plötzlich zu ändern, als Menschen unseres Schlages auf der Bildfläche erschienen.

Die Autorin Jean M. Auel beschreibt in ihren Bestsellerromanen, wie das Steinzeitmädchen Ayla, das aus der Gruppe der modernen Menschen stammt, bei Neandertalern aufwächst. Es ist nicht auszuschließen, dass in der Realität Ähnliches vorgekommen ist. Einzelne Individuen könnten zur jeweils anderen Gruppe gewechselt sein und dabei Kenntnisse und Traditionen mitgenommen haben. Schließlich belegen die genetischen Befunde, dass Neandertaler und moderne Menschen im Nahen Osten gemeinsame Kinder hatten.

Das Gleiche gilt übrigens auch für Europa. Einige Anthropologen sind schon seit Langem überzeugt, dass einzelne Skelette deutliche anatomische Merkmale sowohl von Neandertalern als auch von modernen Menschen aufweisen. Das belegen zum Beispiel zwei Funde aus der Höhle Peştera cu Oase im heutigen Rumänien – der Schädel eines 15-Jährigen und der Unterkiefer einer erwachsenen Person. Letzterer wurde mit der Radiokarbonmethode auf ein Alter von ungefähr 40.000 Jahren datiert.

Im Frühjahr 2015 gelang Svante Pääbo und seinen Mitarbeitern der Nachweis, dass der Unterkiefer tatsächlich ziemlich große Mengen Neandertaler-DNA enthält, und zwar zwischen fünf und elf Prozent des gesamten Erbguts. Außerdem scheint das Erbe der Neandertaler nur vier bis fünf Generationen zurückzuliegen, da die DNA in langen, ungebrochenen Sequenzen vorliegt. Das Individuum in Peştera cu Oase hatte also einen Neandertaler zum Ur-Ur-Großvater oder in einem ähnlichen Verwandtschaftsgrad.

Im Erbgut von uns heutigen Europäern sind allerdings davon keine Spuren mehr zu entdecken.

Nachdem moderne Menschen mit Neandertalern gemeinsame Kinder bekommen hatten, müssen ihre Nachkommen also ausgestorben sein. Sicher nachweisen kann die Wissenschaft nur Kreuzungen, die irgendwo im Nahen Osten vor ungefähr 54.000 Jahren stattgefunden haben, sowie eine weitere in Asien.

Die Neandertaler hatten größere Gehirne als wir und sie waren definitiv keine Dummköpfe. Sie waren gute Jäger und standen uns in puncto Geschicklichkeit in vielerlei Hinsicht nicht nach. Ihre Steinwerkzeuge waren symmetrisch und funktionell. Die Herstellung solcher Werkzeuge zu erlernen, ist extrem schwierig, wie mir Archäologiestudenten versicherten. Offensichtlich besaßen die Neandertaler auch die Fähigkeit, ihre Technik weiterzuentwickeln, selbst wenn es durch Nachahmung von uns geschah.

Bis heute gibt es allerdings keine glaubhaften Beweise dafür, dass sie Kunstwerke schufen und Musikinstrumente verwendeten. Vermutlich konnten sie nicht in gleichem Maße in Symbolen denken wie wir. Sie hatten zwar ganz offensichtlich ein Gefühl für Symmetrie, jedoch nicht für Kunst und Ästhetik nach unseren Maßstäben.

Es war ein Aha-Erlebnis für mich, als Jean-Jacques Hublin den Unterschied zwischen Symmetrie und Ästhetik erwähnte. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Teenager in einer Konditorei arbeitete und das Dekorieren von Torten und Gebäck erlernte. Fast alle Anfänger machen den gleichen Fehler – sie versuchen, völlig symmetrische Muster zu schaffen. Doch als ich es wagte, die Symmetrie zu durchbrechen, wurden die Torten viel schöner. Könnte das bewusste Durchbrechen der Symmetrie einer der Schlüssel zur Einzigartigkeit des Menschlichen sein?

Ich glaube wie Jean-Jacques Hublin, dass uns moderne Menschen eine Mitschuld daran trifft, dass die Neandertaler ausstarben. Über die moralische Schuld lässt sich streiten, obwohl sie hoffentlich mittlerweile verjährt ist. Die Neandertaler waren ja immerhin Menschen, wenn auch nicht wesensgleich mit uns. Ist ihr Tod mit der Ausrottung einer Tierart zu vergleichen? Oder eher mit einem Völkermord?

In jedem Fall sollten wir uns hüten, auf die Neandertaler herabzuschauen. Sie haben in Europa viel länger überlebt, als wir es bisher getan haben. Sie existierten hier mindestens ein paar Hunderttausend Jahre, und wenn man ihre Vorgänger mitberücksichtigt – die zuweilen Homo heidelbergensis genannt werden –, sprechen wir von mehr als vierhunderttausend Jahren.

Allein die Kultur des Aurignacien prägte Europa circa zehntausend Jahre lang. So lange hatte kein aus historischer Zeit bekanntes Reich Bestand. Doch dann rollte eine neue Einwanderungswelle auf den Kontinent zu.

DIE MAMMUTS IN BRÜNN

Die Stadt Brünn (Brno) in Tschechien ist ein klassisches Ziel für alle an Gentechnik Interessierten. Ich bin früher schon einmal hier gewesen, unter anderem, um eine Reportage über den Mönch Gregor Mendel zu schreiben. Er erbrachte in den 1860er-Jahren den Nachweis, dass Merkmale durch voneinander abgegrenzte Einheiten vererbt werden – diese Einheiten nennen wir heute Gene. Das Kloster, in dem Mendel arbeitete, existiert noch. Nachdem es in der kommunistischen Ära ein Schattendasein führte, ist es jetzt restauriert worden. Kloster waren bei den Kommunisten nicht gern gesehen und auch die biologische Wissenschaft wurde mit Argwohn betrachtet – besonders während der Herrschaft von Josef Stalin in der Sowjetunion. Vor allem die als kontrarevolutionär und bürgerlich erachtete Genetik war tabu.

Als ich Brünn jetzt wieder besuche, schaue ich noch einmal im Augustinerkloster und im Museum zu Mendels Leben und Werk vorbei. Einige blühende Erbsen ranken vor dem Eingang. Mendel führte seine Versuche an Erbsenpflanzen durch, denn sie waren praktisch und pflegeleicht. Er säte und rechnete, säte und rechnete. Gelbe Erbsen, grüne Erbsen, rote Blüten, weiße Blüten, hohe Pflanzen, niedrige Pflanzen … Auf der Basis sieben verschiedener Eigenschaften der Erbse formulierte er seine Vererbungsgesetze und beschrieb dominante und rezessive Merkmale.

Es sollte über vierzig Jahre dauern, bis Gregor Mendels Erkenntnisse über die Stadt Brünn hinaus bekannt wurden. Als man sie dann schließlich anwandte, revolutionierten sie die Pflanzenveredelung, die Tierzucht und fast die gesamte biologische Wissenschaft. Leider sind Mendels Ergebnisse teils falsch interpretiert worden. Heute wissen wir, dass Vererbung selten so simpel ist wie bei seinen grünen und gelben Erbsen. Bei den meisten Merkmalen verläuft sie deutlich komplizierter und wird sowohl von vielen unterschiedlichen Genen als auch von Umweltfaktoren beeinflusst.

 

Nach meinem Besuch im Mendelmuseum fahre ich mit der Straßenbahn einige Haltestellen stadtauswärts. Dieses Mal bin ich nach Brünn gekommen, um mehr über jene große europäische eiszeitliche Kultur zu lernen, die auf das Aurignacien folgte: das Gravettien.

Außerhalb der Stadt liegen einige der wichtigsten eiszeitlichen Fundplätze Europas. Der bekannteste ist Dolni Věstonice. Viele der dortigen Funde sind im Museum Anthropos am Stadtrand von Brünn zu sehen. In der Straßenbahn versuche ich von einigen Damen in Erfahrung zu bringen, an welcher Haltestelle ich aussteigen muss. Mit Englisch komme ich nicht weiter, sodass ich auf mein äußerst rudimentäres Deutsch zurückgreifen muss. Als sie endlich verstehen, was ich meine, rufen sie: „Aha! Mammut!“ Eine von ihnen steigt an der gleichen Haltestelle aus wie ich, nicht etwa, weil sie dort etwas zu erledigen hätte, sondern, um mir den Weg zu zeigen. Als ich das Museum betrete, verstehe ich, worauf die Damen angespielt haben: Das Gebäude wird von einem riesenhaften, über zwei Stockwerke großen, langhaarigen Mammut dominiert. Neben ihm steht sein Junges, das fast so groß ist wie eine Kuh.

Im Obergeschoss sehe ich das berühmte Dreiergrab. Darin liegen drei Menschen, die alle im Teenageralter oder mit Anfang zwanzig starben: in der Mitte eine Frau, die behindert war und deren Skelett offenbar angeborene Schäden aufweist. Sie liegt auf dem Rücken. Zu beiden Seiten von ihr liegt jeweils ein Mann. Der eine liegt dicht neben ihr auf dem Bauch, den Arm mit ihrem verschränkt, der andere liegt etwas weiter entfernt, aber seine Hand ruht auf ihren Geschlechtsteilen. Ihre Köpfe und auch der Schoß der Frau mit der Hand des Mannes sind mit Ocker bedeckt.

Zwei dieser Personen könnte man als meine Verwandten bezeichnen. Ihre mitochondriale DNA gehört zur Gruppe U5, genau wie meine. Aber ihre U5 ist eine sehr frühe Variante, die heute keine Entsprechung mehr hat. Die dritte Person – der Mann, der seine Hand auf dem Schoß der Frau hält – gehört zur Gruppe U8.

Eine mögliche Interpretation ist, dass der Mann und die Frau mit U5 Geschwister sind und der Mann mit U8 der Partner der Frau. Schwester und Bruder liegen nahe beieinander mit ineinander verschränkten Armen. Der Partner der Frau liegt etwas weiter weg, legt aber seine Hand auf ihre Geschlechtsteile. Ihre Lage im Grab spiegelt ihre Beziehungen im Leben wider.

Die jungen Menschen lebten vor ungefähr 31.000 Jahren. Die ältesten Funde aus Dolni Věstonice sind nach den neuesten Datierungen bis zu 34.000 Jahre alt. Sie alle werden der Kultur des Gravettien zugeordnet, deren Werkzeuge und Kunstgegenstände sich deutlich von denen des Aurignacien unterscheiden.

In einer der Universitäten der Stadt treffe ich den für die Grabungen in Dolni Věstonice verantwortlichen Archäologen Jiři Svoboda. Er ist ein zurückhaltender Mann in den Sechzigern und einer der angesehensten Archäologen Europas. Svoboda ist davon überzeugt, dass das Aurignacien und das Gravettien zwei unterschiedliche Einwanderungswellen nach Europa repräsentieren. Das Aussehen der Gegenstände legt Zeugnis davon ab, dass die Menschen des Gravettien von Süden her einwanderten, aus dem Nahen Osten und von den Stränden des Mittelmeers.

Das einzige Individuum des Aurignacien, das bisher untersucht worden ist, ist der K14-Mann aus Kostenki in Russland. Er gehörte zur Haplogruppe U2. Die drei Menschen des Gravettien aus Dolni Věstonice gehörten den Gruppen U5 und U8 an. Diese mageren Befunde können weder Jiři Svobodas Theorie über zwei unterschiedliche Einwanderungswellen belegen, noch das Gegenteil beweisen. Es ist durchaus möglich, dass er recht hat und dass weitere Fossilien, deren DNA in Zukunft untersucht wird, seine Theorie untermauern. Aurignacien und Gravettien hätten in dem Fall vor ungefähr 50.000 Jahren einen gemeinsamen Ursprung im Nahen Osten, wären dann aber mit unterschiedlichen Einwanderungswellen nach Europa gekommen. Zu ihrer gemeinsamen Ursprungsgruppe gehörte „Ursula“, also eine Frau aus der Haplogruppe U, die die Urmutter all derjenigen wurde, die einer der insgesamt neun Untergruppen mit Namen wie U2, U4, U5 und U8 angehören. Menschen aus dieser Keimzelle im Nahen Osten unternahmen zahlreiche Versuche, nach Europa einzuwandern. Doch nur zwei dieser Versuche während der Eiszeit waren erfolgreich: das Aurignacien, das vor gut 43.000 Jahren hierherkam, und das Gravettien, das vor ungefähr 34.000 Jahren Europa erreichte.

Die umfangreichen Funde aus Dolni Veestonice bergen riesige Mengen an Informationen über das Leben in Zentraleuropa vor 20.000 bis 34.000 Jahren. Die Spuren verraten, dass die Menschen in regelmäßigen Abständen zu ihren Siedlungsplätzen zurückkehrten. Einige von ihnen könnten auch dauerhaft in Dolni Veestonice gelebt haben. Sie waren hoch spezialisierte Mammutjäger, ernährten sich aber auch von Hasen und Vögeln.

Einige Schmuckstücke wie durchbohrte Fuchszähne und Perlen wurden hier gefunden, jedoch weniger als in den Hinterlassenschaften des Aurignacien üblich. Die Menschen des Gravettien scheinen viel Wert auf den Schmuck ihrer Mützen gelegt zu haben.

Auch eine ganze Reihe von Kunstgegenständen ist erhalten. Am berühmtesten ist die „Venus von Dolni Věstonice“, eine üppige Frauenfigur aus gebranntem Ton. Sie ist mehrere Tausend Jahre älter als die ältesten bisher bekannten Keramikgefäße, die in Japan und China entdeckt wurden.

Die Menschen in Dolni Věstonice waren Nomaden, die keine schweren Keramikgefäße mit sich herumschleppen wollten, erläutert Jiři Svoboda. Ihr Essen kochten sie in Behältern aus Tierhäuten, in denen sie Wasser mithilfe im Feuer erhitzter Steine erwärmten. Das war die steinzeitliche Version unseres Wasserkochers, eine erstaunlich effektive Methode.

Aus dem Ton stellten sie stattdessen Miniaturfiguren her – sowohl Tiere als auch Menschen –, von denen eine große Anzahl gefunden wurde. Viele liegen zersplittert dicht bei den Feuerstellen. Es sieht so aus, als ob die Bewohner von Dolni Věstonice Tonfiguren formten und sie dann ins Feuer legten, bevor sie durchgetrocknet waren. Dabei dehnt sich das Wasser im Ton aus und der Gegenstand explodiert. Wie Popcorn. Wir können nur darüber spekulieren, ob explodierende Tonfiguren ein Partygag waren, der allein der Unterhaltung diente, oder Teil eines Ritus.

Eine andere seltsame Beschäftigung der Menschen in Dolni Věstonice scheint es gewesen zu sein, einander heftig auf den Kopf zu schlagen. Offenbar benutzten sie dafür Keulen oder ähnliche harte Gegenstände. Viele der Schädel weisen gravierende Verletzungen auf, die jedoch abgeheilt waren, bevor die betreffende Person aus einem anderen Grund starb.

Unter Forschern heiß umstritten ist die Frage, ob die Menschen in Dolni Věstonice zahme Hunde hielten. An den Grabungsplätzen wurden viele Knochen von Wölfen gefunden. Mehrere davon stammen von ungewöhnlich kleinen Tieren, die viele Archäologen eher für Hundeskelette halten.

Jiři Svoboda drückt sich diplomatisch aus, wenn er über dieses Thema spricht. Er arbeitet mit mehreren anderen Forschern zusammen, die weit auseinandergehende Meinungen vertreten. Er weist jedoch auf einen Faktor hin, der in diesem Zusammenhang entscheidend sein könnte: In den Siedlungen sind große Mengen Knochen von Beutetieren gefunden worden, die jedoch keinerlei Bissspuren von Hunden aufweisen.

Anscheinend suchten die Wölfe die Nähe der menschlichen Siedlungen, weil sie dort leicht an Fleisch herankommen konnten. Sie hielten sich jedoch am Rande auf und wurden erst später zu unseren zahmen Begleitern.

Ich komme später noch auf die hitzige Debatte über die ersten Hunde zurück.

Die Venus von Dolni Věstonice ist ziemlich fett und das gilt auch für mehrere andere Frauenfiguren, von denen Fragmente gefunden wurden. Sie haben so viel Unterhautfett, dass sich die Haut auf ihrem Rücken in Falten legt. Das ist ein wenig paradox, denn Knochen und Zähne der Menschen in Dolni Věstonice verraten, dass sie Hungerzeiten durchmachten. Das Leben in der zentraleuropäischen Ebene konnte hart sein. Es traten große Temperaturunterschiede auf und vor ungefähr 20.000 Jahren wurde es so kalt, dass die Menschen dort kaum noch ausharren konnten. Damals begann die allerkälteste Periode der Eiszeit.

Zentraleuropa war nicht mehr bewohnbar. Die Mammutjäger von Dolni Věstonice wanderten in Gegenden ab, wo das Klima wärmer und das Leben erträglicher war. Und ich fahre in den Südwesten Frankreichs und nach Spanien, denn ich glaube, dass einige meiner Verwandten dorthin zogen.

CRO-MAGNON

ICH FAHRE NACH LES EYZIES-DE-TAYAC UND STEIGE IM „Cro-Magnon“ ab.

Les Eyzies liegt in den Bergen des französischen Départements Dordogne, einige Stunden mit dem Regionalzug von Bordeaux nach Osten. Es ist der Nabel der Welt für alle, die sich mit der europäischen Eiszeit beschäftigen. Die Touristen kommen zu Hunderttausenden, um Grabungsstätten, Höhlenmalereien und Museen zu besichtigen. Das kleine Dorf ist ganz darauf ausgerichtet, all die Eiszeittouristen zu beherbergen.

Alles begann mit Cro-Magnon. Ein örtlicher Großbauer, der mit Nachnamen Magnon hieß, ließ eine Straße über sein Land bis hinunter zum neuen Bahnhof bauen. Seine Arbeiter holten die Steine dafür von einer Stelle, die in der französischen Hochsprache „abri“ heißt, im Dialekt der Region jedoch „cro“. Das Wort bezeichnet einen Felsüberhang, eine in den hiesigen Kalkfelsen häufig anzutreffende geologische Formation. Durch versickerndes Grundwasser und Frostsprengung wird der Fels ausgehöhlt und es entsteht ein geschützter Raum mit einem natürlichen Dach.

Unter dem Felsüberhang Cro-Magnon fand man mehrere menschliche Skelette, die offensichtlich sehr alt waren. Das war im Jahr 1868, nur wenige Jahre nach der Entdeckung des Neandertalers in Deutschland. Charles Darwins Buch Über die Entstehung der Arten war soeben erschienen und breiteren Bevölkerungsgruppen wurde allmählich bewusst, dass der Mensch schon sehr viel länger existierte als die von manchen Bibelgelehrten behaupteten 6.000 Jahre.

Untersuchungen erbrachten, dass die Skelette in Cro-Magnon nicht von Neandertalern stammten, sondern eher uns heutigen Menschen ähnelten. Europas erste anatomisch moderne Menschen erhielten den Namen „Cro-Magnon-Menschen“.

Heute ist das Cro-Magnon zunächst gelegene Haus eine Pension. Es ist direkt an den Berg gebaut und der Fels ist Teil der Flure. Der Grabungsplatz, mittlerweile einer der unprätentiöseren in Les Eyzies, liegt direkt hinter der Waschküche der Besitzerin.

Das Speisenangebot ist heutzutage leichter verdaulich als in der Eiszeit – zum Frühstück gibt es Café au lait und Buttercroissants. Die Lage ist aber genauso schön wie damals, als die ersten Menschen diesen Platz erwählten. Man kann immer noch in der Abendsonne sitzen und auf den Fluss hinunterschauen. Jetzt jedoch bei einem erfrischenden Glas Kir Royal.

Die Menschen der Eiszeit wählten oft nach Westen gewandte Höhlenöffnungen oder Felsüberhänge als Wohnplätze, wo die Sonne sie wärmte und der Fels sie gegen den kalten Nordwind schützte. Und fast immer hatten sie Aussicht aufs Wasser.

Unter Archäologen herrscht Uneinigkeit, inwieweit die Menschen in Cro-Magnon zum Aurignacien oder zum Gravettien zu rechnen sind, denn sie lebten in einer Übergangszeit. Hinzu kommt, dass es bei den ersten Grabungen ein wenig drunter und drüber ging. Es gibt jedoch in der näheren Umgebung viele andere Fundplätze, an denen systematischer gearbeitet wurde und wo man die ganze Vorgeschichte durch meterdicke Ablagerungen hindurch verfolgen kann.

Zum Beispiel in Abri Pataud, das nur ein paar Hundert Meter von Cro-Magnon entfernt liegt. In der untersten Schicht findet man Spuren der Neandertaler. Darüber folgt eine Schicht ohne menschliche Hinterlassenschaften. Die ersten modernen Menschen, typische Vertreter des Aurignacien, tauchen vor ungefähr 35.000 Jahren auf.

Man hat in Abri Pataud Knochen von sechs verschiedenen Individuen gefunden: von zwei Frauen mit ihren neugeborenen Kindern, einem fünfjährigen Kind und einem erwachsenen Mann. Das am besten erhaltene Skelett gehört einer der Frauen. Sie war ungefähr zwanzig Jahre alt und circa 1,65 Meter groß. Ihr Kieferknochen war durch eine sehr schwere Zahnentzündung geschädigt – so schwer, dass sie daran eines qualvollen Todes gestorben sein könnte, falls sie nicht bei der Geburt ihres Kindes starb. Die eiszeitlichen Jäger litten fast niemals an Karies, weil sie so wenig Stärke und Zucker aßen, doch konnten Abnutzung und Entzündungen andere schwerwiegende Zahnprobleme verursachen.

 

Bisher gibt es keine zuverlässigen DNA-Analysen aus Cro-Magnon oder Abri Pataud. Der deutsche Wissenschaftler Johannes Krause unternahm allerdings einen Versuch. Er begann mit dem berühmtesten der Skelette, das Cro-Magnon 1 genannt wird und sich im Musée de l’Homme in Paris befindet. Krause versuchte, aus mehreren der Knochen DNA zu extrahieren, doch nur eine seiner Analysen glückte. Daraufhin ließ er auch Isotopanalysen dieses Knochens erstellen. Durch den Vergleich verschiedener Isotope des Elements Schwefel wollte er herausfinden, wie sich dieser Mensch ernährt hatte.

Die eiszeitlichen Europäer nahmen wie gesagt verhältnismäßig wenige Kohlenhydrate und stattdessen viel Protein aus Fleisch und Fisch zu sich. Doch der Knochen, der angeblich von Cro-Magnon 1 stammte, machte den Eindruck, als hätte er einem modernen Veganer gehört – oder einer Kuh, die ausschließlich Gras gefressen hat.

Als Johannes Krause den Knochen mithilfe der Radiokarbonmethode datieren ließ, stellte sich heraus, dass er aus dem 14. Jahrhundert stammte. Sein Gehalt an Schwefelisotopen entsprach dem eines armen Menschen im Mittelalter, der sich fast ausschließlich von Grütze ernährte und praktisch kein Fleisch aß.

Der Knochen wurde schleunigst aus den Sammlungen des Musée de l’Homme entfernt.

Die Spuren des Gravettien in Les Eyzies enden vor ungefähr 20.000 Jahren, genau wie anderswo in Europa. Damit begann eine Kultur, die Solutréen genannt wird.

In Abri Pataud wie auch an mehreren anderen Grabungsplätzen kann man ablesen, dass das Klima zu dieser Zeit sehr viel kälter wurde. Heute liegt die Durchschnittstemperatur in Europa bei ungefähr plus zwölf Grad. In der kältesten Periode der Eiszeit, vor 18.000 bis 19.000 Jahren, betrug die mittlere Temperatur ungefähr minus vier Grad. Pferde, zuvor eine häufige Jagdbeute, waren damals stark dezimiert. Übrig blieben hauptsächlich Rentiere, Europäische Bisons (oder Wisente) und einige kälteunempfindliche Raubtiere wie Polarfüchse und Wölfe.

Und Menschen.

Interessanterweise erlebte die menschliche Kultur gerade damals eine große Blüte. Das kann man im großen Museum von Les Eyzies gut nachvollziehen.


Das Musée Nationale de Préhistoire in Les Eyzies-de-Tayac ist ein großes, kostspieliges Museum, das vom französischen Staat unterhalten wird. Genau wie die Pension Cro-Magnon ist das Gebäude teilweise in den hellen Kalkfelsen hineingebaut.

Eine ganze Etage des Museums ist eiszeitlichen Werkzeugen vorbehalten – vor allem aus Stein, aber auch aus Horn, Knochen und Elfenbein –, die systematisch nach Periode und Kultur geordnet die Vitrinen füllen. Für mich als Nichtfachfrau ist es schwierig, den Übergang vom Neandertaler zum modernen Menschen und vom Aurignacien zum Gravettien zu erkennen. Doch der Übergang vom Gravettien zum Solutréen vor ungefähr 20.000 Jahren springt auch dem unbedarftesten Betrachter ins Auge.

Die Werkzeuge aus dem Solutréen sind völlig anders und sehr viel weiter entwickelt. Sie sind papierdünn, blank, scharf und bildschön. Einige sind so fein gearbeitet und übertrieben groß, dass sie kaum für praktische Arbeiten geeignet waren, sondern Ziergegenstände gewesen sein müssen. Der Feuerstein ist von besonders guter Qualität und wurde oftmals aus Felsen geholt, die fünfzig Kilometer entfernt lagen. Wahrscheinlich wurden diese Werkzeuge von geübten Spezialisten hergestellt. Diese Spitzen in Form von Weidenblättern aus dem Stein herauszuarbeiten, war sicherlich keine Aufgabe für jedermann.

Demgegenüber schein fast jeder seine eigenen Speerschleudern aus Horn hergestellt zu haben. Das ist an den laienhaften Formen und den eingeritzten Bildern zu erkennen. Speerschleudern waren eine Innovation, die die Jagd in der offenen Landschaft der Eiszeit vereinfachte. Mit ihrer Hilfe konnten die Jäger das Hebelprinzip nutzen und ihre Speere mit größerer Kraft schleudern.

Während des Solutréens tauchen erstmals auch Nähnadeln in Westeuropa auf. Die Vitrinen des Museums zeigen, wie die Menschen sie Schritt für Schritt aus dem Stoßzahn eines Mammuts herstellten. Ältere Funde von Nähnadeln sind wie erwähnt nur aus Russland bekannt.

Schon seit langer Zeit benutzen die Menschen Kleidung. Mark Stoneking vom Max-Planck-Institut in Leipzig hat sich einer unkonventionellen Methode bedient, um das Alter von Kleidungsstücken zu berechnen: der DNA-Analyse von Kleiderläusen. Ein Vergleich verschiedener Familien der Kleiderlaus mit Kopfläusen und Läusen von Schimpansen erlaubte es ihm, die Dauer der Bekleidungsgeschichte auf ungefähr 107.000 Jahre festzusetzen. Zwar weist die Berechnung Abweichungen von mehreren Zehntausend Jahren auf, doch kann er präzisere Angaben machen als andere Forscher vor ihm. Mark Stonekings Analysen der Läuse-DNA belegen auch, dass der Mensch bereits in Afrika begonnen hatte, Kleidung zu benutzen.

An vielen Orten haben Archäologen Steinschaber gefunden, die vermutlich der Bearbeitung von Tierhäuten für Kleidung dienten. Auch die Neandertaler beherrschten diese Technik. Dieses Wissen war die Voraussetzung für ein Leben außerhalb der Tropen. Klei dung war mit Sicherheit in kühleren Gegenden Afrikas und des Nahen Ostens ebenso notwendig wie für die ersten Einwohner Europas.

Sich in einen Fellmantel zu hüllen und mit einer Ahle einige Löcher zu stechen, um zwei Lederstücke zu einer Tunika zusammenzufügen, ist eine Sache. Etwas ganz anderes ist es, mithilfe von Nadeln Anoraks mit pelzgefütterten Kapuzen, gut sitzende Beinkleider und wasserdichte Stiefel zu nähen.

Nähnadeln mit Öhr mögen uns heute nicht besonders imponieren, doch während der kältesten Perioden der Eiszeit bedeuteten sie den Unterschied zwischen Leben und Tod. Dichte und warme Kleidung muss in dem unbarmherzigen Klima entscheidend gewesen sein, und eine Nadel mit Öhr erleichterte die Arbeit.

Außerdem konnte man mit den Nadeln auch Netze und Reusen herstellen. Damit war man bei der Jagd flexibler und es konnte jeder mithelfen, unabhängig von seiner körperlichen Leistungsfähigkeit. Die Nähnadel könnte durchaus eine der bedeutendsten Erfindungen der Menschheit gewesen sein.

Offenbar machten die Menschen gerade während der kältesten Periode der Eiszeit hier im Südwesten Europas einen beachtlichen technologischen Entwicklungsschritt.

Die beste Erklärung dafür liefert mir Jiři Svoboda aus Brünn. Er glaubt, dass Menschen aus nördlicheren europäischen Gegenden von der Kälte nach Süden getrieben wurden. Die verschiedenen Gruppen trafen in der neuen, kalten und entbehrungsreichen Umgebung aufeinander und taten ihr Wissen zusammen. Dieses Konglomerat aus Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen war eine ausgezeichnete Basis für ihre Weiterentwicklung und für neue Erfindungen.

Auch die DNA-Forschung stützt die These, dass Menschen aus dem Norden Europas während der kältesten Periode der Eiszeit, also vor 25.000 bis 18.000 Jahren, Schutz in wärmeren Gegenden suchten. Ihre Zufluchtsorte lagen verstreut im südlichen Europa, am Schwarzen Meer, im heutigen Griechenland, in Italien und sogar weiter östlich in Sibirien.

Ich habe Grund zu der Annahme, dass meine Verwandten in direkter mütterlicher Linie die kältesten Jahre der Eiszeit eben hier in der Nähe von Les Eyzies-de-Tayac, in Südwestfrankreich oder Nordspanien verbracht haben.

Die Untersuchungsergebnisse des isländischen Unternehmens Decode haben mir verraten, dass ich – wie ungefähr jeder zehnte Europäer – zur Gruppe U5 gehöre. Doch im Sommer begegne ich einigen schwedischen Genealogen, die sich für das Potenzial von DNA-Analysen interessieren. Wir schauen uns meine Ergebnisse von Decode näher an und finden heraus, dass ich zu einer der zwei Untergruppen von U5 gehöre, nämlich zur Gruppe U5b. Diese Gruppe wird wiederum in drei Untergruppen unterteilt, deren erster ich angehöre: U5b1.