Meine europäische Familie

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

DIE FLÖTENSPIELER

AN EINEM SONNIGEN TAG ENDE SEPTEMBER, als auf den Hängen die Laubbäume gelb und rot leuchteten, fuhr ich auf die Schwäbische Alb. Ein junger Archäologe von der Universität Tübingen begleitete mich.

Am Eingang der Höhle Hohle Fels trafen wir unseren Guide Rainer Blumentritt, einen älteren Mann, der in seiner Jugend die Höhlen in diesem Gebiet entdeckt hatte. Über die Jahre hat er die Arbeit der professionellen Archäologen aus nächster Nähe verfolgt.

Zur gleichen Jahreszeit, also zum Herbstanfang, kamen auch die ersten Europäer immer hierher. Hier in den Höhlen der Kalkfelsen fanden sie im Winter Schutz und hier konnten sie Rentiere jagen, die zu dieser Zeit am fettesten waren und in großen Herden durchzogen.

Nur wenige Schritte hinter dem Eingang der Höhle liegt der Raum, in dem die Menschen lebten. Angesichts der damaligen Gruppengröße von zwanzig bis dreißig Personen wirkt er klein. Es muss eng gewesen sein, doch mein Begleiter, der junge Archäologe, meint, dass es sicher auch warm und gemütlich war. In den kalten eiszeitlichen Wintern ließ sich ein kleiner Raum besser warm halten.

Schicht für Schicht haben die Archäologen den Boden an der Fundstelle abgetragen, insgesamt mehrere Meter. Ganz unten fanden sie Hinterlassenschaften von Neandertalern. In der mehrere Zentimeter dicken Schicht darüber fehlen menschliche Spuren. Oberhalb davon finden sich massenhaft Zeichen, die von der Anwesenheit moderner Menschen künden, von Menschen wie du und ich. Die ältesten dieser Schichten stammen von einer Kultur, die die Archäologen Aurignacien nennen und die durch die Form ihrer Werkzeuge definiert ist.

Nach neuesten Datierungen kamen Menschen des Aurignacien vor ungefähr 43 500 Jahren nach Zentraleuropa. Erste Spuren wurden auf einem Grabungsplatz in Willendorf, Österreich, gefunden. Die ältesten Funde auf der Schwäbischen Alb sind beinahe genauso alt.

Hohle Fels ist nicht einfach nur eine kleine Höhle, in der Menschen gewohnt haben. Mein Begleiter hat mich darauf vorbereitet, dass ich etwas zu sehen bekommen werde, was er als die „Kathedrale der Eiszeit“ bezeichnet. Die Halle übertrifft in der Tat alle meine Erwartungen. Der Berg öffnet sich zu einem großen Saal, der tatsächlich an einen mittelalterlichen Kirchenraum erinnert. Aus den Nischen an den Wänden fällt schwaches Licht. Die Lampen sind zwar elektrisch, doch ähnelt ihr Schein vermutlich dem der Fackeln, die die Menschen während der Eiszeit benutzten.

Der junge Forscher aus Tübingen und ich gehen andächtig durch die Höhle und bewundern den großen Saal. Man kann einen Absatz erklimmen wie in einem Amphitheater. Plötzlich hören wir die klaren Töne einer Flöte: Unser Höhlenführer spielt über eine Lautsprecheranlage eine Aufnahme ab. Die Akustik in der großen Halle ist ganz außergewöhnlich.

So hat es also geklungen, wenn meine Verwandten ihre Zeremonien abhielten.

Die Flöte in der Tonaufnahme ist eine aus Mammutelfenbein gefertigte Rekonstruktion. Solches Elfenbein von ausgestorbenen sibirischen Mammuts, die im Permafrostboden konserviert waren, kann man auch heute noch ganz legal kaufen.

Deutsche Archäologen haben Fragmente von insgesamt acht Flöten im Hohle Fels und den nahe gelegenen Höhlen Geißenklösterle und Vogelherd gefunden. Im Urgeschichtlichen Museum in Blaubeuren kann man sich den Klang der Nachbauten anhören.

Vier der Flöten sind aus Flügelknochen von Vögeln gemacht. Sie erzeugen einen hohlen Ton, ungefähr als blase man in eine Flasche. Knochen von Schwänen bringen hellere Töne hervor, die gröberen Knochen von Geiern dunklere.

Eine Flöte aus einem hohlen Vogelknochen herzustellen mag erst einmal nicht besonders schwierig erscheinen. Man braucht den Knochen nur zuzuschneiden und an den passenden Stellen Löcher hineinzubohren. Wirklich überwältigend sind jedoch die vier Flöten aus Elfenbein. Ihr Klang ist beinahe genauso klar und rein wie der einer Silberflöte. Um eine Flöte aus einem so harten Material wie Elfenbein zu schnitzen, muss man sehr geschickt sein. Man muss dafür den Stoßzahn des Mammuts in zwei Hälften spalten, diese aushöhlen und dann wieder absolut luftdicht zusammenfügen. Vermutlich benutzten die Menschen des Aurignacien dafür Harz als Klebstoff. Die Anordnung der Löcher lässt erahnen, wie die Musik geklungen haben muss.

Sicher haben wir Menschen schon sehr früh gesungen und getanzt, lange bevor wir den afrikanischen Kontinent verließen. Die Flöten aus Hohle Fels sind jedoch die ältesten gesicherten Funde von Musikinstrumenten. Zwar beteuern Forscher in Slowenien, einen noch älteren Vogelknochen mit Löchern entdeckt zu haben, wobei es sich ihnen zufolge um eine von Neandertalern hergestellte Flöte handelt, doch ist dieser Fund umstritten. Fast alle anderen Wissenschaftler stehen ihm skeptisch gegenüber. Sie sind der Überzeugung, dass die Löcher in dem slowenischen Knochen auf natürliche Weise entstanden sind, zum Beispiel durch den Biss einer Hyäne.

Darüber, dass die Menschen des Aurignacien auf der Schwäbischen Alb Flöte spielten, herrscht jedoch Einvernehmen.


Sie kannten nicht nur Musik, sondern erschufen auch Statuetten. Bislang wurden von Archäologen auf der Schwäbischen Alb an die fünfzig kleine Figuren gefunden, die kunstvoll in Elfenbein und Stein gearbeitet sind.

Die größte ist der Löwenmensch aus der Höhle Stadel, auch Hohlenstein-Stadel genannt, eine Elfenbeinfigur mit dem Kopf eines Löwen und dem Körper eines Mannes. Sie entstand vor beinahe 40.000 Jahren und war ursprünglich circa 30 Zentimeter groß.

Ein moderner Nachbau hat erbracht, dass eine geschickte und erfahrene Person für die Herstellung des Löwenmenschen ungefähr sechs Wochen gebraucht haben muss, wenn sie den ganzen Tag daran arbeitete, solange das Tageslicht ausreichte.

In Hohle Fels, der Eiszeitkathedrale, haben Archäologen einen kleineren Löwenmenschen gefunden, der einfacher gearbeitet und nur 2,5 Zentimeter groß ist. Unter den weiteren Funden aus der gleichen Höhle befindet sich ein kleiner Wasservogel aus Elfenbein, vielleicht ein Seetaucher, und eine überaus üppige Frauenfigur. Sie ist noch älter als der Löwenmensch und hat den Namen „Venus vom Hohle Fels“ erhalten. Ihre Brüste sind riesig und ihre Geschlechtsorgane sind deutlich mit einer Spalte zwischen den Beinen kenntlich gemacht.

Für einen Nomaden, der ständig seinen Wohnplatz wechselte, war es praktisch, wenn die Kunstgegenstände klein und handlich waren und dadurch leicht zu transportieren. Wofür genau sie verwendet wurden, wissen wir nicht. Allerdings braucht man nicht besonders viel Fantasie, um Verbindungen zwischen diesen Kunstwerken und schamanistischen Glaubensvorstellungen zu erkennen, die die Ethnologen in den letzten einhundertfünfzig Jahren unter anderem bei den schwedischen Samen, sibirischen Nomaden, nordamerikanischen Indianern und südafrikanischen Buschmännern studiert haben.

Die größten und gefährlichsten Raubtiere, die unsere Verwandten auf der Schwäbischen Alb bedrohten, waren die Höhlenlöwen. Mit Sicherheit hatten die Menschen Angst vor ihnen, während sie gleichzeitig ihre Stärke und Schnelligkeit bewunderten. Es gibt viele Schilderungen, wie Schamanen, oftmals mithilfe von Masken, in ihren Zeremonien die Gestalt eines Tieres annehmen. Dass auch Höhlenlöwen zu ihrem Repertoire gehörten, liegt da recht nahe.

Seevögeln kommt im schamanistischen Weltbild ebenfalls eine besondere Rolle zu. Sie haben nämlich die Fähigkeit, die drei Ebenen des Universums zu durchdringen: Sie können fliegend den Himmel erreichen, sie können auf der Erde laufen wie die Menschen und sie können in der Tiefe des Wassers bis in die Unterwelt tauchen.

Die üppigen Frauenfiguren kommen während der ganzen Eiszeit, also über einen Zeitraum von fast 30.000 Jahren, in Europa und in Sibirien vor. Womöglich waren sie Bestandteil weiblicher Riten um Fruchtbarkeit und Geburt. Das glaubt zumindest Jill Cook, Kuratorin für die Kunst der Steinzeit am British Museum in London.

Nicholas Conard, Professor für Archäologie an der Universität Tübingen und hauptverantwortlich für die Grabungen in Hohle Fels, sieht das etwas anders. Er möchte die Bedeutung der Frauenfiguren erweitern und sie als umfassenderes Fruchtbarkeitssymbol verstehen, das die gesamte Natur und die wilden Tiere, die Jagdbeute der Menschen, einschließt.

Er schlug vor, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel solle eine Kopie der Venus vom Hohle Fels als Halsschmuck tragen. Bisher hat sie abgelehnt. Die deutlich markierten Geschlechtsorgane sind in den Kreisen, in denen sie sich bewegt, vielleicht doch etwas zu provokant.

Einige der Kunstobjekte von der Schwäbischen Alb sind älter als jede andere gegenständliche Kunst der Welt. Zwar kennt man nicht-figurative Motive, die diese altersmäßig um Zehntausende Jahre übertreffen, unter anderem Zickzackmuster auf Steinen in Blombos/Südafrika, die auf mindestens 75.000 Jahre datiert wurden. Doch die Figuren aus den süddeutschen Höhlen beweisen, dass die Menschen in Europa schon vor gut 40.000 Jahren sowohl Wesen darstellen konnten, die es wirklich gab, wie den Seevogel, als auch solche, die ihrer Fantasie entsprangen, wie die Löwenmenschen. Dafür müssen sie mentale Fähigkeiten besessen haben, die den unseren entsprachen.

Nicholas Conard provoziert mit seiner These, dass die gegenständliche Kunst in dem Augenblick entstand, in dem die modernen Menschen das heutige Deutschland erreichten. Danach hätten neue Schwierigkeiten wie kaltes Klima und die Konkurrenz mit Gruppen, die bereits vorher hier lebten, bis dahin ungenutzte Fähigkeiten hervorgerufen. Er räumt ein, dass später an anderen Orten auch gegenständliche Kunst erfunden wurde, doch seien die Menschen in Schwaben die Ersten gewesen.

 

Es ist Conard durchaus bewusst, dass seine These provokant ist. Er sagt, er sei jederzeit bereit, sie zu revidieren, falls Archäologen in anderen Ländern eindeutige Beweise für gegenständliche Kunst oder Musikinstrumente fänden, die älter sind als die Funde aus Schwaben.

Dass die ältesten gegenständlichen Kunstwerke und Musikinstrumente in Deutschland gefunden wurden, könnte ja auch daran liegen, dass die Archäologen dort intensiver danach gesucht haben als irgendwo sonst. Das war jedenfalls meine Vermutung, als ich Nicholas Conard im Herbst 2013 in Tübingen traf.

Ein Jahr nach meinem Besuch gibt es starke Indizien dafür, dass er sich irrte. Eine international zusammengesetzte Gruppe von Forschern veröffentlichte neue Datierungen von Höhlenmalereien auf der indonesischen Insel Sulawesi. Es stellte sich heraus, dass die ältesten Malereien dort um die 40.000 Jahre alt sind – also ungefähr so alt wie die ältesten Bilder in europäischen Höhlen und wie die ältesten Statuetten aus Schwaben.

Als ich Nicholas Conard um eine Stellungnahme zu den neuen Datierungen bitte, räumt er ein, dass Menschen auf der anderen Seite der Erde genauso frühzeitig Kunst schaffen konnten wie in den schwäbischen Höhlen. Aber er beharrt darauf, dass die indonesische und die schwäbische Kunst sich parallel und völlig unabhängig voneinander entwickelt haben könnten. Mit dieser Auffassung steht er mittlerweile unter den führenden Experten für die Entwicklung des Menschen weitgehend allein da. Die Mehrheit glaubt, dass wir Kunst und Musik schon im Gepäck hatten, als wir vor ungefähr 55.000 Jahren Afrika verließen. Die Kultur begleitete uns dann auf unseren Wanderungen, nach Osten wie nach Westen.

Dennoch bin ich überzeugt, dass Nicholas Conard auf einen wichtigen Aspekt hinweist, wenn er sagt, dass Kunst und Musik für den Zusammenhalt und die Überlebensfähigkeit unserer frühen Verwandten eine entscheidende Rolle spielten. Allerdings glaube ich, dass das für Afrika und Europa genauso gilt wie für andere Erdteile. Kreativität und künstlerische Begabung waren für unser Überleben von so fundamentaler Bedeutung, dass diese Fähigkeiten in unseren Genen verankert sind – obwohl sie auch eine Schattenseite haben.


Sich mithilfe von Kunst, Musik und Erzählungen auszudrücken gehört zu den wichtigsten Triebkräften der Menschheit. So war es während der Eiszeit und so ist es noch heute. Doch einige von uns bezahlen einen hohen Preis für das Vorhandensein dieser Diposition beim Menschen.

Fähigkeiten wie Malen, Musizieren und Geschichtenerzählen sind teilweise erblich. Familien, in denen sich solche Begabungen häufen, zeigen gleichzeitig auch eine Häufung von bipolaren Störungen und Psychosen wie Schizophrenie.

Beide Krankheiten kommen bei ungefähr einem Prozent der Bevölkerung vor, und zwar in allen untersuchten Ländern. Die Betroffenen werden durch ihre Erkrankung teilweise stark eingeschränkt. Im Falle der Schizophrenie haben Verwandte der Erkrankten oft Erfolge als Künstler oder Musiker aufzuweisen. Das gilt jedoch leider nicht für die Betroffenen selbst, weil deren Leistungsfähigkeit deutlich herabgesetzt ist. Menschen mit einer bipolaren Störung sind hingegen oft in kreativen Berufen erfolgreich, ebenso wie ihre Familienmitglieder.

Einer der Ersten, die diesen Zusammenhang erkannten, war der isländische Wissenschaftler Jon Love Karlsson, der schon 1970 eine bahnbrechende Studie publizierte. Heutigen wissenschaftlichen Anforderungen würden seine Methoden nicht genügen. Er stützte sich auf die gründlich dokumentierte isländische Familienforschung – vermutlich die vollständigste der Welt, wie bereits im vorigen Kapitel beschrieben. Diese Daten verglich er mit Patientenregistern aus der psychiatrischen Klinik in Reykjavík und mit der isländischen Version des Who’s who.

Jon Karlsson glaubte, dass das Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, von nur zwei Genen abhängig sei. Heute hat die DNA-Forschung bewiesen, dass es sich eher um Hunderte von Genen handelt, außerdem um unbekannte Umweltfaktoren. Der Zusammenhang zwischen Kreativität und psychotischen Erkrankungen wurde jedoch tatsächlich bestätigt, auch von den aktuellsten, umfangreichsten und solidesten Studien.

Einige der beteiligten Genvarianten entstehen als neue Mutationen bei der Zeugung. Diese jüngsten Erkenntnisse haben die Forschung zu Schizophrenie und einigen anderen psychischen Krankheiten revolutioniert. Diese Berechnungen zu neuen Mutationen spielen auch bei der Nutzung der DNA für die Familienforschung und in der Forschung zur Geschichte des Menschen eine entscheidende Rolle. Weiß man, wie viele Mutationen statistisch bei jedem neugeborenen Kind auftreten, kann man errechnen, mit welcher Geschwindigkeit die Evolution des Menschen verläuft. Man kann sozusagen die Uhr stellen – den zeitlichen Verlauf der Evolution messen.

Auch in diesem Fall geschah der erste große Durchbruch in Island. Die neue DNA-Technik ermöglichte es einer Gruppe isländischer Wissenschaftler im Jahr 2012, Eltern und Kinder aus 78 Familien miteinander zu vergleichen. Dadurch konnten die Forscher eine Theorie erhärten, nach der das Risiko für Schizophrenie wächst, je älter der Vater des Kindes bei der Zeugung ist. Das ist darauf zurückzuführen, dass Spermien von älteren Vätern eine größere Anzahl mutierter Gene enthalten. Mindestens genauso richtungsweisend war, dass die Isländer angeben konnten, mit wie vielen Mutationen jedes Kind geboren wird, nämlich im Durchschnitt mit circa dreißig von der Mutter und ebenso vielen vom Vater, wenn der um die dreißig Jahre alt ist. Ist der Vater an die sechzig Jahre alt, erhöht sich die Anzahl der Mutationen von seiner Seite auf ungefähr sechzig.

Svante Pääbos Forschergruppe in Leipzig hat versucht, die Häufigkeit von Mutationen auf andere Art zu berechnen. Sie verglichen DNA aus fossilen Skeletten mit DNA heutiger Menschen. Früher war es schwierig, die Erkenntnisse aus Island mit den Schätzungen zur Veränderung der DNA im Laufe der Evolution unter einen Hut zu bringen, weil die beiden Methoden zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Man könnte sagen, dass die Uhren der Forscher ganz unterschiedlich tickten. Doch im Herbst 2014 veröffentlichten Svante Pääbo und seine Kollegen DNA-Analysen eines 45.000 Jahre alten Mannes, der an einem Ort namens Ust’-Ishim im westlichen Sibirien gelebt hatte. Er war der älteste moderne Mensch, dessen DNA jemals untersucht wurde, und damit der beste Vergleich, um die DNA-Uhr zu kalibrieren.

Zwar bestehen weiterhin einige Unsicherheitsfaktoren, unter anderem, weil wir nicht genau wissen, in welchem Alter unsere Vorfahren ihre Kinder bekamen, doch stimmen die Resultate der beiden Untersuchungsmethoden jetzt deutlich besser überein. Wir können damit rechnen, dass jeder Mensch, der geboren wird, von seinen beiden Elternteilen jeweils ungefähr dreißig Mutationen mitbekommt. Hat man Pech, können diese Mutationen ungünstig liegen und zur Entstehung von Krankheiten wie Schizophrenie oder manisch-depressiven Erkrankungen beitragen.

Neue Mutationen machen also einen Teil des Risikos für diese psychischen Erkrankungen aus. Es gibt aber auch viele Genvarianten, die offenbar erblich sind. Sie werden von Eltern, Großeltern und von früheren Generationen weitergegeben. Solche Genvarianten haben in der Menschheit fußgefasst, obwohl Psychosen große Nachteile mit sich bringen. Sie verringern die Überlebenschancen und zumindest die Schizophrenie verschlechtert die Aussichten der Betroffenen, eigene Kinder zu bekommen.

Dass diese Gene trotzdem weitergegeben werden, kann nur daran liegen, dass sie auch Vorteile bieten.

Wer psychische Erkrankungen in der Familie hat, kann sich mit den doppelten Auswirkungen der psychotischen Erbanlagen trösten. Natürlich bedeuten solche Krankheiten eine Behinderung und oftmals eine große Belastung sowohl für den Betroffenen als auch für dessen Angehörige. Aber die mit ihnen verbundene Kreativität und zusätzliche Energie ist auch ein Geschenk. Im Laufe der Geschichte des Menschen sind diese Erbanlagen eine große Bereicherung gewesen. Sicher waren sie für unsere Entwicklung geradezu unverzichtbar.

Davon bin ich überzeugt.

DIE ERSTEN IN EUROPA

SCHON VOR MEHR ALS 42.000 JAHREN ZOGEN die Aurignacien-Menschen durch große Teile Europas.

Einige der ältesten und herausragendsten Funde stammen von dem russischen Grabungsplatz Kostenki, 400 Kilometer südlich von Moskau am Fluss Don gelegen. Dort ist es den Forschern gelungen, die DNA aus dem Skelett eines jungen Mannes zu analysieren, der den Namen „K14“ erhielt.

Er lebte vor ungefähr 38 500 Jahren und war bei seinem Tod circa zwanzig Jahre alt. Er wurde in zusammengekrümmter Haltung begraben und war mit großen Mengen von rotem Ocker bedeckt.

Seine Mitochondrien-DNA gehört zur Gruppe U2 – einer Schwestergruppe meiner eigenen Haplogruppe U5. Heutzutage ist U2 ziemlich selten, kommt aber immer noch in ganz Europa sowie in Zentralasien und in Indien vor. Detaillierte Analysen der Kern-DNA dieses Mannes haben ergeben, dass er mit den heutigen Europäern verwandt ist. Er untermauert die Vorstellung, dass eine Menschengruppe aus Afrika vor ungefähr 55.000 Jahren in den Nahen Osten wanderte. Dort vermischten sich einzelne ihrer Mitglieder mit Neandertalern. Kurz darauf trennte sich die Gruppe. Einige wanderten weiter nach Osten, wo sie schließlich Südostasiaten und Australier wurden. Andere blieben im Nahen Osten und in Kaukasien. Und wieder andere wanderten in Richtung Europa. K14 gehörte eindeutig zu diesem letzten, dem europäischen Zweig.

Sein Grab mit dem gut erhaltenen Skelett wurde in den 1950er-Jahren entdeckt und schon bald darauf bemühten sich russische Wissenschaftler um eine Rekonstruktion seines Aussehens anhand der Knochen. Museen in Moskau, St. Petersburg und im Dorf Kostenki besitzen Kopien dieser Rekonstruktion.

Die Modelle zeigen einen schmächtigen jungen Mann mit breiter, gerader Nase, ungewöhnlich kräftigen Augenbrauen und vollen Lippen. Er war nur 160 Zentimeter groß und hatte einen auffallend kleinen Kopf. Seine breiten Zähne sind etwas abgenutzt, aber ansonsten gesund und makellos, mit einer kleinen Lücke zwischen den Schneidezähnen. In diesen Darstellungen hat er dunkles, krauses Haar und dunkle Haut. Das sind naheliegende Vermutungen, doch werden in keiner der bisher veröffentlichten DNA-Untersuchungen Details dieser Art erwähnt.

Aus der gleichen Periode stammende Funde aus der Umgebung verraten, dass Wildpferde die häufigste Jagdbeute der Menschen von Kostenki waren. In dem untersuchten Grab wurden außerdem einige Hasen- und Mammutknochen gefunden.

Da sich das Klima nach einem der eiszeitlichen Kälteeinbrüche neuerlich erwärmt hatte, wuchsen zu dieser Zeit allmählich wieder Gehölze in der Steppe auf, vornehmlich aus Weidenbäumen. Nach der schlimmsten Katastrophe der letzten Hunderttausend Jahre war das Leben in Europa wieder leichter geworden.

Das Auftreten von Eiszeiten hängt in erster Linie mit zyklischen Veränderungen der Umlaufbahn der Erde um die Sonne zusammen. Der Neigungswinkel der Erdachse kann variieren, die Achse kann in verschiedene Richtungen geneigt und die elliptische Form der Erdbahn kann mehr oder weniger stark ausgeprägt sein. Bestimmte Konstellationen, bei denen die nördlichen Breiten besonders wenig Sonne abbekommen, könnten eine neue globale Eiszeit auslösen. Diese Veränderungen nennt man nach dem serbischen Physiker, der sie zuerst beschrieb, die Milankovic-Zyklen.

Das Klima ist jedoch auch noch von weiteren Faktoren abhängig, sowohl global als auch regional. Ein solcher Faktor sind Vulkane, deren Aschewolken die Sonne verdunkeln und damit die Erde abkühlen.

Vor ungefähr 39 300 Jahren brach das Verhängnis in Form eines Vulkanausbruchs über die Gegend um Neapel herein. Dabei trat etwa achtzigmal so viel Lava aus wie bei dem bekannteren Ausbruch im Jahr 79 n. Chr., der die antike Stadt Pompeji verschüttete.

Die Eruptionswolke war vierzig Kilometer hoch. Die Asche verbreitete sich vor allem in östlicher Richtung, über das heutige Griechenland und Bulgarien, das Schwarze Meer und Russland. In Kostenki können die Archäologen deutlich eine dicke, von Asche dominierte Schicht erkennen, was ihnen die Datierung ihrer Funde erleichtert.

 

Aller Wahrscheinlichkeit nach verdunkelte sich der Himmel für einige Jahre, das Klima wurde kälter und der Boden war über weite Gebiete mit Asche bedeckt – vielerorts in dezimeterdicken Schichten, sodass die Tiere nicht mehr grasen konnten.

Einige Forscher glauben, dass dieser Vulkanausbruch den Neandertalern den Todesstoß versetzt hat. Es gibt viele Spuren von Neandertalern, die älter als 39.000 Jahre sind, aber keine gesicherten Belege jüngeren Datums. Eine These besagt, dass – im Gegensatz zu den Neandertalern – zumindest ein paar von uns modernen Menschen die Anpassung an die neuen, härteren Bedingungen nach der großen Katastrophe bewältigt haben. So sind zum Beispiel einige Wissenschaftler der Überzeugung, dass wir genau zu jener Zeit begannen, Nähnadeln aus Knochen zu verwenden. Diese revolutionäre Technik habe uns geholfen, Fellkleidung herzustellen, die warm und dicht war und es uns ermöglichte, die kältesten Jahre zu überleben.

Die ältesten bekannten Nadeln mit Öhr wurden in Kostenki und an zwei weiteren russischen Fundorten entdeckt: in Mezmaiskaya im Norden des Kaukasus und im Altai im südlichen Sibirien. Das Alter dieser Nadeln wird auf 35.000 bis 40.000 Jahre geschätzt.

Natürlich können uns Nadeln und gut gearbeitete, warme Kleidung von Nutzen gewesen sein, doch sind sie mit Sicherheit nicht die einzige Erklärung dafür, dass wir überlebten, während die Neandertaler ausstarben. Wir sollten nicht vergessen, dass die Neandertaler während mehrerer Eiszeiten viele harte Kälteperioden überstanden und sich immer wieder erholt hatten. Erst als wir modernen Menschen auf der Bildfläche erschienen, waren sie zum Untergang verdammt. Das Muster wiederholt sich an vielen Orten im Nahen Osten, im Kaukasus, in Sibirien und Europa. Die Neandertaler lebten dort jahrtausendelang, dann kamen wir und sie verschwanden. In einigen Regionen waren die Neandertaler schon verschwunden, bevor wir eintrafen. So stellt es sich in Hohle Fels dar. Andernorts lassen die Grabungen Überschneidungen von mehreren Tausend Jahren erkennen, während derer mehrere Gruppen gleichzeitig gelebt haben könnten – wenn auch in gebührendem Abstand voneinander. Außerdem gibt es Beispiele von Ausgrabungen, wo alle Neandertalerspuren abrupt aufhören und unmittelbar darauf Spuren von uns modernen Menschen sichtbar werden.

In der Nähe des Grabes von Kostenki und in Erdschichten aus derselben Periode haben Archäologen außer Nadeln auch eine Reihe anderer Gegenstände gefunden, die für das Aurignacien typisch sind: Werkzeuge aus Knochen und Horn, außerdem Steine, die von einhundertfünfzig Kilometer weit entfernten Felsen stammen.

Die Aurignacien-Menschen in Kostenki stellten auch Schmuckstücke aus Eckzähnen von Polarfüchsen und aus Schneckenhäusern her, die vom fünfhundert Kilometer südlich gelegenen Schwarzen Meer stammen. Sie fertigten sogar längliche Perlen aus Fuchs- und Vogelknochen mit spiralförmigen Rillenmustern an.

Ähnliche Perlen sind überall dort gefunden worden, wo die Aurignacien-Menschen ihre Spuren hinterlassen haben. Der Grabungsplatz Abri Castanet in der Dordogne in Frankreich war ehemals eine regelrechte Fabrik, wo Perlen aus Mammutzähnen, Rentiergeweihen sowie aus Speckstein in Serie hergestellt wurden. Speckstein kam lokal nicht vor, sondern muss aus der Gebirgskette der Pyrenäen, viele Kilometer weiter südlich, herangeschafft worden sein. Die Menschen in den Bergen der Dordogne schmückten sich auch mit Schnecken aus dem Mittelmeer und von der Atlantikküste. Entweder legten sie selbst Strecken von bis zu zweihundert Kilometern zurück, oder sie unterhielten gut ausgebaute Netzwerke, innerhalb derer sie Waren mit anderen Gruppen austauschten.

Mutmaßlich kamen die Aurignacien-Menschen über die Türkei aus dem Nahen Osten. Mit Sicherheit wanderten sie vor gut 43.000 Jahren an der Donau entlang nach Westen. Lassen wir einmal die Frage außer Acht, ob sie Flöten und Kunstgegenstände aus Elfenbein in ihrem leichten Gepäck hatten, auch wenn ich glaube, dass es sich so verhielt. Auf jeden Fall waren ihre Kleider mit Schmuck verziert.

Doch es lebten sogar noch früher anatomisch moderne Menschen in Europa – Menschen wie wir.

Die ältesten Hinterlassenschaften in Kostenki stammen vermutlich von Neandertalern. Aber in den letzten 45.000 Jahren scheinen die Gegenstände von modernen Menschen herzurühren. Diese Funde sind also bedeutend älter als der Mann aus Kostenki, dessen DNA untersucht wurde, und als alle anderen Funde aus der Kultur des Aurignacien.

Mindestens genauso alte Steinwerkzeuge – allem Anschein nach von modernen Menschen – wurden an einigen Orten im heutigen Ungarn und Tschechien entdeckt. Mutmaßlich unternahmen kleine Gruppen schon sehr früh Vorstöße nach Europa hinein, vielleicht schon vor 50.000 Jahren. Doch diese frühen Pioniere überlebten nicht. Erst mit der Kultur des Aurignacien erhielt Europa eine überlebensfähige Bevölkerung moderner Menschen.

Auch mehrere Funde aus Italien und Griechenland werden modernen Menschen zugeordnet. Die betreffende Kultur, das sogenannte Uluzzien, wurde in den 1960er-Jahren entdeckt. Viele Jahre lang hielt sich die Auffassung, dass deren Werkzeuge und Schmuckstücke von einer Gruppe ungewöhnlich weit entwickelter Neandertaler stammten. Die Steinwerkzeuge wirken wie eine eigenartige Mischform aus der Produktion von Neandertalern und von modernen Menschen. Unter den Fundstücken befinden sich auch als Schmuckanhänger durchbohrte Schneckenhäuser und Zähne, Reste roter Ockerfarbe und Werkzeuge aus Knochen.

Erst vor wenigen Jahren untersuchten italienische Wissenschaftler zwei Milchzähne aus der Höhle Grotta del Cavallo in Italien. Die Form dieser Zähne hat mittlerweile viele – wenn auch nicht alle – Experten davon überzeugt, dass sie tatsächlich einem modernen Menschen gehörten. Die Diskussion darüber geht weiter und DNAAnalysen liegen bislang nicht vor.

Vor ungefähr 39 300 Jahren verschwinden alle Spuren des Uluzzien. Höchstwahrscheinlich besteht ein Zusammenhang mit dem großen Vulkanausbruch, der gerade zu dieser Zeit ganz in der Nähe stattfand.

Bevor jedoch die Menschen dieser Kultur verschwanden, hatten sie ihr Umfeld maßgeblich verändert. Sie – oder andere Pioniergruppen moderner Menschen – führten neue Techniken in Europa ein.

Schon bald ahmten die Neandertaler sie nach.

Darüber hinaus existierte in Westeuropa noch eine weitere eigentümliche Kultur, die eine Mischform von Neandertalern und modernen Menschen zu sein scheint: das Châtelperronien, das in Nordspanien und Südwestfrankreich entdeckt wurde. Die Menschen dieser Kultur haben ihre Toten offenbar gelegentlich begraben – wenn auch in primitiver Form – und sie scheinen Schmuckstücke, Pfeile und auch Farbpigmente verwendet zu haben.

In der Forschung ist viel darüber gestritten worden, welche Menschen sich hinter dem Châtelperronien verbargen. Doch dank neuer und exakterer Methoden der Radiokarbondatierung ergibt sich jetzt endlich ein klareres Bild.

Alles deutet darauf hin, dass es sich um Neandertaler handelte, die moderne Menschen nachahmten. Von Neuankömmlingen in ihrer Gegend inspiriert, begannen sie Schmuck, Schminke und Wurfpfeile zu benutzen.

Die neuen und präziseren Radiokarbondatierungen sind an der Universität Oxford unter der Leitung von Tom Higham durchgeführt worden. Sie lassen darauf schließen, dass sämtliche europäischen Neandertaler erst vor 39.000 Jahren verschwanden. Zumindest gibt es keine gesicherten Belege für das Vorkommen von Neandertalern in jüngerer Zeit.

Die neuen Datierungen bestätigen jedoch auch, dass Neandertaler und moderne Menschen jahrtausendelang in Europa koexistiert haben müssen. Die Neandertaler hatten also reichlich Zeit, sich Neuerungen abzugucken.

Der Leipziger Paläontologe Jean-Jacques Hublin ist wie gesagt davon überzeugt, dass die beiden Gruppen einander skeptisch gegenüberstanden und so viel Abstand voneinander hielten wie möglich. Er glaubt aber auch, dass sie einander manchmal aus der Ferne beobachteten. So konnten die Neandertaler sehen, dass die modernen Menschen Pfeile benutzten, die sie nach ihrer Beute warfen – eine geniale Erfindung, die die Jagd sowohl sicherer als auch effektiver machte. Die herkömmliche Vorgehensweise bestand darin, auf das Tier zuzulaufen und es abzustechen. Das hatten die Neandertaler mehrere Hunderttausend Jahre lang praktiziert. Natürlich war das lebensgefährlich, doch eine bessere Methode war ihnen nicht bekannt. Die Funde aus dem Châtelperronien belegen, dass sie ganz plötzlich, just als die modernen Menschen in Europa ankamen, begannen Wurfpfeile zu benutzen. Die Pfeile der Neandertaler waren den Waffen der modernen Menschen sehr ähnlich und konnten auch genauso verwendet werden. Ihre Steinwerkzeuge stellten die zwei Gruppen jedoch auf unterschiedliche Weise her. Diese Tatsache bestärkt Jean-Jacques Hublin in seiner Auffassung, dass die Neandertaler moderne Menschen aus der Ferne nachahmten und nicht etwa mit ihnen verkehrten. Unter Umständen könnte er sich vorstellen, dass sie bei seltenen Gelegenheiten Waren miteinander austauschten. Das würde erklären, warum die Fundschichten der Neandertaler Perlen enthalten, die an den Schmuck der modernen Menschen erinnern.