Einer der auszog, um reich zu werden

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Am ersten Neujahrstag bleiben die Chinesen meist zuhause, denn der Aberglaube behauptet, wer andere Familien besucht, dem fließt das Geld ab und geht zu diesen über. Und wer gibt schon gern Geld an andere ab? Bleibt man dagegen zuhause, wird das »Shou Cai« genannt, das Vermögen schützen und halten.

Trotzdem fahren Hong und ich mit der neuen Metrolinie, die zur Wertsteigerung des elterlichen Hauses beigetragen hat, in die Stadt, um dort im herrlichen Sonnenschein am Fluss spazieren zu gehen. Der Weg am Fluss ist eine Fußgängerzone, nur Einheimische fahren dort mit dem Elektro-Moped oder dem Auto in den engen Gassen. Die Bauern verkaufen ihre Waren hauptsächlich an Touristen, aber bei den kleinen Straßenständen können Hong und ich nicht widerstehen und gönnen uns Tofu-Suppe, gegrilltes Lammfleisch am Spies und Fladenbrot. Auf dem Rückweg fahren wir mit dem Boot durch den Kanal, nehmen die Metro und kommen so rechtzeitig wieder heim, wo wir von Hongs Eltern schon zum Abendessen erwarten werden.

Nach einer weiteren Übernachtung bei den Schwiegereltern besuchen Hong und ich ihre sehr alten Großeltern und die Kinder der Cousinen und Cousins und übereichen jedem einen Hongbao, denn es ist Tradition, dass Paare den Verwandten mit Kindern Geld schenken. Zum Glück wohnen alle in der Nähe und es sind nicht viele Besuche, denn die Wohnungen sind ungemütlich kalt.

Hongs Eltern haben bereits die Verwandten väterlicherseits, die bei unserer großen Hochzeitsfeier in China natürlich auch dabei gewesen waren, mit Hongbaos beschenkt, so können wir uns entspannt zurücklehnen. Hong knüpft an den Wink ihrer Eltern an und meint in ihrer überaus hervorstechenden Logik, solange wir keine Kinder hätten, gäben wir nur Geld aus, wenn wir aber welche hätten, bekämen wir auch wieder welches zurück.

Der zweite Neujahrstag hat noch eine weitere Bedeutung: Schwiegersohn-Tag. An diesem Tag sollte ich die Familie meiner Frau besuchen. Glücklicherweise bin ich ja bereits da, so dass dieser Punkt ohne größeren Aufwand schon abgehakt ist.

Am dritten Neujahrstag fährt Hong morgens mit mir und ihren Eltern zum Wetland Park am Taihu Lake. Wir gehen dort wandern und machen eine Bootsfahrt. Es regnet nicht, aber es hängt schwerer, kalter Nebel in der Luft. Nichtsdestotrotz wollen wir unseren Ausflug genießen und fahren weiter zu den heißen Quellen. Dort sind verschiedene Quellen unter einer riesigen beheizten Kuppel untergebracht und man kann in ihnen baden. Wir begeben uns zum Empfang, doch unsere Pechsträhne will nicht abreißen, denn wir erfahren, dass wir ohne Reservierung keine heißen Quellen zu sehen bekommen. Ich schaue meine Begleiter an … wer hatte diese nutzlose Idee?

Uns bleibt nichts anders übrig, als nach Hause zu fahren, ohne das warme Wasser genießen zu können. Aber mir ist das ganz recht, schließlich ist es sehr voll hier und Hong ist auch noch erkältet.

Auf der Rückfahrt am Nachmittag läuft plötzlich ein Hund auf die Straße vor unser Auto. Hong kann diesem Vierbeiner trotz roter Unterwäsche nicht mehr ausweichen und überfährt ihn. Das sei schon der zweite Hund in ihrem Leben, den sie auf dem Gewissen habe, jammert sie. Ihren eigenen Hund hatte sie damals nicht angeleint, deshalb war er weggelaufen und überfahren worden.

»Das kann kein gutes Jahr werden, wenn uns schon kurz nach CNY solch ein Unglück passiert! Wir sollten in diesem Jahr lieber keine Kinder bekommen!«, bemerkt sie mit einem Stirnrunzeln.

Ich muss ein Schmunzeln unterdrücken und werfe einen Seitenblick auf Hongs Mutter, die neben mir auf der Rückbank sitzt. Sie ist sichtlich nicht begeistert.

Wir stellen fest, dass die Plastikteile und Lampen an der Frontseite des Autos stark beschädigt wurden. Hoffentlich übernimmt die Versicherung den Schaden.

Normalerweise stehen in China wie auch auf der ganzen Welt die Frauen in der Küche. In Hongs Elternhaus sind die Rollen seit Jahrzehnten umgekehrt verteilt: Wie immer kocht Li Gengnan ein leckeres chinesisches Abendessen. Nach der Tradition dürfen dabei die kleinen runden Reiskuchen – der aufmerksame Leser kennt sie als Nian Gao – nicht fehlen.

Anschließend skype ich mit Daniel, denn ich habe Fragen zum Erstellen einer Homepage, die Daniel aus dem Stegreif beantworten kann. Sollte er auch, denn er studiert Medieninformatik in Augsburg und hat zwischen den Semestern für eine deutschen Firma Webseiten erstellt. Dieses Wissen kommt mir jetzt zugute. Ich nutze die Gelegenheit und frage nach einem gemeinsamen Urlaub in Thailand, den mein Sohn dankend ablehnt, es sei zu gefährlich dort, liest man ja überall. Hong meint dazu, Daniel sei mit der Welt verbunden und kenne sich aus. Im Gegensatz zu mir als Deutschem kritisieren Chinesen keine anderen Leute, sondern umschreiben alles positiv, um die Harmonie der Beziehungen aufrecht zu erhalten.

Ich bin anderer Meinung als Daniel, sage aber nichts. Mein Aufenthalt auf einer Ferien-Insel in Thailand vor ein paar Jahren war sehr schön und ich fühlte mich nicht gefährdet.

Ich habe mir ein Ziel ausgesucht und versuche, Hong davon zu überzeugen: »Was hältst du von einem Strandurlaub in Pattaya, einem großen Touristenort für Ausländer, zwei Autostunden südlich von Bangkok? Ich habe vor Jahren über Alan und Michael eine Wohnung dort angezahlt, doch das Projekt geht schon ewig nicht vorwärts. Wir erholen uns am Strand und machen einen Ausflug dorthin, damit ich mal nach dem Rechten schauen kann. Es lohnt sich auch für dich, denn die Wohnanlage liegt auf einem Berg mit Blick zum Meer.«

Hong ist mit meinem Vorschlag einverstanden, denn sie will auch sehen, wo ich mein Geld angelegt habe, und bucht nachts trotz Daniels Warnung den Urlaub in Thailand über ein chinesisches Reisebüro. Sie holt ihre Kreditkarte, um die Reisekosten zu überweisen, doch die Bezahlung klappt nicht. Hong schlägt wütend mit der Faust auf die Tastatur, als ob das ihr Problem lösen würde … Interessanterweise tut es das tatsächlich, denn beim erneuten Versuch läuft alles reibungslos. Ich nehme mir für diesen Urlaub die zehn Tage frei, die mir die Firma nach dem gesetzlichen Arbeitsgesetz für meine Heirat gegeben hat. Eigentlich hätte ich nur drei Tage bekommen dürfen, da ich schon einmal verheiratet war. Vielen Dank an die Personalabteilung, die das nicht bemerkt hat. In diesem Bereich sind die Chinesen sehr großzügig mit zusätzlich geschenkten Urlaubstagen, in Deutschland bekommt man im Allgemeinen einen Tag Sonderurlaub für die Hochzeit, den Rest muss man von seinem Jahreskontingent bestreiten. Aber der Staat macht das natürlich nicht ganz ohne Hintergedanken. Er erhofft sich davon, dass die Leute früh heiraten und Kinder zeugen, denn diese braucht China wegen der leeren Rentenkasse dringend.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, muss ich an den chinesischen Kaiser im deutschen Dietfurt, nahe Eichstätt in Bayern, denken. Manchmal kommen mir solche spontanen Gedanken und ich erzähle Hong die Geschichte, wie sich die Dietfurter Bevölkerung unter der Mauer versteckt hat, als der Bischof von Eichstätt Steuern eintreiben wollte. „Feige wie die Chinesen“, schimpfte da der Bischof und seither regiert dort zum Spaß ein chinesischer Kaiser mit Konkubinen und Kutsche, nicht nur zum jährlichen Karneval.8

Draußen ist es jetzt kalt und nass, morgen soll es laut Wetterbericht wieder einmal schneien. Ich will eine Bank aufsuchen, um mein Erspartes zinsbringend anzulegen. Obwohl die chinesischen Banken auch an Feiertagen geöffnet haben, rät mir Hong von einem Bankbesuch vor dem ersten offiziellen Arbeitstag nach CNY ab, da die Zinsen erst ab diesem Tag berechnet werden.

Im nächsten Augenblick zieht sie schmerzvoll das Gesicht zusammen. Während ihrer Regel, die heute eingesetzt hat, leidet sie immer unter schweren Bauschmerzen. Aber sie steckt das gut weg und holt ihr Handy hervor, um mir eine neue App zu präsentieren, die angibt, wann die beste Zeit fürs Kinderzeugen ist … oder wann man besser vorsichtig sein sollte, wenn man noch nicht bereit für Kinder ist. Sie ist vollauf begeistert, da die Eintragungen in der App genau mit ihren Daten übereinstimmen.

Schon wieder dieses leidige Thema, schießt es mir durch den Kopf. Sie meinte doch, dieses Pferdejahr wäre nach dem Unfall mit dem Hund kein gutes Jahr zum Kinderkriegen! Zudem ist es verwunderlich, dass Hong nun doch über Kinder nachzudenken scheint, weil sie ja in China keine Kinder großziehen will. Ich werde herausfinden, ob meine Schwiegereltern dahinterstecken oder ob es ihr eigener Wunsch ist. Vielleicht fragt ja auch mal jemand mich …

In der Nacht zum fünften Tag nach Neujahr beginnt wieder ein ohrenbetäubendes Pfeifen der noch übrig gebliebenen Feuerwerkskörper zu Ehren des Gottes des Vermögens, um gebührend in dessen Geburtstag reinzufeiern. Als Europäer dürfte man sich jetzt über diese Gottverehrung wundern, da Religionen in China ja eher nicht so gern gesehen sind. Tatsächlich glauben viele Chinesen an Buddha und den Taoismus, in dem es viele verschiedene Götter gibt. Neben dem bereits erwähnten Gott des Vermögens kann man zum Beispiel auch einem Heiratsgott huldigen und der Guanyin-Pusa-Göttin9, die Kinder schenkt, zur Welt bringt und betreut.

In diesem Jahr fällt der Geburtstag meines Schwiegervaters genau auf diesen Tag, so dass wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können, wie man so schön sagt. Welch ein Glück. Von Hong erfahre ich, dass jeder Chinese grundsätzlich entsprechend des Mondkalenders an CNY ein Jahr älter wird. So gesehen hat jeder Chinese zwei Geburtstage, aber bei der älteren Generation werden erst ab einem Alter von vierzig Jahren runde Geburtstage gefeiert. Die Jüngeren richten sich nach dem westlichen Kalender und begehen diesen Tag jedes Jahr am selben Datum.

 

Irgendwann stehe ich auf und checke meine E-Mails. Tatsächlich wurde mir am Neujahrstag aus Deutschland eine Nachricht mit der Bitte um eine Kalkulation geschickt und gestern kam eine Nachfrage, ob diese Kalkulation gemacht sei. Wer lesen kann, ist klar im Vorteil, denn ich habe den Abwesenheits-Assistenten meines E-Mail-Programms mit der Bemerkung gefüttert, dass ich bis zum siebten Februar abwesend sein werde.

Meine Frau erscheint etwas verschlafen an der Tür und erinnert mich an den Geburtstag ihres Vaters, für den sie noch Blumen kaufen möchte. Natürlich fragt sie, welches Geschenk ich denn für meinen Schwiegerpapa hätte. Ich muss nachdenken, denn wenn ich ehrlich bin, habe ich das irgendwie verschwitzt. Dann fällt mir die graue Jacke aus Deutschland ein, die ich nicht mag, und will von Hong wissen, ob die es auch tun würde. Eigentlich braucht Li Gengnan eine Eieruhr und Eierbecher für die Küche, auch Flaschenverschlüsse fehlen. Das alles an diesem Feiertag noch zu besorgen, wäre an sich kein Problem, da in China gerade an Feiertagen viele Geschäfte geöffnet haben. Das wird von den Chinesen gern ausgenutzt, jedoch haben wir dafür keine Zeit mehr, denn die Geburtstagsfeier beginnt schon um elf Uhr mit einem gemeinsamen Mittagstisch. Widerwillig werfe ich mich in Schale, die aus meinem Geschäftsanzug mit Krawatte besteht, und fahre mit Hong zum Blumenladen um die Ecke. Nebelschwaden und die Reste der explodierten Knallkörper von der Nacht hängen noch in der Luft.

Als wir wieder bei den Schwiegereltern ankommen, sitzen schon einige Gäste im Wohnzimmer auf der Couch. Hong steckt mir noch schnell die roten Umschläge mit den Geldscheinen zu, die ich an die Kinder übergebe. Alle bedanken sich brav, dann fährt die Autokarawane los. Das Restaurant ist zwar gleich um die Ecke, aber man nimmt ja Rücksicht auf die älteren Leuten. Dass die Bequemlichkeit der restlichen Verwandtschaft auch keine geringe Rolle spielt, wird natürlich dezent verschwiegen. Hong und ich überreichen direkt im Restaurant den Blumenstrauß und die graue Jacke, denn es sollen ja alle mitbekommen, was wir schenken. Wie überall auf der Welt sind die Geschenke auch hier nicht an Regeln gebunden und hängen vom Vermögen ab. So freut sich ein Kind in ärmeren Familien über Stifte oder ein Buch, während die Geschenke in vermögenderen Familien preislich höher ausfallen. Ich setze mich meist über die übliche Vorgehensweise, die Geschenke erst auszupacken, wenn die Gäste gegangen sind, hinweg und frage, ob ich gleich hineinschauen darf. Ich finde es persönlicher, sich per Handschlag und nicht per Telefongespräch zu bedanken.

Es gibt eine weitere Regel, die uns Europäern befremdlich erscheint. In China ist traditionell jeder, der eingeladen wird, dazu verpflichtet ein Geschenk zu überreichen, auch wenn er nicht zu der Feier kommen kann. Vorsorglich wird insbesondere bei Geschenken an Kinder die Quittung mit dem Preis beigelegt, denn so können wir sicher gehen, dass wir, wenn wir später Kinder haben, ein Geschenk im selben Wert erhalten.

Drei Stunden lang spielen und schreien die Kinder, die Erwachsenen tanzen und singen leidenschaftlich Karaoke, was die mitgebrachten Flaschen Reisschnaps, die nun größtenteils geleert sind, sehr erleichtern. Die Reste des Essens werden eingepackt und mit nach Hause genommen.

Am Abend nutzen wir den Besuch von anderen Verwandten und Freunden, um weiter essen zu können. Im Anschluss spielen Hong, ihr Vater und zwei seiner Bekannten Mahjong, auf Chinesisch übrigens májiàng.

»Es ist verwunderlich, dass es ein Spiel für 4 Personen ist. Ist 4 nicht die Todeszahl, die man in China immer versucht zu vermeiden?«, frage ich Hong

»Es geht nur darum, dass nur eine gerade Anzahl von Personen spielen kann.«

Ich bin aus zwei Gründen Zaungast: Ich kenne die Regeln nicht und fünf sind einer zu viel bei diesem Spiel. Wang, einer der Bekannten, ist ein alter Armeefreund Li Gengnans aus der Zeit, als beide noch in Nordchina gedient haben. Er wohnt jetzt im Tempel in Suzhou, also ganz in der Nähe, und arbeitet als Fahrer in einer deutschen Firma, die ich auch kenne. Er ist Buddhist, isst also kein Fleisch, und lebt mit den Mönchen zusammen.

»Der einzige Unterschied zwischen Wang und einem Mönch sind die Haare. Der Mönch hat keine mehr«, bemerkt Hong belustigt.

Als Li Gengnan sich ein neues Bier aufmachen will, entdeckt er, dass es schimmlig ist. Der Grund ist schnell gefunden, denn eine Fliege wurde mit abgefüllt. Mit dem deutschen Reinheitsgebot wäre das nicht passiert!

Da das Zuschauen langsam langweilig wird, gehe ich ins Wohnzimmer und schaue mir die vielen Geburtstagsgeschenke an. Etwas ungewöhnlich für einen Deutschen, denn es gibt Kiwis, Äpfel und andere Obstsorten. Nüsse sind auch dabei, alles sehr hochwertig, teuer und hübsch verpackt. Ein zweiter Blumenstrauß ist auch dabei.

Hong gesellt sich zu mir und macht mich darauf aufmerksam, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, ihr das richtige Rückwärtseinparken am Bordstein beizubringen. Ich habe mir abgewöhnt, mich über Hongs Sprunghaftigkeit zu wundern und so gehen wir zusammen in die kalte Nacht hinaus und setzen uns in den alten VW Jetta von Li Gengnan. Ich erkläre ihr die einzelnen Schritte und es klappt gleich beim ersten Versuch. Hong ist begeistert und meint, ich könne Fahrlehrer werden.

»Ja klar, aber nur um schönen Frauen das Einparken beizubringen. Hey, was denkst du? Ist das eine Marktlücke?«, necke ich sie.

Sie stößt mich verärgert in die Seite, beginnt dann aber auch zu lachen und gibt mir einen Kuss.

Perfekt, denke ich, jetzt muss ich ihr nur noch Billardspielen und Tanzen beibringen!

Die Nacht war wieder sehr kalt. Am Morgen unter der Dusche warte ich vergeblich auf warmes Wasser. Dann dämmert es mir langsam. Wie auch im Westen steht die Farbe »rot« für warm, die Farbe »blau« für kalt. Das habe ich in meiner Schlaftrunkenheit nicht bemerkt, ich bin einfach noch nicht wach genug. Trotz allem gönne ich mir einen gedanklichen Ausflug in die Farbengeschichte Chinas. Bereits vor etwa zweitausend Jahren v. Chr. entstand im Daoismus die Theorie der Fünf Elemente, zu denen Holz, Feuer, Metall, Wasser und Erde zählen, wobei die Bedeutung dieser Elemente einem dynamische Wandlungsprozess unterliegen und so immer wieder anderen Merkmalen oder Eigenschaften zugeordnet werden. Zur Geburt der Theorie wurden die Elemente mit Himmelsrichtungen verknüpft und da es nur vier Himmelsrichtungen gibt, erhielt die Mitte auch einen Platz. Bis heute folgten unendlich viele Zuordnungen wie Formen, Jahreszeiten, der Mittsommer darf hier als Nummer fünf mitmischen, Planeten, Tiere und eben Farben. Sogar Geschmacksrichtungen sowie Lautäußerungen und Körperflüssigkeiten werden berücksichtigt. Aber nun zu den Farben. Feuer mit rot und Metall mit weiß/grau sind da für Europäer noch die logischen Verbindungen. Gelb als Erde ist noch halbwegs nachvollziehbar, bei Wasser mit schwarz und Holz mit (grün-)blau wird es da schon schwieriger. Die rote Farbe, wie wir ja bereits wissen, steht für Reichtum und Freude, daher findet die Regierung wohl auch Gefallen daran und nutzt sie ausgiebig. Auch Grün wird mit Reichtum assoziiert, aber auch mit Harmonie und Gesundheit, was uns Europäern nicht so weit hergeholt erscheint. Allerdings ist Vorsicht geboten, wenn ein grüner Hut ins Spiel kommt, denn der symbolisiert Seitensprung, Treulosigkeit und einen betrogenen Ehemann. Gelb steht für Neutralität und Glück und gilt als schönste und prestigeträchtigste Farbe, daher sind des Kaisers neue Kleider, und auch Paläste, Altäre und Tempel, nicht unsichtbar sondern gelb. Schwarz ist die Farbe des nördlichen Himmels und wurde als Farbe der Könige und als beständige Farbe verehrt. Neben Helligkeit und Reinheit wird Weiß auch mit Tod und Leiden in Verbindung gebracht und hauptsächlich bei Beerdigungen getragen.10

Zum Frühstück wartet »yan wo« auf mich, eine teure Spezialität der traditionellen chinesischen Medizin, in Deutschland unter dem Begriff „Schwalbennester“ bekannt. Wenn man bedenkt, dass es sich hierbei um getrockneten Schleim von Vögeln handelt, der mit heißem Wasser aufgegossen wird, wird man unweigerlich daran erinnert, dass gute Medizin angeblich nicht schmeckt. Der Preis schwankt abhängig von der Qualität, bei dem chinesischen Online-Auktionshaus Taobao werden fünf Gramm für knapp einhundertneunzig RMB, rund fünfundzwanzig Euro, angeboten. Ob es hilft, bleibt abzuwarten.

Aus einer Nachbarwohnung dröhnt laute Musik. Das Verhältnis meiner Schwiegereltern zu den Anwohnern ist recht gut. Die meisten sind Rentner oder Frauen, die zuhause arbeiten, man sieht und hört sich regelmäßig. Auch meine Frau hat hier viele Jahre gelebt und dadurch ebenso gute Beziehungen aufgebaut.

Am Frühstückstisch diskutieren wir gerade das Thema „Neuer CEO bei Microsoft“. Da es sich um einen Inder handelt, glauben die Chinesen, Indien habe nun das Silicon Valley erobert. Eins kommt zum anderen und auch der Kauf von neun Roboterfirmen durch Google wird angesprochen. Hong meint, Roboter werden in Zukunft auch kochen, putzen und sogar Kinder betreuen.

Ich zucke zusammen, denn das Wort „Kinder“ könnte bei meinen Schwiegereltern wieder eine neue Tirade zum Objekt ihrer Begierde namens „Enkelkinder“ heraufbeschwören. Bis zum Abendessen halten sie stillschweigend durch, dann bahnt es sich einen Weg an die Oberfläche. Aber diesmal bin ich gar nicht so böse darüber, denn ich erfahre etwas mehr aus der Lebensgeschichte meiner Frau. Hongs Entstehung war alles andere als ein romantischer Akt. Li Gengnan war beim Militär, so die altbekannte Geschichte, und als er einen Monat auf Heimaturlaub war, heiratete er ohne viel Federlesen. Kurz darauf war Wu Meilan mit Hong schwanger. Ganz genau genommen verdankt sie ihr Leben dem Parteiführer Mao Zedong, denn er sagte die Eroberung Taiwans kurz vor der Bestürmung ab und rief damit das Kriegsende aus. Alle, die sich bis dahin durchgekämpft hatten, blieben am Leben und so konnte sich Hongs Großvater um Nachwuchs kümmern. Aber damit waren die Glücksmomente der Familie noch nicht beendet, denn kurz bevor Hongs Eltern Ende 1970 geheiratet hatten, war Li Gengnan an der Grenze zu Russland stationiert und stand mit Tausenden anderen kurz vor einem Krieg mit Russland. Zur Erleichterung aller wurde der Konflikt durch Verhandlungen gelöst und auch er konnte der Tradition folgen, eine eigene Familie zu gründen.

Auch die Ein-Kind-Politik wird nicht unter den Tisch gekehrt, denn sie hat verhindert, dass Hong Geschwister bekam. Zum Glück ist das mittlerweile etwas aufgelockert worden. Die allgemein bekannte Tatsache, dass Mädchen nicht unbedingt auf dem Zeugungswunschzettel stehen, liegt in der chinesischen Kultur begründet. Im Gegensatz zu Deutschland, wo mittlerweile auch der Name der Frau als Familienname angenommen werden kann, geben in China allein die Männer den Namen weiter. Zudem werden Grundstücke und Felder durch die Gemeinde nur an sie verteilt. Traditionell haben Mädchen kein Erbrecht und sämtliches Vermögen bekommen die Söhne, obwohl das Gesetz inzwischen etwas anderes sagt. Mit all diesem Wissen bin ich meinen Schwiegereltern sehr dankbar, dass sie schon damals moderne Ansichten vertraten und mit den weit verbreiteten Praktiken zur Geschlechterselektion gebrochen hatten.

Am letzten Urlaubstag fahren wir beide nach Taicang, schauen aber vor der Rückkehr in unser Haus noch bei der lokalen Bank of Suzhou vorbei. Vielleicht lohnt es sich ja, ein Konto zu eröffnen und mein Gehalt, dass in den letzten Monaten auf dem Girokonto der ICBC Bank eingegangen war, hier als Festgeld mit gutem Zinssatz anzulegen, doch wir haben die Bürokratie der chinesischen Bank unterschätzt. Für die Kontoeröffnung muss ich mehrere Dokumente ausfüllen und handschriftlich in Chinesisch bestätigen, dass ich das Kleingedruckte zur Kenntnis genommen habe. Die Bankangestellte erklärt uns anschließend, dass Geldeinzüge von anderen chinesischen Banken mit ausländischem Namen von dieser Bank aus nicht so einfach getätigt werden können, da die Apparate nicht darauf ausgelegt seien. Besser wäre es doch, das Geld bei der anderen Bank im Gebäude nebenan abzuheben und hier in bar einzuzahlen. Ich erinnere mich daran, dass ich dies doch schon mal vor zwanzig Jahren so gemacht habe. Damals war eine Online-Überweisung nicht möglich. Hat sich die Welt seither nicht weitergedreht?

Mir ist das Ganze zu aufwendig, doch Hong erklärt mir, Bargeld von der einen Bank abzuheben und bei der anderen Bank einzuzahlen, ist hier noch gang und gäbe, um Überweisungskosten zu sparen und Bürokratie zu vermeiden. Mittlerweile ist es kurz nach drei Uhr und die Bankangestellte weist uns darauf hin, dass die anderen Banken schon geschlossen sind. An Geldautomaten gibt es eine Höchstgrenze von 20.000 RMB, was in etwa 2.750 Euro entspricht, also verwerfe ich diese Idee gleich wieder.

 

Jetzt bleibt mir nur noch die Online-Überweisung, doch auch diese Möglichkeit ist mir verwehrt, denn alle Online-Überweisungen in China laufen über eine Zentralstelle der Bank of China in der Hauptstadt Beijing und die sind ausgerechnet heute noch alle im Urlaub.

Hong sieht es gelassen und versteht mein Problem nicht. »Morgen ist der erste offizielle Arbeitstag nach dem CNY, da kannst du die Überweisung ausführen.«

Draußen ist es immer noch kalt. Da wir außer den harten chinesischen Kiwis, die Hongs Eltern uns mitgegeben hatten, nichts weiter zu essen zuhause haben, gehen wir zum chinesischen Grill, einem BBQ-Restaurant. In solchen Restaurants herrscht immer großer Andrang und wir müssen wie üblich eine Nummer ziehen, um einen Sitzplatz zu bekommen. Auf der Toilette treffe ich einen Chinesen, der mir erzählt, er wohne in Australien und sei extra zum chinesischen Neujahrsfest hergekommen. Manchen sind Traditionen offenbar sehr heilig.

Als ich den rohen Fisch auf die Grillplatte legen will, nimmt Hong mir das Besteck samt Fisch aus der Hand und meint, nur Frauen beherrschten diese Arbeit, Männer könnten nur essen, saufen und schlafen. Hong will mich wieder einmal provozieren, denn sie sollte es besser wissen, da in ihrem Elternhaus immer ihr Vater in der Küche steht.

Ich murmle vor mich hin: »Ein Fisch am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen, aber ein Fisch am Abend …«

Hong hat es gehört und dichtet zu Ende: »… dann schläft man gut«. Es reimt sich nicht und ergibt keinen Sinn, aber das macht Hong überhaupt nichts aus.

Ich zahle mit Bankkarte und gebe am Tisch meine Geheimzahl ein. Hong rügt mich dafür, dass die Bedienung die Geheimzahl erkennen konnte.

»Na und?«, erwidere ich.

»Vielleicht hast du schon mal davon gehört, dass Bankkarten gefälscht werden?«, kontert sie schnippisch. »Jetzt kennt die Kellnerin deine Kontodaten und die PIN. Wenn die dein Konto leerräumen, siehst du das Geld nie wieder!«

»Soll ich jetzt zur Bank gehen und die Geheimzahl ändern lassen? Sollte das mittlerweile nicht online möglich sein?«, frage ich genervt zurück. Bei meiner Bank in Deutschland gibt es diese Option im Online-Banking. Mir wird klar, dass das nicht geht, weil ich noch kein funktionierendes Online-Bankkonto habe. Bisher hat Hong alle notwendigen Überweisungen von ihrem Onlinekonto getätigt, daher habe ich mich noch nicht um ein eigenes Onlinebanking gekümmert. Der Aufwand mit der Bank ist mir zu viel und das Essen ist so lecker, dass ich die Angelegenheit einfach vergesse.

Eine Steuerquittung, in China Fapiao genannt, gibt es heute noch nicht. Erst in zwei Wochen, denn das Restaurant ist brandneu und die Lizenz der Behörden steht noch aus. Das ist zwar illegal, aber in China nimmt das niemand so genau. Glück für uns, so müssen wir nicht hungrig ins Bett gehen.

Als wir nach Hause kommen, ist die Wohnung wieder ziemlich ausgekühlt, weil Hong die Klimaanlage ausgeschaltet hat. Ich frage mich, was wohl günstiger wäre: die Wohnung jetzt wieder von 13 Grad auf 20 Grad hochzuheizen oder das Gerät einfach bei 20 Grad laufen zu lassen.

Hong sieht das pragmatisch: »Ist doch klar: Die Heizung anderthalb Stunden für umsonst laufen zu lassen, ist auf jeden Fall viel teurer! Du kannst von uns Chinesen noch viel über das Sparen lernen«. Chinesen seien echte Sparkünstler, referiert Hong weiter, sogar heißes Abwasser würde verkauft, es könne direkt bei den Fabriken wie Stahlwerken, die Wasser zur Kühlung ihrer Maschinen nutzen, bestellt werden. Das so erwärmte Wasser würde mit LKWs zu den Kunden, meist öffentliche Badeanstalten, transportiert und alle profitierten davon. Mich erstaunt, dass Kaufpreis und Transportkosten offenbar unter den Heizkosten für das Wasser liegen und sich das Ganze tatsächlich rentiert.

So viel zur Wasserqualität! Ich überlege unwillkürlich, wie oft ich in China schon in diesem Brackwasser gebadet habe. Ist es vielleicht sogar radioaktiv?

Mit einer noch absurderen Sparidee reißt mich Hong aus den Gedanken: »Wenn du richtig Geld sparen willst, dann mach die Heizung aus und zieh warme Kleidung an.«

Frauen haben doch sowieso immer das letzte Wort, in China erst recht. Wir werden uns wahrscheinlich noch oft über dieses Thema streiten, die Mentalitäten sind einfach zu verschieden. Ich möchte zwar auch sparen, aber doch nicht auf Kosten unserer Gesundheit.

In der Nacht können wir beide vor lauter Sodbrennen nicht schlafen. Entweder haben wir viel zu viel gegessen oder in dem Grillgewürz war mal wieder zu viel Glutamat. Die Wahrscheinlichkeit, dass beides zutrifft, ist sehr hoch.

Am nächsten Morgen, dem ersten Arbeitstag nach dem chinesischen Neujahrsfest, haben wir immer noch Sodbrennen. Auch das Wetter sympathisiert mit uns, denn es regnet in Strömen. Leider muss ich heute nach draußen, denn ich habe mich von meiner Frau überreden lassen, den umständlichen Weg für den Geldtransfer zu gehen. Hong holt unseren Fahrer ab, sie wechseln die Sitzplätze und wir machen uns auf den Weg. Pünktlich zur Schalteröffnung halb neun heben wir zwei große Bündel Geldscheine ab und zahlen es bei der anderen Bank ein. Die Zählmaschine scheint auch noch im Urlaub zu sein, denn sie hat sich verrechnet. Der Bankangestellte zählt nun die Scheine solange von Hand nach, bis alles stimmt. Danach folgt der obligatorische Formularkrieg. Ich staune immer wieder, wie viele Formulare man unterschreiben muss, um etwas Geld einzuzahlen, da unterscheidet sich China nicht von Deutschland. Immerhin fallen die Zinsen für Neukunden heute ein kleines bisschen höher aus als in den letzten Tagen.

Nach dem Stress in der Bank muss Hong schnell weiter in das thailändische Konsulat in Shanghai, um ein Visum für den gemeinsamen Urlaub zu beantragen. Als Deutscher darf ich visumfrei in Thailand einreisen, wenn ich bei der Einreise ein gültiges Rückreiseticket vorweisen kann. Da die Vertretung bereits halb zwölf mittags die Tore schließt, ist Eile geboten. Ich fahre ein Stückchen bis zur Firma mit und dann lasse ich Hong mit dem Fahrer allein.

Als ich gegen halb elf im Büro im zweiundzwanzigsten Stock ankomme, ist es kalt. Von meinen Kollegen erfahre ich, dass die Zentralheizung im Gebäude noch ausgeschaltet und die Kantine im fünften Stock auch geschlossen ist. Die Verwaltung will wohl nur Miete kassieren, aber die Betriebskosten sparen! Die meisten Angestellten kommen erst am nächsten Montag oder einfach nur etwas später zur Arbeit. Mein amerikanischer Chef ist auch da und wir unterhalten uns über das Budget und die weiteren Kostenreduzierungsmaßnahmen. Mittags laufen wir ins Restaurant nebenan und er bezahlt. Er hat den typischen Gang eines Seemannes und bringt mich damit immer zum Schmunzeln. Anschließend habe ich bis sechs Uhr abends ein Meeting mit meinem Mitarbeiter Dr. Zhang, um die Kalkulationstermine der Unternehmenszentrale in Deutschland zu erfüllen.

Zuhause erzähle ich Hong von meinem Mittagessen im Restaurant mit meinen Geschäftsfreunden. Als ich dort erwähnte, dass ich nur E-Mail und Skype zur Online-Kommunikation benutzen würde, haben sie mich ausgelacht. Ich sei »out«, denn heute hat doch jeder das chinesische WeChat oder WhatsApp.

Hong hat natürlich beides auf ihrem Handy. »Du bist sowieso immer zu beschäftigt, um dich darum zu kümmern. Wusstest du, dass es zum guten Ton gehört, eine WhatsApp-Nachricht innerhalb von vier Minuten zu beantworten? Bei manchen Unternehmen sind Service und Vertrieb ohne WhatsApp gar nicht mehr denkbar. Wenn du eine Firma hast, brauchst du jemanden, der sich in Vollzeit darum kümmert.«