Löwenland. Afrikanische Reisen

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Löwenland. Afrikanische Reisen
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Kai Althoetmar

Löwenland

Afrikanische Reisen

Nature Press

Inhaltsverzeichnis:

1. Diamentenfieber Deutsch-Südwest. Auf Spurensuche in der Wüste Namib: Kolmanskuppe, Geisterstadt und einstige deutsche Diamantengräbersiedlung.

2. Sonne, Durst und Sterne. Neunzig Kilometer durch eine urzeitliche Welt: In vier Tagen zu Fuß durch Namibias Fischfluß-Canyon.

3. Auf der Suche nach Kunta Kinte. In Juffure im westafrikanischen Gambia ist die Zeit der Sklaverei noch präsent.

4. Malawi Secondary Road. Im Geisterwald von Nkhotakota.

5. Blut, Schweiß und Hyänen. Unter Löwentötern. Leben in einem Massai-Dorf im Norden Tansanias.

6. Südafrikas Insel der Verdammten. Auf der ehemaligen Gefängnisinsel Robben Island arbeiten Ex-Häftlinge heute als Touristenführer.

7. Was machen die denn hier? Das etwas andere Kapstadt: Eine Rundreise durch die Ghettos der Schwarzen.

8. Onkel Sampies Hütte. Auf Südafrikas Weingütern liegen Luxus und Elend dicht beisammen.

9. Auf der Suche nach Elim. In zwei kleinen Orten in den Cederbergen und am Kap Agulhas lebt die Zeit der Herrnhuter Mission weiter.

Diamantenfieber Deutsch-Südwest

Auf Spurensuche in der Wüste Namib: Kolmanskuppe, Geisterstadt und einstige deutsche Diamantengräbersiedlung

Ein heftiger Wind fegt vom Atlantik durch die Wüste Namib in Richtung Diamantensperrgebiet. Feiner Sand dringt durch Fenster und Türritzen der wildwestartigen Kolonistenhäuser von Kolmanskuppe. Meterhoch türmt sich der Sand in den Stuben und Dielen, gleißendes Sonnenlicht strömt durch die Fenster, deren verwitterte Läden schief aus den Angeln hängen. Niemand lebt hier mehr. Außer vielleicht ein paar Geckos und Skorpionen.

Ein Trupp Touristen stapft einer jungen deutschsprachigen Fremdenführerin hinterher. Ortstermin in einer restaurierten Vorzeigestube. „Und hier sehen Sie, wie so ein deutscher Diamantengräber damals gelebt hat.“ Feldbett, Kommode, Nachtgeschirr, Eßgeschirr, Kaiser Wilhelm in Öl - Puppenstubenromantik in Südwestafrika. „Bitte folgen Sie mir nun in die Turnhalle!“ Auch die wurde konserviert: Reck, Pferd und Barren stehen da, als hätten sich eben noch Soldaten der kaiserlichen Schutztruppe mit Klimmzügen für den nächsten Herero-Aufstand gerüstet. Auf Kaisers Kegelbahn darf jeder mal in die Vollen werfen.

Kolmanskuppe, die einstige deutsche Diamantengräbersiedlung in Südwestafrika, dem heutigen Namibia, ist eine Geister- und Museumsstadt. Während der Endphase des deutschen Kaiserreichs war der Ort voller Leben, ein Vorposten deutscher Lebensart in Afrika. Kaiser Wilhelms Traum von einem deutschen Kimberley.

Zur Jahrhundertwende lag Europa im Kolonialfieber. Deutschland hatte es auf Südwestafrika abgesehen. Im Dienste seiner Majestät und eigener merkantiler Interessen stand der Bremer Kaufmann Adolf Lüderitz. 1883 legte der mit seiner Brigg in der Bucht von Angra Pequena an, dem heutigen Lüderitz. Sein Vertrauter Heinrich Vogelsang schwatzte dem Nama-Häuptling Joseph Fredericks das Land im Umkreis von fünf Meilen um die Bucht ab. Preis: zehntausend Reichsmark und 260 Gewehre.

Weitere Landkäufe folgten. Die Deutsch-Südwest-Chronik begann mit einem großen Nepp: Adolf Lüderitz veranschlagte jede Meile mit 7,4 Kilometern statt mit dem englischen Maß von 1,6 Kilometern. Ein Jahr später, 1884, die Berliner Konferenz: Ganz Südwestafrika wurde deutsches Schutzgebiet. Deutsche Siedler wanderten ein, in der Hoffnung auf Farmland, auf ein besseres Leben.

Die Siedler forderten Schutz. Der junge Kaiser Wilhelm II. entsandte die Schutztruppe. Die ersten 21 Kolonialsoldaten gingen 1889 an Land. Bis 1915, dem Ende der deutschen Kolonialära in Südwestafrika, sollte noch viel Blut im Wüstensand versickern. Aufstände von Namas und Hereros schlug die Schutztruppe unerbittlich nieder.

Die Kolonialherren erschlossen das Land per Eisenbahnbau. 1908 wurde die Bahnstrecke von Lüderitzbucht nach Keetmanshoop fertiggestellt. Der thüringische Eisenbahnbeamte August Stauch kontrollierte den 25 Kilometer langen Gleisabschnitt zwischen Lüderitzbucht und der Station Grasplatz, der häufig vom Flugsand der Namib verweht wurde. Schwarze mußten die Gleise freischaufeln. Stauch schärfte seinen Männern ein, auf ungewöhnlich aussehende Steine zu achten. Stauchs Hobby war die Mineralogie. Am 14. April 1908 kam der Arbeiter Zacharias Lewala mit einem Fund zu Stauch.

Lewala stammte aus der Kapkolonie, hatte in der Diamantengrube von Kimberley in Südafrika malocht. Stauch versuchte mit dem Stein am Glas seiner Taschenuhr zu kratzen. Es gelang, der Stein war härter als Glas: ein Diamant! Bahnmeister Stauch hielt den Fund erst geheim, kaufte mit eingeweihten Freunden die Schürfrechte für das Gelände und steckte Claims ab. Angeheuerte Schwarze und Mischlinge wurden durch den Sand gescheucht, bewacht von Aufsehern mit Peitschen und Pistolen, auf der Suche nach weiteren Klunkern.

Bis Ende 1908 waren 39.000 Karat Rohdiamanten ausgebuddelt. Stauch wurde zum Diamantenkönig von Deutsch-Südwest. Hunderte, dann Tausende Glücksritter machten sich auf die Socken. Der Ruf vom Glück der kleinen Schürfer drang schon bald ins Reichskolonialamt. Die Reichsregierung setzte dem Treiben ein jähes Ende. Bereits am 22. September 1908 erklärte sie einen hundert Kilometer breiten Küstenstreifen vom 26. Breitengrad bis zur südafrikanischen Grenze zum Diamantensperrgebiet. Das Gebiet wurde der flugs gegründeten Deutschen Diamanten Gesellschaft unterstellt. Die stellte eigene Leute an: deutsche Handwerker und Ingenieure, schwarze Kontraktarbeiter.

Die Glücksritter der Namib hatten ausgespielt. Fortan verdiente das Kaiserreich. Die Diamantengesellschaft ließ die Minenstadt Kolmanskuppe aus der Wüste stampfen, fünfzehn Kilometer von Lüderitzbucht entfernt, benannt nach dem Nama Johnny Coleman, der hier in der Einöde 1905 mit seinem Ochsenwagen steckengeblieben war. 1910 war der Ort bereits eine boomende Wüstenoase, das Pro-Kopf-Einkommen der Kleinstadt das höchste Afrikas. Bis 1914 wurden tausend Kilo Diamanten gewonnen.

Der deutsche Kronprinz Wilhelm von Preußen hätte in Kolmanskuppe in Karat baden können, hätten nicht die Schüsse von Sarajewo seiner geplanten Reise nach Deutsch-Südwest 1914 einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die eigens für ihn gebaute und per Schiff nach Südwestafrika verfrachtete Lokomotive nahm ohne den prominenten Passagier die Fahrt auf. Der Volksmund taufte das Dieseltriebfahrzeug „Kronprinz“.

Die deutschen Kolonisten von Kolmanskuppe lebten komfortabel. Häuser wurden im Wüstensand hochgezogen, für die Chefs Jugendstilvillen mit Giebeldächern und verglasten Veranden. Es gab eine Schule mit Turnhalle, Ballsaal, Fußballplatz, Krankenhaus, Postamt, Bäckerei, Metzgerei, Gemischtwarenladen, Restaurants, Limonaden- und Sodawasserfabrik, eine Anlage, mit der Blockeis zum Kühlen von Lebensmitteln hergestellt wurde.

Wasser war kostbar. Anfangs kam es per Schiff aus Kapstadt, per Bahn auch aus der nahegelegenen Pumpstation Garub, später gab es eine Meerwasserentsalzungsanlage. Strom, Wasser und Unterkunft waren für die Kolonisten umsonst. Das E-Werk galt als das leistungsfähigste der südlichen Hemisphäre.

In der Schule paukten 44 Kinder zu den besten Zeiten der Stadt das Einmaleins und lasen Schiller. Der Pfarrer kam jeden Sonntag mit dem Motorrad aus Lüderitzbucht zum Gottesdienst, der im Klassenzimmer gefeiert wurde. Die weniger frommen Kolonisten nutzten den Tag des Herrn für Trinkausflüge nach Lüderitzbucht. So manches Monatssalär verflüssigte sich dort in der Bar von „Kapps Hotel“. Gezahlt wurde gerne in Karat. Jede Bar, jeder Laden hatte seine Diamantenwaage. Und so mancher Traum vom Kauf einer Farm zerrann so im Champagnerglas.

Bis zu vierhundert deutsche Siedler lebten in Kolmanskuppe - trotz des permanenten Wüstenwindes, der mit bis zu hundert Sachen durch die Namib fegt. Metallschilde schützten die kleinen Vorgärten vor Verwehungen.

Hart war das Leben der fast tausend schwarzen Kontraktarbeiter, die die Schürfarbeit in der Diamantenschürferei verrichteten und außerhalb von Kolmanskuppe in Sammelunterkünften untergebracht waren. Für den Transport von Mensch, Material und Erdmassen war die Eisenbahn unerläßlich. Walter Rusch, lange Jahre Leiter des Eisenbahnmuseums in Namibias Hauptstadt Windhuk, beschreibt die Diamantenförderung: „Man hat Riesenkipploren hinter die Lokomotiven gehängt, die dann in die Wäschereien fuhren. Dort wurden die Sandmassen abgekippt und die Diamanten herausgesiebt.“

Die Deutsche Diamanten Gesellschaft und später die südafrikanische Minengesellschaft Consolidated Diamond Mines (CDM) verdienten in Kolmanskuppe prächtig. Und ihr Nachfolger, die namibische Namdeb, eine fünfzigprozentige Tochter des de Beers-Konzerns, tut es noch heute - wenn auch nicht in Kolmanskuppe, sondern in anderen Abschnitten des Diamantensperrgebiets.

Weiter südlich gab es bald neue Funde. An der Küste entstanden die Diamantencamps von Elisabethbucht, Pomona, Charlottental und Bogenfeld. Das Schürfmonopol setzte die 1920 gegründete CDM überall rigoros durch. Das Gebiet vom Oranje im Süden an der Grenze zu Südafrika bis hinauf nach Lüderitz blieb Diamantensperrgebiet - bis heute. Durchgang verboten, Zutritt nur mit Sondererlaubnis. Die Diamantenpolizei war nie zimperlich. Schon in den 1920er Jahren hatten die Schürfer nach getaner Arbeit Röntgenapparate zu passieren. Verschluckte Diamanten kamen so wieder zum Vorschein.

Was in Deutsch-Südwest fehlte, brachten die Ozeanriesen der Woermann-Linie von Deutschland nach Lüderitzbucht - vom Bauholz bis zum Grammophon. Der Deutsch-Südwester Willi Bartens, Jahrgang 1919, der in Kolmanskuppe aufgewachsen war und 2012 verstorben ist, erinnerte sich: „Lüderitzbucht hatte in den 1920er Jahren seine Blütezeit. Alles, was in Kolmanskuppe verbaut wurde - jede Eisenbahnschiene, jede Schraube - kam aus Deutschland. Sogar das Bier kam in Kisten aus Deutschland, jede Flasche in einer Strohhülse.“

 

Willi Bartens, dessen Vater 1904 nach Deutsch-Südwest emigriert war, ging in Kolmanskuppe zur Privatschule der CDM und machte danach eine Schlosserlehre. Der Feierabend war vom Vereinsleben bestimmt: „Montagabend Musikprobe der Kapelle des Turnvereins Kolmanskuppe. Dienstagabend Turnen in der Halle. Mittwochs Männerchor. Donnerstags Pfadfinder. Freitags wieder Turnen. Sonnabends war dann nichts.“

Die „Südwester-Deutschen“ waren keine Feinde des Kaiserreichs. Eher waren sie die noch treueren Patrioten, erst recht, nachdem die Schutztruppe 1915 gegen die britisch-südafrikanischen Verbände die Waffen strecken mußte. Sonntags marschierte der junge Bartens mit seinen Brüdern Hans und Waldemar für das Reichssportabzeichen 25 Kilometer durch die Namib, während der Vater, der werktags in Kolmanskuppe Hochspannungsleitungen reparierte, Oryx-Antilopen schoß.

Deutsche Frontkämpfer gründeten nach Kriegsende in Kolmanskuppe ihren „Stahlhelm“, da war die Hälfte der „Südwester“ von den Südafrikanern längst „heim ins Reich“ zwangsrepatriiert worden - während von Süden immer mehr Buren zuwanderten. Adolf Hitler erschien den verbliebenen Deutschen als einer, der sie aus der „burischen Knechtschaft“ erlösen würde. Bartens: „Wir waren mittendrin, obwohl wir weit weg waren.“

19jährig suchte er den deutschen Konsul auf. Er wollte sich als Freiwilliger für Wehrmacht oder Reichsarbeitsdienst melden - und wurde abgelehnt. „Es hat nicht sollen sein“, erinnerte er sich im Gespräch und war froh darüber, „denn viele Südwester sind drüben gefallen“.

Statt Stalingrad und „totalen Krieg“ erlebte Bartens den Niedergang von Kolmanskuppe. Immer neue, immer spektakulärere Diamantenfunde weiter südlich stellten die Minenstadt ins wirtschaftliche Abseits. In Oranjemund, wo der Oranje in den Atlantik mündet, waren die Diamantenvorkommen ergiebiger - bis heute. Schon 1930 wurde die Mine von Kolmanskuppe dichtgemacht, weil die Diamantenvorkommen um Lüderitz nahezu erschöpft waren.

Der Ort blieb aber zunächst erhalten, denn die Magazine und Werkstätten von Kolmanskuppe wurden von den anderen Minen weitergenutzt. 1939 kam das endgültige Aus für die meisten Deutschen in Kolmanskuppe. CDM baute in der Stadt der Diamantenpioniere weiter Stellen ab. Die Familie Bartens zog nach Windhuk. Kolmanskuppe wurde allmählich zur Geisterstadt. 1956 zog der letzte Bewohner ab.

Zwei Jahre zuvor war August Stauch, nach Deutschland zurückgekehrt, in seinem Heimatdorf Ettenhausen in Thüringen gestorben. Stauch war 1924 aus dem Diamantengeschäft ausgestiegen, blieb mit Familie noch viele Jahre in „Südwest“, erwarb Farmen, ehe er den Großteil seines Vermögens in der Weltwirtschaftskrise verlor.

Die Wanderdünen der Namib nahmen unterdessen Kolmanskuppe in Besitz. Souvenirjäger plünderten, was nicht niet- und nagelfest war. 1980 begann die CDM einzelne Häuser wieder auszugraben und instandzusetzen und Originalmöbel wieder aus Privatbesitz zurückzukaufen. Heute ist der Ort ein Museum mit 30.000 Besuchern jährlich. Touristen suchen im Sand der Namib eine untergegangene Ära: die Kolonialzeit Deutsch-Südwest-Afrikas, die 1915 zu Ende ging.

Sonne, Durst und Sterne

Neunzig Kilometer durch eine urzeitliche Welt: In vier Tagen zu Fuß durch Namibias Fischfluß-Canyon

Der Abstieg in eine Welt aus einer anderen Zeit beginnt. In 550 Meter Tiefe liegt rötlich-braun ein gewaltiges Erosionstal. Träge windet sich ein Rinnsal zwischen den Klüften dieser Mondlandschaft. 160 Kilometer lang ist der Fish River Canyon, der Fischfluß-Canyon, das größte Landschaftswunder im kargen Süden Namibias. Nur der amerikanische Grand Canyon ist länger. Neunzig Kilometer unter der unbarmherzigen südwestafrikanischen Sonne liegen vor uns. Eine Teststrecke für Zivilisationsmüde. Zehn Wanderer wollen die Unwirtlichkeit bezwingen.

Im zwölf Kilometer entfernten Touristencamp Hobas haben wir die permits, die Wandererlaubnis, im Tausch gegen die vorgeschriebenen ärztlichen Atteste abgeholt. Pro Tag wird nur eine Gruppe von drei bis dreißig Wanderern in den Canyon gelassen. Jede ist auf sich selbst gestellt. Wegen der Hitze und der Überschwemmungsgefahr sind Canyondurchquerungen nur im namibischen Winter, von Mai bis September, möglich.

Uns droht mitten im Mai Wassermangel. „Das Wasser im Fish River Canyon hat den niedrigsten Stand seit mehr als zehn Jahren erreicht“, schreibt die Verwaltung des Naturreservats in ihrem Wasserbericht. Emergency exits, Notausstiegspfade, gibt es nur zwei: bei Kilometer 15 und Kilometer 68. Dazwischen könnte uns nur ein Rettungshubschrauber aus der Schlucht heraushelfen - gäbe es Mobilfunkempfang.

Die ganze Erdgeschichte breitet sich vor uns wie ein Diorama aus: die steilen Abhänge mit ihren waagerecht lagernden Gesteinsschichten aus 1,8 Milliarden Jahre alten Schiefer-, Lava- und Sandsteinablagerungen, vor 1,3 Milliarden Jahren während der Erdfrühzeit von den Elementen zusammengepreßt, das von Nord nach Süd verlaufende Tal, im Erdaltertum vor 500 Millionen Jahren durch Brüche in der Erdkruste entstanden. die Erosionsspuren des Flusses, der sich erst in der Erdneuzeit, vor schätzungsweise fünfzig Millionen Jahren, durch eine Einbruchzone in das Tal fraß und die heutige Schlucht fräste. 1981 fanden Archäologen an neun Stellen im Canyon Überreste von Steinzeitmenschen, denen das fischreiche Wasser vor über 50.000 Jahren gute Lebensbedingungen bot.

Schon geht es steil bergab. Geröll liegt auf dem Zickzack-Pfad, an gefährlichen Stellen schützt eine Kette vor dem Sturz in die Tiefe. An die fünfzehn Kilo schleppt jeder im Rucksack: Proviant für vier Tage, Schlafsack und Isomatte, Kleidung, Kamera, Campingkocher. Fast zwei Stunden dauert der Abstieg, die Dämmerung naht. Zwei deutsche Tagestouristen ohne Taschenlampe, Wasserflasche und Gepäck überholen uns. Ihr Ziel: Ab- und Aufstieg noch kurz vor Sonnenuntergang. Ein Fall von Sonnenstich?

Im April 1995 fiel ein 55jähriger deutscher Tourist, der sich ohne Wasser spontan in die Tiefe des Canyons aufgemacht hatte, seinem Leichtsinn zum Opfer. Bei fast vierzig Grad Mittagshitze brach er auf der Steilroute bewußtlos zusammen. Der Tod war schneller als der Notarzt.

Hitze und Wassermangel gehören zu Namibias Süden wie das Eis zur Arktis. So fallen in Lüderitz an der Atlantikküste jährlich nur achtzehn Millimeter Niederschlag je Quadratmeter. Während der Regenzeit zu Jahresanfang hat der 660 Kilometer lange Fischfluß keine neuen Wassermassen aufgenommen. 400 Kilometer nördlich, in den Naukluftbergen am Rande der Namib-Wüste, entspringt der größte Fluß innerhalb Namibias. Etwa fünfzig Kilometer südlich des Kurortes Ai-Ais, dem „gelobten Land“ aller Canyonwanderer, mündet der Fischfluß an der namibisch-südafrikanischen Grenze in den Oranje.

Bei Einbruch der Dunkelheit erreichen wir die Talsohle. Der Fluß ist eher ein schmaler Teich. Im Ufersand rollt jeder seinen Schlafsack aus, niemand schleppt auch noch ein Zelt mit herum. Instantsuppen und Fertignahrung aus Armeebeständen köcheln vor sich hin. Der Sternenhimmel: wie im Planetarium.

Morgens um sechs ist es hell, um sieben ist Abmarsch. Erst geht es durch tiefen Sand. Meine alten Tennisschuhe werden zum mobilen Sandkasten - halbstündlich auszuleeren. Schon bald kommen Geröllfelder, der Fish River existiert nur noch abschnittsweise. Die zahllosen Findlinge sind ein einziger Hüpfparcours. Wir springen von Stein zu Stein, als gelte es, einen endlosen Bach zu überqueren. Schon um zehn steht die Sonne fast senkrecht über der Schlucht, es geht auf dreißig Grad zu, Schatten kennt der Mittag nicht. Nur Schilf, etwas Gebüsch, ein paar Kameldornbäume und Köcherbäume, aus deren Ästen die Buschmänner und Nama einst die Köcher für ihre Pfeile machten, säumen hier und dort den Weg.

Jeder geht sein eigenes Tempo. Die erste Tagesetappe, obwohl nur siebzehn Kilometer lang, ist die schwerste. Kein Windhauch. Die Geröllmassen sind sonnendurchglüht. Die Stille ist nicht zu überhören. Auf der Suche nach der absoluten Einsamkeit habe ich nach dreizehn Kilometern die anderen abgehängt. Woher kommt jetzt auf dem anderen Flußufer, keine hundert Meter entfernt, die Horde rastender Lebewesen? Nama? Paviane? Fata Morgana? Ich haste weiter, lasse in der nächsten Canyonkurve den „Notausstieg“ hinter mir. Viele geben hier schon auf, aus Angst vor Wassermangel.

Noch eine nicht enden wollende Kurve der 300 Meter breiten Schlucht, und das Etappenziel ist erreicht: Palm Springs, ein paar Palmen und eine heiße Quelle stark schwefelhaltigen Wassers. Zwei deutsche Soldaten waren 1915 hierher geflohen, nachdem sich die kaiserlich-deutsche Schutztruppe im damaligen Deutsch-Südwest den britisch-südafrikanischen Verbänden ergeben hatte. Der eine hatte Hautkrebs, der andere Asthma. Nach zwei Monaten regelmäßigen Badens in der Schwefelquelle waren sie kuriert.

Ich bade lieber im Flußwasser, mit dem knapp sechzig Grad heißen Schwefelquellwasser „koche“ ich mangels Gaskocher eine Tütensuppe - ein Akt fortgeschrittener Zivilisationsmüdigkeit. Drei weitere Wanderer erreichen Palm Springs noch bei Tageslicht, der Rest der Gruppe ist erst einmal verschollen. Immerhin klärt sich auf, wer die fremden Wesen am Wegesrand waren: eine Gruppe weißer Südafrikaner, die einen Tag vor uns gestartet sind und eine Schwäche für Pausen haben. Mein Hinweis auf die länglichen, S-förmigen Abdrücke im sonst unberührten Sand unseres Nachtlagers löst die Frage aus: Wer hat die Schlangenseren? Niemand, auch keiner der sechs Nachzügler, die am nächsten Morgen früh um sieben aufkreuzen, nicht einmal der mitwandernde Doktor aus Windhuk.

Puffotter, Speikobra, Kapkobra und Hornviper sind neben anderen Schlangen im Canyon zu Hause. Ihre Bisse können auch für Menschen tödlich sein - je nach Menge des abgegebenen Gifts und Fitneß des Opfers. Doch fast alle Schlangen sind so scheu wie die nachtaktiven Leoparden, die in der Schlucht leben. Trost spenden die Tips unseres Erste-Hilfe-Zettels: „Schlangenbiß: Opfer zwischen Bißstelle und Herz abbinden, tote Schlange mitnehmen.“

Morgens sammeln wir den Müll ein und füllen nochmals die Wasserflaschen am Fluß. Für die nächsten zwei Tage kündigt der Wasserreport Durstphasen an. Es geht weiter von Stein zu Stein, durch knöcheltiefen Sand, der Weg ist das Ziel der Suche, als nur noch die Wahl zwischen Fluß, Schilf und Unterholz bleibt. Wo lauert der Leopard? Im Unterholz nicht, er scheint ein paar Kilometer weiter zugeschlagen zu haben. Dort liegt der ausgedörrte Kadaver eines Hartmann-Bergzebras. Fototermin.

Auch Kudus, Klippspringer, Steinböckchen, Bärenpaviane, Erdhörnchen, murmeltierartige Klippschliefer und mehr als sechzig Vogelarten, darunter Fischadler, Graureiher und Königsfischer, leben in der mehrere Hundert Meter breiten Schlucht, auf dem Plateau auch Oryxantilopen und Springböcke.

Bei Kilometer 28 thront der Tafelberg zur Rechten, ein Felsmassiv so eben wie der Namensvetter in Kapstadt. Seit Stunden ist vom Fluß nichts mehr zu sehen - ausgetrocknet. Nur in regenreichen Jahren führt er auf seiner ganzen Länge Wasser. Grund sind die Dürre und der Hardap-Damm bei Mariental, wo der Oberlauf des Flusses seit 1963 gestaut wird.

Die im Lageplan markierte Wasserstelle bei Table Mountain erweist sich als grünstichige, ekelerregende Riesenpfütze mit Moskitoeiern, in der ein großer toter Fisch, eine Barbe, treibt. Die Wasserflaschen sind fast leer, und zur nächsten sicheren Wasserstelle sollen es noch 27 Kilometer sein. Trinken oder nicht? Filtern, aber wie? Emma, die Engländerin, spannt ein Stofftaschentuch über den Flaschenhals und zückt die Wasseraufbereitungstabletten. Eher verdurste ich, lasse die anderen zurück und röchele weiter durch den Backofen.

Alle zehn Minuten werfe ich den Rucksack ab, bis nach sechs Kilometern das zweite Etappenziel erreicht ist: Sand against slope, eine Sandverwehung an einem Steilhang. Bin ich im Hase-und-Igel-Märchen? Die Südafrikaner sind auch schon da und baden in meinem Trinkwasser, einem Kolk, mit dessen Existenz keiner gerechnet hat. Sie seien schon vor uns heute morgen aufgebrochen, berichtet einer der Südafrikaner. „At five!“ Das Wasser ist salzig, die Schokomüsliriegel sind geschmolzen, die Trockenfrüchte schmecken wie eine Strafe Gottes. Noch 55 Kilometer bis Ai-Ais.

 

Im Dunkeln trudelt der Rest der Truppe ein. Um acht schlafen alle. Während uns tagsüber die Fliegen plagen, sind in den lauwarmen Nächten die Mücken im Blutrausch. Vor Sonnenaufgang geht es weiter, der Rucksack wird immer leichter. Erstmals nieselt es. Mehr als fünfzehn steinig-sandige Kilometer legen wir in vier kühlen Morgenstunden zurück, lassen die Three Sisters, eine merkwürdige Felsformation hoch oben am Canyonrand, links liegen und machen drei Wildpferde im meterhohen Schilfgras aus. Vor über hundert Jahren sollen den Schutztruppen einige Reittiere beim Kampf gegen die aufständischen „Hottentotten“, die Khoikhoi, durchgegangen sein.

Kilometer 50. Hier mogeln alle. Bei Four Finger Rock, einer vier Fingern ähnlich sehenden Felsformation, beginnt eine Abkürzung über eine Anhöhe. Fünf Kilometer lassen sich einsparen. Aber wo ist die Abzweigung, der Weg zum Plateau? Eine Sippe krakeelender Paviane verzieht sich über einen steilen Weg - über die Abkürzung! Dem Aufstieg fallen die letzten Wasserreserven zum Opfer. Rettung verspricht der Wasserlagebericht: Ranger sollen auf dem Plateau, das mit Allradwagen zu erreichen ist, 210-Liter-Wassertonnen aufgestellt haben. Es ist keine Luftspiegelung - die Südafrikaner sind schon hier! Ist noch Wasser für uns da?

Das Schicksal ist gnädig, niemand muß nach Wurzeln graben, um an Wasser zu gelangen. Ein anderer ist nicht lebend aus dem Canyon zurückgekehrt: Leutnant Thilo von Trotha aus dem schlesischen Wahlstadt. Sein Grab, aufgeschichtet aus Steinen, ragt aus der Öde einer langen Sandebene heraus. Am 14. Juni 1905 fiel er mit 27 Jahren im Krieg gegen die Khoikhoi, auch Nama genannt, die sich 1903 gegen die deutschen Kolonialherren erhoben hatten. Thilo von Trotha war ein Neffe des Schutztruppen-Befehlshabers Generalleutnant Lothar von Trotha, dem von linken Historikern der „Völkermord“ an den Herero und Nama angelastet wird.

Der junge von Trotha war in geheimer Mission als Friedensunterhändler bei den Aufständischen, die sich in den Canyon zurückgezogen hatten. Im Auftrag seines Onkels traf er den Kapitän Cornelius, einen Nama, mit dem er noch im Herero-Krieg gemeinsam am Waterberg gekämpft hatte. Cornelius und andere hatten sich dann von den Deutschen abgewandt, um gegen sie zu kämpfen. Zwei Tage vor der Trotha-Mission im Canyon war der große Viehdiebstahl von Kanibes bekannt geworden. Die 9. Kompanie der Schutztruppe wartete am Wasserloch von Churtabis auf neue Befehle. Die Nama-Viehdiebe waren mit den Rindern in den Canyon entkommen. Leutnant von Rosenthal ließ dreißig Reiter aufsatteln und durch das schwer zugängliche Auchob-Tal in die Schlucht vorstoßen, um das geraubte Vieh zurückzuholen. Thilo von Trotha befahl den Angriff noch durch einen Kurier zu stoppen - doch flogen schon die Gewehrkugeln. Auch die Bondelswart-Nama, eine Volksgruppe der Orlam-Nama, waren im Besitz deutscher Gewehre. Leutnant von Trotha begab sich zu Verhandlungen ins Lager der Aufständischen.

Der südafrikanische Autor C.N.L. van Huyssteen beschreibt in seinem Buch „Das einsame Grab im Fish River Canyon“ die letzten Momente im Leben Thilo von Trothas: „Leutnant von Trotha stand einige Zeit sprachlos im allgemeinen Durcheinander, eilte dann zum Planwagen von Cornelius und schrieb in fliegender Eile eine Nachricht für den Kommandanten des deutschen Kavallerie-Korps: ‘Bitte sorgen Sie dafür, daß die Schießerei sofort aufhört. Ich befinde mich hier auf Befehl des Generals im Lager von Cornelius, um über Möglichkeiten des Friedensabschlusses zu verhandeln.’ Cornelius schickte einen Boten mit der Nachricht los.“ Das Gefecht war so dicht an das Lager gerückt, daß die Bondelswart Deckung suchen mußten. Von Trotha verfaßte eine weitere Nachricht, als ein Nama im Gefecht fiel. Im nächsten Augenblick fiel ein weiterer Schuß. Von Trotha war in den Rücken geschossen worden und brach zusammen. „Der Leutnant reagierte nicht mehr auf Fragen. Er murmelte nur unentwegt: ‘Es tut sehr weh, ... es tut sehr weh ... es tut sehr weh...’ Dann hob er noch einmal den Kopf und sagte mit leiser aber klarer Stimme: ‘Ich war unbewaffnet.’ Danach fiel er zurück und war tot.“ Ein Cousin Cornelius', Christopher Lambert aus Bethanien, hatte von Trotha erschossen. Van Huyssteen zitiert den Täter mit den Worten: „Ich war es, der ihn von hinten erschossen hat. Als er fiel, feuerte ich noch einmal auf ihn, um ganz sicher zu gehen, daß er stirbt. Er war hierher gekommen, um die Aufmerksamkeit im Lager vom Angriff abzulenken.“ Cornelius griff nicht ein, als ein weiterer Bondelswart dem toten Leutnant den Ehe- und den Siegelring wegnahm und ein anderer den Schwertorden von der Uniform entfernte. „Immerhin“, schreibt van Huyssteen, „setzte sich Cornelius soweit durch, daß Thilo von Trotha am nächsten Morgen ein ordentliches Begräbnis bekam und daß an seinem Grab gebetet wurde.“ Die Leiche des hinterrücks erschossenen Friedensunterhändlers wurde auf einen großen Felsbrocken gelegt und mit Steinen aus dem Fischfluß bedeckt. „Wanderer, kommst du nach...“

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