Willenbrecher

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Willenbrecher
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K.P. Hand

Willenbrecher

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1

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5

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8

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Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Alessandro glaubte nicht, dass er sich je in einer solch peinlichen Situation befunden hatte.

Zähneknirschend schielte er von links nach rechts um seine Umgebung betrachten zu können, doch mehr als graue, fensterlose Wände waren sowieso nicht zu erkennen.

So sahen also die Verhörzimmer der neuen Polizeistation von innen aus, musste er erkennen. Das war interessant. Er hätte nicht erwartet, dass alles so nach Filmrequisite aussah. Aber ob nun klischeehaft oder nicht, trotzdem wäre es ihm allemal lieber, er hätte mehr als nur eine knappe Unterhose am Leib.

Nun gut, er musste dem jungen Polizisten, der ihn festgenommen hatte, zugestehen, dass er ihm immerhin erlaubt hatte, barfuss in seine Turnschuhe zu schlüpfen, bevor man ihn mit Handschellen aus seiner Wohnung geführt hatte.

Tja, den Mietvertrag würde er jetzt wohl nicht mehr verlängern können, befürchtete Alessandro. Die alte Dame, die ihm die kleine Wohnung vermietet hatte, war schon immer paranoid und übermisstrauisch ihm gegenüber gewesen. Nun, da er mit großem Aufsehen abgeführt worden war, würde sie ihn wohl kaum länger in ihrem Haus dulden. Sie hatte immer angenommen, er wäre ein Krimineller, jetzt hatte sie die Bestätigung.

Zu schade eigentlich, die Wohnung war schön gewesen, bedauerte er seufzend.

Die Tür öffnete sich und zwei junge Polizisten in ziviler Kleidung betraten den Raum. Ihre Gesichter wirkten verschlossen und hart; attraktiv waren sie trotzdem. Beide hatten dunkles Haar, einer war kleiner und schmäler, während sein Kollege sehr groß und gut durchtrainiert aussah. Seine Schultern waren breit, sein Oberkörper wurde zur Hüfte hin schmäler, und er hatte ein kantiges, männliches Gesicht. Er war geradezu perfekt! Es war derselbe junge Polizist, der Alessandro auch vor etwa einer Stunde festgenommen und hier her gebracht hatte.

Der schmälere Mann hielt sich abseits und sein gut aussehender Begleiter setzte sich gegenüber von Alessandro auf einen Stuhl. Nur noch der Tisch stand zwischen ihnen, aber für Alessandro war auch dieser schon zu viel. Gern hätte er ihn beiseite geschoben ...

Der junge Polizist legte eine Akte auf die Tischblatte und schlug sie auf.

»Also«, begann er und räusperte sich, »Alessandro Martin, achtundzwanzig Jahre alt-«

»Jung«, fiel Alessandro ihm ins Wort.

Der Polizist stoppte und schielte ihn genervt an.

Oh, welch wundervoller Blick aus tiefgründigen braunen Augen, dachte sich Alessandro schmunzelnd. Wie gern er doch dem Ermittler diese ernste Falte zwischen den dunklen Augenbrauen mit dem Daumen glatt gestrichen hätte.

Der Polizist klappte die Akte zu; ein Zeichen dafür, dass er die Sache nun doch anders angehen wollte. Er lehnte sich zurück und fragte: »Sie sind verwandt mit Enio Martin, richtig?«

Alessandro nickte. »Er ist mein Bruder. Aber ich bin sicher, das wissen Sie selbst. Es steht doch ganz bestimmt in Ihrer hübschen Akte dort.«

Der Polizist ignorierte den Kommentar. »Ihr Bruder ist hier nicht unbekannt.«

»Bin ich deswegen hier?«, klugscheißerte Alessandro entnervt. »Ist es ein Verbrechen der Bruder meines Bruders zu sein?«

Abschätzend betrachteten sie sich gegenseitig.

Doch der andere Polizist unterbrach das nette Anstarrduell, indem er vortrat und das Wort erhob: »Wir wollen von Ihnen wissen, wo Sie letzten Montag gegen Einundzwanzig Uhr waren, Herr Martin.«

»Oh mein Gott, tun Sie das bitte nicht!« Alessandro verzog angewidert das Gesicht. »Nennen Sie mich nicht so, sonst fühle ich mich gleich dreißig Jahre älter.«

Kollektives seufzen kam von den beiden Polizisten. Eine typische Reaktion anderer Personen auf Alessandro, der die Ausweichtaktik in den letzten Jahren perfektioniert hatte. Ihm war es nicht fremd, dass man so auf ihn reagierte. Um ehrlich zu sein, hätte es ihn mehr verwundert, wenn es anders gewesen wäre.

»Beantworten Sie einfach unsere Fragen«, forderte der gut aussehende Mann auf.

Alessandro grinste ihn an und wollte wissen: »Beantworten Sie dann auch meine Fragen, Herr Kommissar

Er wurde nur kühl angesehen.

Enttäuscht lehnte er sich gegen seine Stuhllehne. Einen momentlang musterte er die Erscheinung des jungen Mannes, der ihm gegenüber saß. Er schätzte, der Ermittler konnte höchstens in seinem Alter sein.

So jung, dachte Alessandro bei sich. So jung aber seine Augen strahlten mehr Klugheit und Weisheit aus, als all die anderen Polizisten, denen Alessandro im Laufe seines Lebens bereits begegnet war.

»Sie sind neu, nicht wahr?«, fragte Alessandro. »Ein Frischling in der Abteilung.«

Noch immer erwiderte der Mann nichts, sein kühler, distanzierter Blick blieb immer gleich. Abwartend saß er dort, als kenne er bereits jeden Ablenkungstrick, den Alessandro auf Lager hatte.

Ein Schmunzeln breitete sich auf Alessandros Lippen aus. Dieser Kerl schien ein harter Brocken zu sein. Gut! Denn Alessandro mochte es, wenn man es ihm nicht so leicht machte. Endlich hatte die Abteilung für organisiertes Verbrechen einen fähigen Ermittler ins Rennen geschickt. Diese Sache hier konnte tatsächlich interessant werden.

»Sie wollen wissen, wo ich letzten Montag war?«, fragte Alessandro und lehnte sich auf die Tischplatte. »Ich sag Ihnen was, schicken Sie doch Ihren Kollegen nach draußen und ich verrate Ihnen alles, was Sie wissen wollen.«

Der Kollege schnaufte belustigt, doch das Interesse des anderen Ermittlers war geweckt, das konnte Alessandro ihm deutlich ansehen. Er schien sowieso keine Lust dazu zuhaben, das man ihm bei dem Verhör über die Schulter blickte.

»Ist gut«, beschloss er und wandte sich dann an seinen Kollegen, »geh doch kurz vor dir Tür, ich regle das.«

Der Kollege blickte den Mann vor Alessandro grimmig an. Er schien etwas sagen zu wollen, doch er schloss wieder den Mund und ging kopfschüttelnd zur Tür.

Alessandro sah ihm etwas verwundert nach, er hätte nicht erwartet, dass sein Vorschlag so schnell angenommen werden würde.

Befürchtend blickte er den Kommissar wieder an, der nun ein leicht amüsiertes Funkeln in seinen braunen Augen hatte.

Vielleicht war das doch keine so gute Idee gewesen, befürchtete Alessandro. Er wäre nicht der erste Verdächtige, der verprügelt worden wäre.

»Also«, drängte der Ermittler, »wo waren Sie am besagtem Tag?«

Alessandro nahm einen verschlossenen Gesichtsausdruck an und lehnte sich wieder zurück, eher er erwiderte: »Wieso, was war denn da?«

»Das wollte ich von Ihnen hören, Alessandro«, wich der Ermittler aus.

Alessandro lächelte und sagte: »Das ist unfair, oder?«

»Was denn?«, brummte der Kommissar.

»Sie kennen meinen Namen, ich aber Ihren nicht.« Und es war wichtiger denn je, den Namen zu erfahren. Er schien ein unnachgiebiger, verbissener Hund zu sein, die Sorte Ermittler, die endlich mal Aktion in das Getümmel bringe würde. Aber nichtsdestotrotz war er eine Gefahr, die man besser im Auge behalten sollte. »Nennen Sie mir Ihren Namen, Herr Kommissar, und ich verrate Ihnen, wo ich letzten Montag war.«

 

Nun lehnte sich der Ermittler auf den Tisch und erklärte ungeduldig: »Das hier ist eine Befragung, das ist Ihnen doch bewusst, oder? Das wird kein Geben und Nehmen-«

»Das ist aber schade«, witzelte Alessandro, »denn ich bin für gewöhnlich der, der sehr gerne gibt. Genau genommen, gebe ich ausschließlich und nehme nichts dafür. Wie wäre es? Ich gebe und Sie nehmen sich, was immer Sie von mir benötigen. Glauben Sie mir, Sie verpassen da wirklich etwas, wenn Sie das Angebot abschlagen.«

Für gewöhnlich zuckten Polizisten bei seinen zweideutigen Aussagen zurück, oder wurden zumindest aus dem Konzept gebracht, weil es ihnen unangenehm war. Doch dieser nicht. Er schien Alessandros Verhalten als Taktik, das Verhör sabotieren zu wollen, abzutun. Mit anderen Worten: er schien Alessandro nicht ernst zu nehmen.

Schade eigentlich ...

»Wir spielen hier keine Spielchen«, sagte der Kommissar ruhig aber betont. »Ich stelle die Fragen und Sie antworten mir. Andernfalls sehe ich es als Weigerung Ihrerseits und lasse Sie wegsperren, bis Sie bereit sind, mit mir zu sprechen.«

Alessandro schmunzelte daraufhin belustigt. »Sie sind gut. Wirklich gut! Aber wissen Sie, ich bin nicht dumm und das hier ist auch nicht die erste Vernehmung, die ich mitmache. Ich weiß also, welche Rechte ich habe und welche Sie haben. Und wenn ich nicht auf Ihre Fragen antworte und Sie keine handfesten Beweise für ein schwerwiegendes Vergehen haben, müssen Sie mich gehen lassen.«

Der Kommissar presste seine vollen Lippen aufeinander.

»Also, so wie ich das sehe, sind Sie darauf angewiesen, das ich rede, andernfalls, bin ich schneller wieder hier draußen, als Ihnen lieb sein wird.«

»Ein paar Tage werde ich Sie schon hier behalten können«, warf der Kommissar ein.

»Sicher«, bestätigte Alessandro. »Wegen Indizien, nehme ich an? Die gleichen Indizien, die Ihnen erlaubt haben, mich halb nackt herzubringen, oder? Aber so oder so, werde ich freigelassen, ob heute oder in drei bis fünf Tagen, wenn mein Anwalt schnell arbeitet.«

Der Kommissar verengte die Augen und lehnte sich zurück. »Was wollen Sie?«

»Ihren Namen«, säuselte Alessandro, »fürs Erste.«

Der Kommissar schnaubte kopfschüttelnd, doch dann sah er Alessandro an und gab nach. »Koch«, antwortete er, »Norman Koch.«

Der Name sagte Alessandro nichts, also war er wirklich neu in der Abteilung.

»Und jetzt Sie«, forderte Koch ihn auf.

»Letzten Montag, hm?« Alessandro grübelte laut. »Das war der elfte Mai, oder? Hm, lassen Sie mich überlegen...«

»Gegen Einundzwanzig Uhr.«

»Oh Gott, das ist ewig lange her…«

Der Kommissar schaute grimmig drein.

Alessandro musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Dieses Hinhaltespielchen trieb er gerne mit den Gesetzeshütern. Das trieb sie alle in den Wahnsinn. Und der ungeduldige Blick diesen Exemplars gefiel Alessandro sehr.

»Ich war unterwegs.«

»Wo waren Sie?«, wollte der Ermittler wissen.

Grinsend antwortete Alessandro: »In der Innenstadt. Ich hatte anonymen Sex in einer Seitengasse.«

Kommissar Koch verschränkte die Arme vor der Brust. »Kann das jemand bezeugen?«

»Klar doch! Ungefähr sechs Frauen und zwanzig Zuschauer ...«

Der Kommissar seufzte genervt.

»Ich meine, was denken Sie denn?«, lachte Alessandro. »Was glauben Sie, was anonymer Sex bedeutet?«

»Und wo waren Sie wirklich?«, verlangte Koch zu wissen. Seine Geduld mit Alessandro neigte sich dem Ende zu.

Alessandro lächelte und beschloss, wahrheitsgemäß zu antworten: »Ich war bei meinem Bruder. Den ganzen Abend.«

Der Kommissar klappte die Akte auf, er legte einige Blätter verdeckt zur Seite bis er ein freies Blatt fand und nahm dann einen Kugelschreiber zur Hand um sich Notizen zu machen.

»Die Villa Ihres Bruders Enio Martin?«, fragte er dann.

»Ja, ich habe nur den einen Bruder.«

»Ich brauche genaue Aussagen für das Protokoll«, erwiderte der Kommissar, als wollte er sich für seine ständigen Nachfragen entschuldigen.

Alessandro wusste, dass man genaue Aussagen von ihm benötigte, deswegen formulierte er seine meisten Aussagen ungenau.

»Wann kamen Sie dort an?«

Alessandro holte Luft und erklärte in einem Rutsch: »Ich kam gegen Achtzehn Uhr dort an und übernachtete in meinem alten Jugendzimmer. Gegangen bin ich am nächsten Morgen etwa gegen Elf Uhr.«

»Und Ihr Bruder wird das bezeugen?«

»Natürlich, er war ja da«, erwiderte Alessandro.

»Was haben Sie genau dort gemacht?«

Alessandro seufzte. »Sie werden meinen Bruder ganz genau darüber ausfragen, habe ich Recht? Und wenn meine Aussage auch nur einwenig von der meines Bruders abweicht, werden Sie mich des Lügens beschuldigen, stimmt doch, oder?«

»Beantworten Sie mir die Frage!«

»Erst will ich wissen, was ich angeblich wieder verbrochen habe«, verlangte Alessandro dreist. »Was ist an diesem Tag passiert?«

Der Polizist warf ihm einen ärgerlichen Blick zu.

»Hey, Sie werden mir ja wohl sagen können, was Sie mir vorzuwerfen versuchen!«

Koch atmete geräuschvoll aus und fuhr sich entnervt durch sein geradezu absurd perfektes Gesicht. Sein Antlitz war wirklich faszinierend, musste Alessandro zugeben.

»Sie würden sich verdammt gut als Marmorstatue machen, wissen Sie das?«, lenkte Alessandro vom Thema ab. »So groß und ... männlich. Mit diesen Muskeln und diesem symmetrischen Gesicht, das zugleich schön und stark wirkt. Was halten Sie davon? In einer Kriegerpose mit hocherhobenem Schwert, zerzaustem Haar und grimmiger Miene ... halbnackt in Stein gemeißelt? Hört sich gut an, oder nicht?«

Der Kommissar erwiderte ruhig Alessandros Blick.

Alessandro schüttelte den Kopf. »Nein?«

Der Kommissar rührte sich nicht.

Er war enttäuscht. »Dann nicht.«

Koch atmete ein und erklärte schließlich: »Es geht um eine Vergewaltigung. Eine junge Frau hat Sie angezeigt.«

Alessandro starrte den Ermittler eine volle Minute sprachlos an. Dann fing er an zu lachen und rief amüsiert: »Was

Der Ermittler fand das nicht witzig, aber er konnte ja auch nicht wissen, wie absurd das war.

Alessandro dachte nach, dann kam ihm eine Idee, welches kleine Miststück eine solche Behauptung aufgestellt haben könnten. »Lassen Sie mich raten, die Dame heißt Clarissa Lang?«

Koch runzelte die Stirn, antwortete aber: »Ganz genau.«

Alessandro nickte und sagte dann gelassen: »Das kann ich erklären.«

»Bitte«, forderte Koch ihn auf.

»Hören Sie, dieses Miststück war lange mit meinem Bruder liiert, überprüfen Sie das, die ganze Stadt müsste davon wissen! Jedenfalls habe ich meinem Bruder gesagt, er soll sie loswerden, weil sie nur eine geldgeile Schlange ist, der man nicht trauen kann. Und ... was soll ich sagen? Mein Bruder hörte eben auf mich und verließ sie, seitdem ist sie darauf aus, mich irgendwie zu zerstören.«

Es war eigenartig für Alessandro, bei einem Verhör mal wirklich die Wahrheit zu sagen.

Aber Koch wirkte noch immer nicht überzeugt.

»Ach ich bitte Sie! Sehe ich aus wie ein Vergewaltiger?«, rief Alessandro. »Sehen Sie mich an, ich bin zwar groß aber schmal. Ich kenne Clarissa, sie hat mehr Oberarmmuskeln als ich, sie wäre mir haushoch überlegen gewesen, selbst dann, wenn ich es versucht hätte. Was ich aber nicht habe!«

Er hatte sich ja schon viel anhören müssen, aber Vergewaltiger? Das war wirklich geradezu absurd. Er hätte da ein Argument, das er vielleicht vorbringen sollte, aber solange das nicht unbedingt nötig war, würde er es vermeiden, sich zu offenbaren.

Er soll sich an Frauen vergehen? ... So etwas Bescheuertes hatte er wirklich noch nie gehört.

»Also, was haben Sie bei Ihrem Bruder gemacht?«, fragte Koch erneut.

Alessandro ließ den Kopf hängen und verharrte eine Weile so.

»Wir haben zusammen gegessen«, antwortete er schließlich auf die Frage. »Nach dem Essen blieb ich noch eine Weile. Wir unterhielten uns, tranken dabei etwas zu viel Alkohol, weshalb ich schließlich nicht mehr fahren konnte. Deshalb habe ich dort übernachtet. Das kann nicht nur mein Bruder bezeugen, sondern auch sämtliches Personal.«

Koch hatte sich das alles auf einem Zettel notiert, er nickte dabei immer mal wieder.

»Okay, vielen Dank.«

»Ich schätze, Sie müssen mich jetzt gehen lassen«, sagte Alessandro triumphierend. »Meine Aussage steht gegen die des angeblichen Opfers. Bis mein Alibi überprüft wurde, bin ich ein freier Mann.«

»Da haben Sie recht«, gab der Kommissar zurück.

Und da Alessandro die Wahrheit sagte, würde er auch weiterhin frei bleiben.

»Wenn Sie die Wahrheit sagen, sollten Sie sich überlegen, mal juristisch gegen diese Clarissa Lang vorzugehen, Alessandro.«

Alessandro grinste und fragte provozierend frech: »Sorgen Sie sich um meinen guten Ruf, Kommissar?«

»Nur darum, Ihr Gesicht öfter sehen zu müssen«, gab der Ermittler zurück.

Ach, Alessandro hätte aber nichts dagegen, ihn öfter zu sehen. Allerdings wären ihm eine andere Umgebung und eine andere Situation lieber gewesen.

»Ich nehme an, Sie wollen jemanden anrufen, der Sie abholt?«, fragte Koch und deutete mit dem Kugelschreiber auf Alessandros nackte Brust.

Kurz sah Alessandro an sich hinab, dann erwiderte er: »Ist es nicht Erregung öffentlichen Ärgernis, wenn ich so nach Hause laufe? Demnach dürfen Sie mich so wohl nicht gehen lassen, oder?«

»Ich weiß nicht.« Der Kommissar runzelte die Stirn. »Ist vielleicht eine Grauzone«, scherzte er dann, »immerhin sind Sie nicht ganz nackt.«

Alessandro schmunzelte ihn an. »Könnte man schnell ändern.«

»Könnte man«, gab der Kommissar - ganz zu Alessandros Erstaunen - zurück. Und dann lächelte er auch noch! Das war das erste Mal, das Alessandro ihn lächeln sah.

Und es war herrlich!

Der Kommissar schob die Blätter wieder in die Akte und erhob sich schließlich von seinem Stuhl. Er ging in Richtung Tür. »Ein Kollege wird Sie zu einem Telefon bringen.«

»Ist gut«, erwiderte Alessandro, konnte aber den Blick nicht von dem Ermittler nehmen.

»Ach und ... nein, auf mich wirken Sie nicht wie der typische Vergewaltiger«, sagte der Ermittler und drehte sich an der Tür noch einmal um. »Sie ... haben einfach nichts ... Dominantes an sich.«

Oh, wie recht er doch damit hatte, überlegte Alessandro schmunzelnd.

»Und ehrlich gesagt ...«, der Kommissar musterte Alessandros Erscheinung, »... nun, ich schätze, jemand wie Sie hat es auch nicht nötig, oder?«

»War das ein Kompliment?«, hakte Alessandro erfreut nach.

Koch grinste verschmitzt, erwiderte aber: »Nichtsdestotrotz behalte ich Sie im Auge!«

Darauf hatte Alessandro gehofft.

»Ich bin sicher, wir werden in Zukunft viel Spaß miteinander haben, Kommissar Koch«, rief er dem Ermittler nach, als die Tür hinter diesem langsam zufiel, dabei betonte er mit Absicht die letzten Worte anzüglich.

Oh ja, dachte er bei sich, der neue Ermittler würde endlich frischen Wind in die Stadt bringen.

1

8 Jahre später...

Mona Lorenz schüttelte verärgert ihren Kopf.

Eigentlich wollte sie das hier gar nicht, aber ihr Vater hatte sich mal wieder gegen ihren Willen durchgesetzten. Mit erhobener Stimme hatte er ihre Einwände abgetan und sie zum zittern gebracht. Schon als kleines Mädchen hatte sie Angst bekommen, wenn er schrie, obwohl er sie nie ernsthaft geschlagen hatte, aber die dunkle Stimme ihres Vaters konnte sehr einschüchternd sein. Sogar der Familiehund zuckte dabei zusammen. Deshalb hatte sie auch letzten Endes keine andere Wahl gehabt, als bei dieser Rechtsanwaltsfirma anzurufen, um sich für die angebotene Ausbildungsstelle zu bewerben. Es war eine echte Chance, keine Frage, denn diese Firma stellte auch Personen mit mittelmäßigem Schulabschluss - wie Mona einen hatte - ein. Das Problem war nur, das sie nie Bürofachangestellte hatte werden wollen.

 

Sie war eher eine kreative Person. Zeichnen konnte sie gut. Menschliche Gesichter waren ihre Spezialität. Daraus kreierte sie meistens außergewöhnliche Bilder. Fantasiewesen oder Science-Fiction Kreaturen. Es waren menschliche Gesichter, die aussahen, als wären sie von Computerviren befallen. Ihre Website war sehr beliebt, nur verdiente sie damit kein Geld.

Und da lag das Problem.

Lern was Richtiges, schimpfte ihr Vater.

Und deshalb saß sie nun in dieser großen Rechtsanwaltsfirma, die Arme vor der Brust verschränkt und ärgerlich den Kopf schüttelnd.

Mona seufzte leise.

Sie wollte das hier nicht, dennoch würde sie sich bei ihrem Vorstellungsgespräch von ihrer besten Seite zeigen. So war sie einfach.

Mittlerweile müsste sie es gewohnt sein, zu Vorstellungsgesprächen gehen zu müssen, zu denen sie nicht wollte. Ihre Familie drückte sie ständig irgendwo rein.

Ist das Sinn der Sache? Funktionierte das System wirklich so? Jeder Mensch sollte einfach irgendetwas arbeiten, völlig egal, ob es ihn glücklich machte oder nicht?

Man brauchte sich nicht über ältliche psychische Erkrankungen zu wundern. Und man musste sich auch nicht fragen, warum sich fast wöchentlich jemand vor einem Zug schmiss. Wer ging denn schon gerne sieben Tage die Wochen zu einem verhassten Job?

Mona wollte das nicht, doch wie so oft hatte sie keine andere Wahl. Genau genommen, hatte sie noch nie eine Wahl gehabt. Dieses Gefühl war schrecklich! Es engte sie ungemein ein. Manchmal, so wie im Moment, hatte sie das Gefühl, deshalb keine Luft mehr zu bekommen.

»Du musst, Mona! Du musst!« – »Ich bin nicht ewig da!«

Jedes Mal wenn ihr Vater oder ihre Mutter so etwas sagten, spürte sie ein eigenartiges Gefühl tief in der Brust. Wie eine Hand die langsam ihre Lunge zuquetschte.

Es war Angst, das wusste sie. Die Angst, irgendwann - so, wie es ihre Mutter immer prophezeite - allein zu sein. Und niemand war gerne völlig alleine und auf sich gestellt, oder?

Was würde sie nur tun, wenn ihre Eltern irgendwann nicht mehr wären? Nicht nur in finanzieller Hinsicht war sie dann aufgeschmissen. Bei wem sollte sie sich einen Rat holen? Wem konnte sie sich dann noch anvertrauen? Wer war da, wenn es ihr nicht gut ging?

Mona war trotz der ständigen Zwänge ein Familienmensch, der ohne den Rückhalt der Familie nicht leben konnte.

»Frau... Hochhausen?«

Mona fuhr hoch, als eine junge Frau mit blondem Haar im Bürooutfit um die Ecke kam. Sie hielt ein Klemmbrett in der Hand, auf dem zweifelsohne die Namen der Bewerber aufgelistet waren, doch Mona war im Moment alleine in dem grauen Warteraum.

Verwundert hob die blonde Frau den Kopf und sah sich suchend um.

Ihr Blick fiel auf Mona und sie wollte wissen: »Sie sind nicht Frau Hochhausen?«

Mona lächelte, schüttelte aber den Kopf. »Nein, mein Name ist Lorenz.«

Die blonde Frau seufzte und sah auf die Liste. »Nun, wie es scheint, hat sich diese Frau Hochhausen anders entschieden oder verspätet sich wohlmöglich.«

Mona wusste nicht, ob und was sie darauf erwidern sollte, deshalb rang sie sich lediglich ein halbherziges Grinsen ab, das sowieso nicht gesehen wurde.

»Also dann«, erhob die blonde Frau wieder das Wort und sah Mona freundlich an. »Dann ziehen wir Sie eben vor. Wie war Ihr Name noch gleich?«

»Lorenz«, wiederholte Mona und erhob sich, »Mona Lorenz.«

Die Frau runzelte die Stirn und begutachtete ihre Liste.

»Hm«, machte sie nachdenklich, »Sie stehen gar nicht auf der Bewerberliste.«

»Ich weiß«, erklärte Mona, »ich habe gestern Abend angerufen und mich beworben, Ihr Kollege sagte, ich solle heute einfach vorbei kommen und meine Bewerbungsunterlagen mitbringen, man würde mich dann drannehmen, wenn die anderen Bewerber durch sind.«

Die Blonde lächelte erneut charmant. »Verstehe. Okay, dann kommen Sie doch einfach schon mal mit, so wie es aussieht, wird Ihre Vorgängerin heute nicht mehr auftauchen.«

Mona folgte der blonden Frau - die sie ohne Neid als Schönheit bezeichnen würde - durch einen langen Flur zu einem Raum voller Schriebtische und Computer.

Mona war kurz verwundert, denn sie hatte einen Konferenzraum mit mehreren Frauen und Männern erwartet, die sie verhören würden. Stattdessen wurde sie zu einem Mann an einem Schreibtisch geführt, der geschäftig auf seiner Tastatur herumklimperte.

Er war klein, bummelig und hatte sein mittelbraunes Haar zu einer schmierigen Frisur gestylt. Sein Anzug war schmutzig, sein Hemd wies Senfflecken auf und seine runde Brille saß schief auf seiner dicken Knollennase.

»Einen Moment«, sagte er abweisend ohne aufzusehen, als Mona neben ihm stehen blieb.

Die blonde Sekretärin drückte aufmunternd Monas Arm und flüsterte ihr freundlich zu: »Viel Glück.«

»Danke«, hauchte Mona zurück und strich sich schüchtern eine ihrer hasselnussbraunen Haarsträhnen, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatte, hinter ihr Ohr.

»Setzten Sie sich«, brummte der Mann am Computer.

Mona kam dem geknurrten Befehl nach und fühlte sich reichlich unwohl, als sie sich auf dem Stuhl niederließ, der an der kurzen Seite des überfüllten Schreibtischs stand.

Sie warf einen unauffälligen Blick auf den Bildschirm des Mannes, konnte aber mit der aufgerufenen Website nichts anfangen. Sie erkannte Fotos von jungen Menschen. Frauen und Männer Anfang zwanzig, vielleicht auch jünger, dahinter las sie Namen ohne Nachnamen und Zahlen mit einem Eurozeichen.

Der Mann, der sich ihr nicht vorstellte, ließ von der Tastatur ab und sah sie an.

Erwischt!, dachte Mona und wurde rot.

Nun lachte der Mann auf. »Keine Sorge, ich mache kein großes Geheimnis daraus, das ich für Sex zahlen muss.«

Mona wünschte, er hätte eines daraus gemacht.

»Interessant, was man mittlerweile alles im Internet erwerben kann«, murmelte sie.

Er lachte erneut auf. »Sie ahnen ja gar nicht, was man noch so alles kaufen kann.«

Nun wandte er sich ab und ließ das Thema fallen. Er schnappte sich ein Blattpapier von einem unordentlichen Stapel und beugte sich mit einem Kugelschreiber darüber.

»So, Frau ... Hochhausen. Sie haben also bereits mehrere Ausbildungen angefangen aber wieder abgebrochen-«

»Ich bin nicht Frau Hochhausen«, unterbrach Mona schnell. »Ich ... Mein Name ist Mona Lorenz, ich wurde vorgezogen, weil Frau Hochhausen wohl nicht erscheint.«

Er brummte etwas Unverständliches und strich etwas auf dem Blatt aus. Dann legte er es auf einen anderen Stapel.

»Haben Sie das Formular ausgefüllt?«, fragte er genervt.

»Nein«, antwortete Mona. »Ich habe gestern Abend angerufen und wurde für heute eingeladen. Ich habe meine Bewerbungsmappe-«

»Lebenslauf?«

Mona stockte kurz, weil sie unterbrochen wurde, antwortete dann aber: »Ja. Natürlich!«

Er streckte den Arm aus und machte mit seinen Fingern eine auffordernde Geste.

Diese herablassende Art die er hier anstrebte, machte Mona langsam wirklich wütend. Am liebsten wäre sie gegangen, doch das würde ihren Vater nur wieder zornig machen, deshalb kramte sie aus ihren Unterlagen den Lebenslauf hervor und gab sie kommentarlos dem Mann.

Er sah sich das Blatt nicht einmal an, er legte es zur Seite und reichte ihr ein Formular.

»Ausfüllen«, befahl er im schroffen Ton und knallte einen Kugelschreiber auf das Formular.

Mona blinzelte ihn verwundert an, doch er würdigte sie keines Blickes.

Ausatmend nahm sie den Kugelschreiber an sich und beugte sich über das Formular. Die ersten Dinge waren leicht auszufüllen und standen bereits in ihrem Lebenslauf: ihr Name, ihr Geburtsdatum, Familienstand. Hatte sie Eltern? - Wenn ja: Name der Eltern, Tätigkeit der Eltern.

Aber dann wurde es kurios.

Sie wurde gefragt, ob sie Medikamente nahm, ob sie ansteckende Krankheiten hätte, ob sie schwanger sei, ob sie rauchte und ob sie schon einmal eine Suchterkrankung aufzuweisen hätte. Zudem wurde gefragt, ob sie zu einem Therapeuten ging.

Mona wusste, worauf das hinauslief.

Diese Firma nahm vielleicht mittelmäßige Schüler an, doch diese mussten voll und ganz gesund sein. Körperlich und psychisch.

Kurz war sie versucht, einzutragen, dass sie eine ehemalige Alkoholikerin wäre und abhängig von schwere Psychopharmaka war. Doch stattdessen kritzelte sie einfach irgendwelche Zeichen in die Spalten, damit es so aussah, als hätte sie etwas eingetragen. Säße sie nicht direkt neben diesem Typ, hätte sie sich die Mühe erspart.

Wie nicht anders erwartet, nahm er das Formular ohne einen Blick darauf geworfen zu haben an sich und legte es zu ihrem Lebenslauf.

»Danke. Warten Sie bitte draußen, wir geben Ihnen gleich bescheid.«

Mona hätte gerne abfällig geschnauft, doch sie verbiss es sich. Kommentarlos erhob sie sich und wandte sich ab.

Ekelhafter Lustmolch!, schimpfte sie in Gedanken. Da schaut er sich im Internet Prostituierte an, anstatt anständig seinen Job zu machen!

Aber ihr konnte es recht sein. Nun, da sie das Formular nicht richtig ausgefüllt hatte, waren ihre Chancen hier sowieso auf Null zurückgeschnellt.

Mona kam wieder im Wartebereich an, nun saß die blonde Frau hinter dem Anmeldetresen. Sie lächelten sich zu, als Mona sich setzte.

Kurz darauf klingelte ein Telefon. Die Sekretärin nahm den Hörer ab und ging ran. Sie horchte, legte auf und verließ den Raum.

Mona seufzte tief und lehnte sich gegen die Stuhllehne. Sie wollte hier raus und endlich nach Hause. Hier in dieser Firma würde sie nicht einmal arbeiten wollen, wenn man sie darum anbetteln würde. Ihr Vater sähe das bestimmt anders, aber Mona hatte ein schlechtes Gefühl. Und im Zweifelsfall verließ sie sich stets auf ihre Gefühle.

Mona musste noch eine volle Stunde warten, eher die blonde Frau wieder auftauchte und mit einem bedauerlichen Blick auf sie zukam. »Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten, aber manche Bewerber werden sofort überprüft, das erspart uns viele Telefonate.«

Mona erhob sich und zog den Riemen ihre Tasche über die Schulter. Sie wusste, was nun kam.

»Tut mir sehr Leid, Frau Lorenz, aber ... Sie sind nicht das, was wir suchen.«

»Schon gut. Verstehe schon.«

Die Sekretärin sah sie mitleidvoll an: »Tut mir wirklich leid.«

»Muss es nicht.« Mona lächelte und dachte bei sich, das sie noch einmal davon gekommen war.

Sie verabschiedete sich von der Frau und verließ den großen Bürokomplex.