Buch lesen: «Mettes Flucht in den Tod»
Table of Contents
Das Buch
Verlag
Die Orte des Geschehens
Die Karte der Vogtei Scheeßel
Hauptpersonenregister
Glossar
Prolog
Kapitel 1 Die Jahre 1596 - 1623
Kapitel 2 Die Jahre 1624 - 1643
Kapitel 3 Die Jahre 1644 - 1661
Kapitel 4 Die Jahre 1662 - 1663
Kapitel 5 Das Schicksalsjahr 1664
Epilog „Für Mette“
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Das Buch
Über die dunkle und unrühmliche Geschichte des ehe-maligen Amtes Rotenburg und seiner „Hexenprozesse“ wurde schon viel geschrieben und veröffentlicht.
In meinen drei vorhergehenden, historischen Romanen habe ich dieses Thema bewusst aufgegriffen und über die tragischen Schicksale von Gretge Meinken, Mettes 17-jähriger Tochter, die als Hexe verurteilt und hingerichtet wurde, aber auch über das Schicksal von zwei weiteren Frauen berichtet, welche angeklagt und verurteilt wurden, weil Gretge sie der Hexerei beschuldigte.
Die schlimmen Erlebnisse und der grausame Freitod von Mette Meinken, einer geborenen Hoops, habe ich zum Anlass genommen, einen weiteren historischen Roman in dieser Reihe zu verfassen.
Er fußt auf wahren und folgenschweren Begebenheiten und beinhaltet überlieferte Tatsachen, enthält aber auch dem Roman geschuldete Zusammenhänge. Weiterhin enthält er neben authentischen auch frei erfundene Personen.
Die Orte sowie die Namen der in den historischen Texten erwähnten Personen wurden nicht verändert.
Viel Freude beim Lesen wünscht Ihnen
Jürgen Hoops von Scheeßel
ibidem Verlag, Stuttgart
Die Orte des Geschehens
Karte der Vogtei Scheeßel 1
1 Abb. 1 Karte der Vogtei Scheeßel aus: Geschichte des Kirchspiel Scheeßel,
Meyer, 1955, Seite 517
Hauptpersonenregister
Mettes Familie in Höperhöfen
Mette Hoops verh. Meinken [1624 - 1664]
Joachim Hoops Mettes Vater
Gesche Hoops (geb. Stavenhitter) Mettes Mutter
Harmen Hoops, der Alte Mettes Großvater
Adelheid Hoops Harmens Ehefrau
Cordt Hoops Mettes 1. Bruder
Lucia (Tibke) Hoops geb. Mahnken Cordts Ehefrau
Johann Hoops Mettes 2. Bruder
Marie Hoops Johanns Ehefrau
Harm Hoops Mettes 3. Bruder
Tibecke Hoops Harms Ehefrau
Tipke Pape, geborene Hoops Mettes Schwester
Barthold Pape Tipkes Ehemann
Anmerkung:
Da der Vorname Tibke in den verschiedensten Schreibweisen im Kirchspiel Sottrum sehr beliebt und bei den hier beteiligten Personen mehrfach vertreten war, habe ich ihn vereinzelt zur Vermeidung von Verwirrungen für den Leser verändert, hier aber erwähnt. Der in einer runden Klammer gesetzte Vorname war der historisch richtige. Die Änderung ist dem Leser zur Übersichtlichkeit des Romans geschuldet.
Mettes Familie in Westeresch
Claus Meinken Mettes Ehemann
Margarethe Meinken, genannt Gretge Mettes 1. Tochter
Tietke Meinken Mettes einziger Sohn
Adelheid Meinken Mettes 2. Tochter
Maria Meinken Mettes 3. Tochter
Tietke Meinken, der Alte Claus’ Vater
Margarethe Meinken, die Alte Claus’ Mutter
Catharina Meinken, genannt Trine Gretges Cousine
Erwähnenswerte Personen aus dem Kirchspiel Scheeßel
Johann Holsten Claus Meinkens Nachbar
Tietke Holsten Johanns Vater
Dorothea Holsten, geborene Müller Johanns Frau
Berend Müller, der Scheeßeler Müller Dorotheas Vater
Harm Baden Meinkens Nachbar
Albert Dornemann Pastor bis 1654
Hinrich Meyer Pastor ab 1654
Johann Jordan Oberförster und stv.Vogt
Hinrich Köster Untervogt
Amtspersonen in Rotenburg
Thomas von Gerstenberg bis 1663 Drost
Jost Prott ab 1663 Drost und Oberinspektor
Peter Pabst Amtmann (2. Beamter)
Burghardt Schmidt 1. Amtsschreiber
Hans Zapf, auch Meister Hans Henker (Nachrichter)
Gerdt Schellermann Oberwächter, Schließer im Burggefängnis
Henning Schröder Probst und Pastor
Erwähnenswerte Personen aus dem Kirchspiel Sottrum
Harm Döhrnemann Bauer in Bötersen
Cordt Döhrnemann Harms Bruder
Beke Döhrnemann Cordts Ehefrau
Maria Hastedt geb. Döhrnemann Harms Tochter
Andere Personen
Herman Höborg Bürger in Buxtehude
Hier sind nur jene Personen aufgeführt, die am Geschehen wesentlich beteiligt sind. Dieses Register soll dem Leser zur Orientierung über die im Roman erwähnten Personen dienen.
Weitere, wichtige am Geschehen beteiligte Personen
Margaretha Sonnenberg, Rotenburg
Zillie Bassen, Wittkopsbostel
Cillia Meinken, Oldenhöfen
Anna Veersemann, Ostervesede
auch „Piepen Annken“ genannt
Catharina Heitmann, Abbendorf
auch Catharina „Budden“ genannt
Grete (Margarethe) Heitmann, Westeresch
Anna Hastede, geb. Dreyer, Hetzwege
N.N., eine Frau aus Westerholz
[siehe unten unter Hibbel Röhrs]
Anna Ratchen, Westervesede
Diese Frauen wurden von Gretge Meinken, Mettes Tochter, 1664 als Zauberinnen und Hexen beschuldigt. Über das Schicksal einiger dieser Frauen habe ich in meinen historischen Romanen bereits berichtet.
Hibbel Röhrs, geb. Holsten Tibke Hollmanns
Patin 1607
Gretges Hebamme 1646
Beschuldigte 1664
Glossar
Altenteiler Bauer, der die Führung seines Hofes an seinen Nachfolger übergeben hat
Bademutter ortsübliche Bezeichnung für Hebamme
Braukufe Braubottich
Flett Diele mit offener Feuerstelle im Niedersachsenhaus
Greinen greinende Kinder = wimmern
Hagestolz Junggeselle
Häusling Bewohner eines kleinen Hauses ohne Ackerland
Häuslingshaus kleines Haus, gehört zu einem Hof
Herrenmeier Erbpächter eines Amtshofes
Hester kleines Bäumchen
Holzklotschen geschnitzte Holzschuhe
Höllmannsloch überlieferte Bezeichnung eines Holzverschlages des Scheeßeler Untervogts,
in dem Menschen, vergleichbar einer Zelle bei der Polizei, eingesperrt wurden.
Kate kleines Haus mit wenig Ackerland
Kötner Bewohner einer Kate
Leibchen Mieder zum Schnüren
Magister Doktorand mit Studium, z. B. Jurist
Neptis Enkelin
Pollholz am Waldboden liegendes Astwerk
Prieche Empore in der Kirche
Rähm Funkenschutz über dem offenen Feuer
Schauer überdachter Unterstellplatz für Fuhrwerke
Schürken Zahnkrämpfe bei Kindern
snacken Plattdeutsch für „sich unterhalten“
Voller Hof ein ungeteilter Hof, Vollhof Hele Hoff
Wams Unterziehjacke
Das Flett 1
Das Zweiständerhaus in Niedersachsen2
1 Abb. 2 Grundriss eines Niedersachsenhauses mit Flett und Diele aus: Gerhard Eitzen, Bauernhausforschung in Deutschland, Seite 240 Abb. 15.2 Maßstab 1:200
2 Abb. 3 aus Fachwerkhaus aus Wilhelm Bomann, Bäuerliches Hauswesen und Tagewerk im alten Niedersachsen, Seite 6.
Prolog
29. Juni 1664
Es war später Nachmittag. Die Apothekerfamilie Aldendorfer hatte sich vor ihrem Haus an der schmalen, kopfsteingepflasterten Straße versammelt, die parallel zur Vorstadt verlief. Georg Aldendorfer, das Familienoberhaupt, war in ein angeregtes Gespräch mit dem Rotenburger Küster vertieft, als sie die plötzliche Unruhe, die die Menschen auf der Straße ergriff, aufhorchen ließ. Aldendorfer und der Küster blickten gespannt auf.
Sie erkannten Meister Hans, den hiesigen Henker, der auf seinem kräftigen Rappen aus Richtung der Burg kommend, langsam auf sie zuritt. Hans schleifte einen großen, länglichen Gegenstand an einem Strick über das Steinpflaster.
Als er nur noch einen Steinwurf entfernt war, schnappte Aldendorfer nach Luft. Nun konnten er und die Umstehenden erkennen, was Hans so achtlos hinter sich herzog: Es war ein Mensch, am Hals angebunden, mit zerrissenen Kleidern, blutig geschunden. Schockiert und gleichsam neugierig versuchte Aldendorfer, das Geschehen genauer zu erfassen. Das Geschöpf war eine alte Frau, das erkannte er jetzt, Arme und Beine hingen schlaff am Körper. Die Frau war tot.
Regina, Aldendorfers Frau, ließ ein Wimmern ertönen, sie drehte sich zur Seite und erbrach sich. Sie hatte die Tote erkannt. Es war Mette Meinken.
Als der schauerliche Reiter vorbeigezogen war, sagte der Küster zu Georg: „Das muss die alte Meinken gewesen sein. Sie hat sich heute Morgen in der Zelle umgebracht. Ich weiß es von meinem Schwager.“
„Was ist eigentlich mit dem Fuhrmann und seiner Tochter?“, fragte er den Küster vorsichtig. Der zuckte kurz mit den Schultern, verabschiedete sich rasch und entfernte sich eilends. Auch ihm war übel geworden. Er wollte es sich nur nicht anmerken lassen.
Im Amt verbreitete sich die Kunde wie ein Lauffeuer:
„Die alte Hexe Mette ist tot!“
Das Niedersachsenhaus 1
1 Abb 4 ...aus Gerhard Eitzen, Bauernforschung in Deutschland, Seite 416, Abb.A, Zweiständerhaus mit Walmdach, erbaut 1650
Kapitel 1
Die Jahre 1596 - 1623
Es war ein bitterkalter Winterabend im Januar 1604. Seit Tagen hatte ein eisiger Wind über die geschlossene, kniehohe Schneedecke geweht, dabei bizarre Formen und Wehen um jedes noch so kleine Hindernis geformt. Die Sonne spiegelte sich dabei in der Verschmelzung der Eiskristalle, als lächle sie und habe dazu noch Freude am Treiben der Naturgewalten.
In diesen Tagen ging niemand auch nur einen Schritt nach draußen, wenn er es nicht wirklich musste.
Die Menschen in den umliegenden Dörfern hielten die Türen und Fenster fest verschlossen, ja sie verstopften sogar die Ritzen mit alten Lappen, da sonst die wenige lebensnotwendige Wärme nach draußen entwichen wäre. Türen wurden verrammelt und die geschlossenen Fensterläden ließen kein Licht in die Häuser. Da sich in den Dörfern kaum jemand Fensterglas leisten konnte, waren die Rahmen der kleinen Fensteröffnungen mit Tierhäuten bespannt, die auch an hellen Sommertagen wenig Licht in das Innere der großen Fachwerkhäuser ließen.
Harm Hoops, der Bauer und Familienvater, saß an diesem Abend mit seinen nunmehr 49 Jahren dick eingehüllt im Kreise seiner Familie am Flettfeuer, das die lebensspen-dende Wärme sicherte.
Harm sah seinen Sohn und Nachfolger Joachim dankbar und anerkennend an, denn dieser hatte ohne Anstoß von ihm bereits im Herbst die Löcher und Ritzen des Hauses durch den Großknecht Peter mit Lehm und Stroh zuschmieren lassen. Das Werk war zwar gut geraten, trotzdem bibberten sie alle im Hause fürchterlich vor Kälte und ihre Gesichter waren von dieser eisigen Frische gerötet. Die Bärte und Augenbrauen waren trotz Feuer und dicker Winterkleidung mit Eiskristallen überzogen, denn die Temperaturen lagen gleichwohl unter dem Gefrierpunkt.
Die Körperwärme der Menschen und der Tiere, die ja nicht nur in einem Haus, sondern auch in einem Raum lebten sowie das kleine offene Feuer waren die einzigen Wärmequellen in den ungedämmten Häusern jener Zeit.
Neben Harm und seiner Frau Adelheid saßen der ihnen als einziger gebliebene und inzwischen zwanzig Winter alte Sohn Joachim, der betagte Großknecht Peter und die 13-jährige Jungmagd Abelke. Sie saßen auf groben Holzbänken, die um das kleine Feuer gestellt waren, welches in diesen Tagen nicht ausgehen durfte.
Lediglich Harm und seine Frau saßen auf Stühlen, deren Sitzflächen mit einem Geflecht aus Weidenrinde versehen waren.
Das Brennholz, um die Feuerstelle auf diesem Hof auch über einen langen Winder zu versorgen, war vorhanden. Andere hatten keine so üppigen Holzvorräte und ertragreichen Höfe vorzuweisen wie Harm in Höperhöfen.
Sie heizten überwiegend mit Torf, Heide oder auch gar nicht mehr, weil nichts mehr zum Verbrennen vorrätig war. Der diesmal schon sehr früh hereingebrochene und lang andauernde, ungewohnt kalte Winter hatte bei manchem alles Brennbare aufgezehrt. Selbst Möbel, so berichtete man, hätten einige bereits der Not geopfert.
Dass es Harms Familie besser ging, schürte nicht nur Neid, es brachte auch Hass hervor, denn nicht Wenige waren in ihren Häusern bereits verhungert oder gar erfroren.
Harm hatte noch zwei weitere Jungknechte. Diese waren von Harm zur Wintersonnenwende zu ihren Familien entlassen worden und würden in wenigen Tagen zurückkehren.
Der heutige Abend aber war für die Familie auch ein besonders trauriger Tag.
Harms jüngster Sohn Warneke wäre heute 18 Jahre alt geworden, wenn er noch leben würde. Ihnen war nur Joachim geblieben. Die anderen Kinder von Harm und Adelheid waren schon früh an Masern oder Schürken verstorben. Adelheid war eine der wenigen Frauen im Kirchspiel Sottrum, die als Hebamme tätig war. Doch auch sie blieb von Schicksalsschlägen nicht verschont.
Abelke, die Jungmagd, wusste zwar aus Erzählungen durch den Großknecht, dass der jüngere Bruder von Joachim tot war, aber nicht warum.
Sie war nun schon beinahe seit einem Jahr auf dem Hof und es gefiel ihr hier, auch wenn die Arbeit schwer und die Tage lang waren. Sie hatte sich entschlossen, auch Hebamme zu werden und es bei der Bäuerin zu lernen.
So fragte sie Adelheid und sah sie dabei erwartungsvoll, zugleich aber auch zurückhaltend an.
„Was ist mit Joachims Bruder geschehen und wie ist er gestorben?“, wollte sie wissen.
Harm und Adelheid sahen sich an und Harm nickte nach einer Weile zustimmend. Adelheids Lippen wurden sehr schmal und ihre Augen schlossen sich, als ginge sie in sich. Harm spuckte seinen Priem hinter sich auf den Boden, sah nachdenklich in die Runde und begann in einem ruhigen, aber schwermütigen Ton zu erzählen.
„Heute wäre unser Warneke 18 Jahre alt geworden. Du weißt sicherlich, dass meine Frau als Bademutter überall gebraucht wird. Diese wichtige Aufgabe ist bei vielen aber leider mit einem Makel behaftet. Diese Vorurteile waren mir schon als junger Mann bekannt und die Reformation mit der Einführung hier bei uns in der Gegend, da war ich 15 Jahre alt, hat daran nichts verändert. Dennoch habe ich meine Adelheid geheiratet“.
Dabei zwinkerte er ihr liebevoll mit den Augen zu und seine Mundwinkel formten sich zu einem Lächeln.
Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, stopfte in aller Ruhe seine Pfeife und zündete sie mit einem Kienspan an, den er im offenen Flettfeuer entflammte. Er zog zwei, dreimal genüsslich an der Pfeife. Der blaue Rauch seiner „Piep“, wie er sie nannte, fiel im Flett des Hauses nicht mehr auf und auch nicht zur Last, denn das offene Feuer verbreitete schon genug Rauch, weswegen man die Häuser ja auch Rauchhäuser nannte.
Dann schaute Harm zu den über ihnen an der Decke im Rauch hängenden Vorräten an Würsten und Schinken, zog noch einmal freudig an der Pfeife und blies den Dunst langsam nach oben aus, als wollte er einen der Schinken mit seinem Pfeifenrauch umarmen. Die anderen um ihn herum wurden langsam ungeduldig, was Harm sichtlich und in seiner Ruhe genoss. Dann drehte er seinen Kopf und sah Abelke an, die während der ganzen Zeit still das Geschehen aufmerksam verfolgte und dem Rauch gebannt, aber auch nachdenklich nachgeschaut hatte.
Adelheid begann nun zu erzählen, da Harm offensichtlich mit seiner Zeremonie fertig war.
„Kind, du weißt ja auch, dass Hebammen viele Leiden lindern können und dazu den einen oder anderen Umschlag bereiten müssen und Sude kochen.“
„Ja, das weiß ich. Dabei habe ich auch schon mithelfen dürfen“, räumte sie mit Stolz in ihrer Stimme für alle hörbar ein und lächelte, trotz der eisigen Temperaturen auch noch dabei.
„Na, dann weißt du ja auch, dass es mit Zauberkunst und Hexerei nichts, aber auch gar nichts zu tun hat“, warf Harm in seiner väterlichen Art ein.
„Meine selige Mutter war auch Bademutter und hat Mittel hergestellt, um meinen Geschwistern und mir, wenn wir krank waren oder uns wehgetan hatten, zu heilen. Sie hat um die Kräuter und deren Heilkraft sehr gut Bescheid gewusst. Sie lebt leider nicht mehr“, seufzte Abelke und die Augen wurden ihr ein wenig feucht.
„Sie haben sie im letzten Jahr als Hexe in Ottersberg verbrannt und keiner konnte ihr helfen. Sie war keine Hexe und mein Vater hat ihr auch nicht helfen können“, fuhr sie fort und ihre feuchten Augen konnten die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Adelheid beugte sich zu ihr, strich ihr über das Haar und sprach: „Deine selige Mutter war eine ganz liebe und hilfsbereite Frau, die durch Verleumdung, Hass, Neid und Missgunst zu Unrecht auf den Scheiterhaufen gebracht wurde.
Ich kannte sie gut und du bist wie eine Tochter für mich. Leider sind meine eigenen beiden kleinen Mädchen schon im Himmel“, fügte sie wehmütig an.
Die Stimmung im Raum war getrübt und alle saßen nachdenklich in der kleinen Runde.
Dann sah Adelheid ihren Harm an und sagte: „Lass mich in Ruhe weitererzählen, dann geht es mir besser. Du hast sehr gut gesprochen“, lobte sie ihren Mann, der ihr dafür ein Lächeln, ja, fast ein Strahlen schenkte.
„Ich erzähle gerne weiter, ich kann mir dabei vieles von der Seele reden“, stellte sie mehr fest, als dass sie ihn fragte.
Harm pflichtete ihr bei, indem er seine Augen zustimmend verschloss und mit dem Haupt ein wenig nickte.
„Mein Junge hat sich am 15. Juni vor nunmehr fünfeinhalb Jahren das Leben genommen und dabei war er erst 12 Jahre alt. Er hat sich da hinten in der Scheune aufgehängt, weil er die Hänselei und das üble Geschrei „Hexenjunge“ und „Hexenbrut“ nicht mehr ertragen hat und wir ihm nicht die Kraft geben konnten, diese schweren Zeiten durchzustehen. Er war immer ein ganz Stiller und hat miterlebt, wie man mich, so wie deine Mutter auch, der Zauberei beschuldigte. Das war vor bald acht Jahren, zwei Jahre, bevor unser Warneke sich das Leben nahm.“
Adelheid machte eine längere Redepause, die der Knecht Peter nutzte, ein wenig Holz in die kärgliche Glut nachzuschieben. Im Sternfeuer verbrannte das Holz langsamer, hielt die Glut lange, aber die Scheite mussten immer zur Mitte hin nachgeschoben werden.
Jeder saß ganz nah dran, ansonsten wäre von der Wärme nichts zu spüren gewesen. Doch musste höllisch aufgepasst werden, um sich dabei nicht selbst zu entzünden, denn Brandwunden heilten im Winter besonders schlecht.
Peter, der schon unter Harms Vater Warneke gedient hatte, erhob sich zwischendurch, um noch ein wenig Holz zu holen und dabei auch einmal nach dem Vieh zu schauen.
Der Bauer besaß zwei Pferde, einen Ochsen, sechs Kühe und zwanzig Schafe, wobei die Letzteren wegen des nicht auszuhaltenden Gestanks üblicherweise in einem Nebengebäude, dem Schafstall, untergebracht waren. Deswegen musste Peter ab und an doch das Haus verlassen. Er fror dabei jedes Mal trotz Winterbekleidung sehr und wollte sich durch die Bewegung ein wenig aufwärmen.
Die Immen machten im Winter keine Arbeit. Sie durften in ihren Stöcken nur nicht erfrieren. Selbst die sonst immer laut gackernden Hühner saßen heute ruhig und verdächtig still in ihrem Verschlag, ganz eng aneinander gedrängt, um sich gegenseitig zu wärmen. Da war wohl zum üblichen, unrastigen Verhalten kein Antrieb mehr vorhanden.
Während Peter, dick eingepackt, durch die winterliche Eiseskälte vom Haus zum Stall durch den verharschten Schnee stampfte, sah er im Mondschein über die Felder und zu den Nachbarhäusern, die von der winterlichen Starre und vom Wetter ebenso gefangen schienen.
Adelheid fuhr aus ihren Gedanken hoch und mit ihrer Erzählung fort.
„Ich stamme aus Bötersen und bin eine geborene Stavenhitter. Wir wohnten neben Döhrnemanns Hofstelle. Als junges Mädchen hatte der Nachbarjunge ein Auge auf mich geworfen, aber ich wollte ihn nicht und bin meinen Eltern heute noch dankbar, dass sie mich Harm haben heiraten lassen.“
Sie nestelte ein wenig an ihrer Kleidung herum und zog das Kopftuch fester, damit ihr die Ohren nicht erfroren.
„Er nahm es mir so übel, dass ich seinem Werben nicht nachgegeben hatte, dass er mich beschimpfte und als Hure bezeichnete. Dafür hat ihm der Vogt eine saftige Geldbuße von zwei Talern auferlegt, aber das hat seinen Eifer noch mehr angestachelt. Selbst nachdem er verheiratet war und eigene Kinder hatte, nahmen seine Feindseligkeiten kein Ende. Harm und ich sind nun schon 20 Jahre Mann und Frau, aber das wollte er nicht akzeptieren. Mir tat seine Frau leid, die diese Eifersüchteleien und Beschimpfungen, aber auch das Gerede mitbekommen hat. Gott habe sie selig“, sagte Adelheid und schluckte dabei bedrückt.
„Es war vor ungefähr neun Jahren. Da war ich zu Besuch bei meinen Eltern. Ich war damals die einzige Bademutter im Kirchspiel, denn die alte Jette, bei der ich gelernt hatte, war zu klapprig geworden, um weiter als Hebamme arbeiten zu können. Dann schlug das Schicksal zu. Harm Döhrnemanns Frau Beke war soweit. Der Tag ihrer Niederkunft war gekommen und es gab Probleme, denn das Kind hatte sich nicht gedreht und die Nachbarinnen waren verzweifelt, weil sie nicht helfen konnten. Beke drohte mit dem Ungeborenen zusammen einen erbärmlichen Tod zu erleiden. Ich habe das schon mehrmals erlebt und es ist jedes Mal wieder grausam. Nur Gott weiß, warum.“
Peter war inzwischen zurückgekehrt und hatte sich wieder dazu gesetzt.
„Gegen den Willen von Harm Döhrnemann ließ Beke mich rufen, ihr zu helfen. Es war ein schwerer Gang in das Haus des Mannes zu gehen, der alles erdenklich Schlechte und jede Beleidigung, die man sich nur vorstellen kann, über mich erzählt hatte. Aber ich musste der Frau und dem ungeborenen Kind helfen. So ging ich mit und meine alte Mutter begleitete mich, denn mir war bang ums Herz“, beendete sie den Satz mit einem tiefen Seufzer und kniff die Lippen schmal zusammen.
„Dort angekommen, versicherte mir die Magd, dass der Bauer nicht im Hause sei“, fuhr sie fort.
„Als ich an Bekes Bett trat, blieb mir fast das Herz stehen, denn die Frauen hatte mich viel zu spät geholt. Beke litt bereits an einer schweren Vergiftung, denn das Kind war schon tot. Ihr Mann hatte sich zu lange geweigert, viel zu lange, als dass ich beiden das Leben hätte noch retten können. Ich holte das tote Kind mit einigen Mühen aus der sterbenskranken Mutter. Dann blieb ich drei Tage und drei Nächte bei ihr am Bett, kochte einen Sud nach dem anderen und der Herrgott hatte mit der Frau ein Erbarmen und ließ sie leben. Kinder konnte sie danach aber nicht mehr bekommen.“
Abelke hörte gespannt zu, denn sie musste Adelheid auch einmal bei einem solch tragischen Geschehen zur Hand gehen, wobei die Mutter und das ungeborene Kind einen qualvollen Tod starben. Sie hatte sich damals mehrmals übergeben müssen, aber auch viel dabei gelernt. Adelheid erinnerte Abelke während des Erzählens an ihre selige Mutter, die ihr sehr fehlte.
Als Harms Frau mit der Geschichte fortfuhr, wurde Abelke wieder aus ihren Gedanken gerissen.
„Für den Tod des Kindes und der Tatsache, dass seine Frau niemals mehr Kindern das Leben würde schenken können, machte mich dieser Mann, der die alleinige Schuld daran trug, verantwortlich. Dass er damit von seinen Fehlern ablenken wollte, entschuldigt nichts. Er zeigte mich beim Amtmann an, eine Zauberin und Hexe zu sein, die Schuld am Tod des Kindes und allerlei anderer Miss-geschehen und Unglücke sei, die er selbst zu verantworten hatte, aber nun einen Sündenbock in mir gefunden zu haben glaubte. Mit meinem Tod als Hexe auf dem Scheiterhaufen wollte er sich an mir, aber auch an Harm rächen, der ihm in seinen Augen, die Frau, seine Frau weggenommen hatte.“
Sie schaute Abelke prüfend an, ob sie den Rest der Geschichte auch noch verkraften würde, denn der Prozess gegen ihre Mutter hatte ein halbes Jahr gedauert und sie hatten sie bei lebendigem Leib im Nachbaramt Ottersberg verbrannt. Die Schreie der Sterbenden hatte Adelheid nicht aus den Ohren bekommen und Abelke musste als Kind mit ansehen, wie man die Mutter in den Flammen förmlich geröstet hatte. Danach nahm sie das Mädchen in ihre Obhut, schließlich waren sie über viele Ecken miteinander verwandt. Sicherlich, sie war auch mit Döhrnemanns verwandt, aber das hatte alles nichts geholfen, es eher noch verschlimmert. Adelheid war in ihre Gedanken versunken und bemerkte gar nicht, dass die anderen auf die Fortsetzung der Erzählung warteten, bis Harm seine Hand sanft auf die ihre legte und sie mit einem Stirnrunzeln erwartungs- und liebevoll anschaute.
„Entschuldigung“, sagte Adelheid leise und fuhr fort.
„Harm Döhrnemann hatte nicht nur mich beschuldigt, sondern auch noch meine Familie in Bötersen und in Höperhöfen als „Zaubersche“ und „Hexen“ beschimpft. Hinzu kam sicherlich noch, dass er seinen Hof nicht so ertragreich wie mein Harm bewirtschaftete und dem Brandwein sehr zugetan war. Ich wurde verhaftet und mehrmals verhört, wie auch meine ganze Verwandtschaft. Da Döhrnemann aber keinen Beweis für seine Anschuldigungen vorlegen konnte, die Nachbarin, die mich zur Geburtshilfe in sein Haus geholt hatte, unter Eid aussagte, was wahr war, wurde er vor vier Jahren, nach vier ganzen Jahren Prozessdauer, des Landes verwiesen.
Diese Anschuldigungen und Anfeindungen hat unser Warneke nicht verkraftet, dazu kam, dass er in einem Alter war, ein Mann zu werden. Die schiere Verzweiflung trieb ihn zu diesem Selbstmord. Er hatte wenigstens einen schnellen Tod, da er sich das Genick dabei brach. Mein ist die Rache, sprach der Herr, predigt unser Schwattkittel immer von der Kanzel und da hatte er recht behalten.“
„Wieso?“, fragte Abelke erstaunt dreinblickend.
Harm übernahm nun die Fortsetzung der Geschichte, denn er bemerkte, dass das Erzählen seiner Adelheid immer schwerer fiel und sie den Tränen näher war als alle zusam-men dem Sommer.
„Nach vier Jahren Prozess, vielen Vernehmungen und Prozesstagen, wurde dieser gemeine Denunziant verdientermaßen des Landes verwiesen. Sie haben ihn damals an die Grenze zum Amt Rethem geführt. Er musste die „Urfehde“ schwören und versprechen, nie wieder ins Amt Rotenburg zurückzukehren“, sagte Harm und zog ein wenig an seiner Pfeife, als genösse er diesen Moment besonders. Nachdem er den Rauch ebenso genüsslich ausgehaucht hatte, fuhr er fort.
„Einige Tage später hörte ich in der Rotenburger Mühle, dass er bei Kirchwalsede tot am Ast eines Baumes baumelnd aufgefunden wurde und sich selbst gerichtet haben soll. Wie Adelheid schon sagte, der Herr lässt Gerechtigkeit walten.“
Abelke wollte etwas fragen, weil es spannend war und es ihr zu viele Erzählpausen gab, aber der strafende Blick von Harm hielt sie davon ab.
„Bei einem Krug Bier erzählte unser damaliger Amtsvogt, wie es sich seiner Meinung nach abgespielt haben könnte, denn so, wie er ihn vorgefunden hatte, muss der Teufel seine Hände im Spiel gehabt haben. Er hing mit seinem Hals in einer Seilschlinge, oder was von ihm noch übrig war, an einem dicken Ast. Da muss er wohl hinaufgeklettert sein und sich dann fallen gelassen haben.
Der Vogt beschrieb in allen Einzelheiten, wie so ein Genick brechen kann, wenn man es nur richtig macht. Ich hätte mir gewünscht, er wäre jämmerlich röchelnd an Luftnot erstickt, wie der Dieb im letzten Jahr, bei dem der Henker keine gute Arbeit ablieferte.“
Da hielt Harm mit dem Erzählen inne, denn er hatte nicht bedacht, dass Abelkes Mutter kurz danach auf dem Scheiterhaufen starb und das Mädchen ein wenig blass um die Nase geworden war.
Adelheid hatte die Situation sofort erfasst, lächelte das Mädchen an und sagte mit liebevoller Stimme: „Ich glaube, ich erzähle doch weiter“, und tat es auch.
„Mir tat zwar Beke, also Döhrnemanns Witwe, leid, aber ich hätte ihm auch ein langes und sehr qualvolles Ende gewünscht, schließlich hat er meinen Jungen in den Tod getrieben. Dass Beke sich darauf in den Hausbrunnen zu Tode stürzte, traf mich schon. Eigentlich taten mir nur die Kinder leid“, fügte sie leise an.
„Seit dem hat Cordt, der Hinkefuß, Harms jüngerer Bruder, dessen Rolle, mich schlecht zu machen, übernommen. Er verbreitet überall Gerüchte und führt üble Reden über mich. Er hatte auch behauptet, der Teufel, mit dem ich angeblich im Bunde stünde, hätte sich an seinem Bruder in meinem Namen gerächt.
Damit will ich es nun für heute gut sein lassen und du weißt jetzt, was geschehen ist. Sein Selbstmord hat erneut bewiesen, dass ich unschuldig bin.“
Abelke nickte und war froh, dass die Geschichte nicht von Harm weiter erzählt wurde, denn er erzählte Geschichten immer so lebhaft und voller Spannung, dass es ihr dann immer ganz flau im Magen war. Abelke stellte es sich sehr bildhaft vor und es grauste ihr dabei. Zugleich aber verspürte sie das Verlangen, die Geschichte bis zum Ende zu hören.
Sie konnte nachts nicht gut schlafen, weil sie immer noch die Schreie ihrer Mutter hörte, obwohl der Vater ihr damals die Ohren zugehalten hatte. Sie hatte sie dennoch deutlich vernommen. Erst seit sie bei Adelheid in Obhut und nun in Stellung war, ging es ihr immer besser und die Albträume wurde allmählich weniger.
1607
Es war das Jahr, in dem Anna Dreyer in Bötersen geboren wurde, die später Diedrich Hastede aus Hetzwege ehelichte. Im selben Jahr ließ Maria Hastedt aus Bötersen ihre Tochter Tibke taufen, die man später als „Tibke von Bartelsdorf“ benennen würde.