Buch lesen: «Erinnerungen an die "68er": Damals in Dahlem»
ibidem Verlag, Stuttgart
Inhalt
Vorwort
1. Politische Kultur in Deutschland
Demokratische Kultur nach der Diktatur
Rückgriff auf Weimar
Skeptische Generation
Paradigmenwechsel: APO und 68er
Sozial-liberal
Geistig-moralische Wende
Deutsche Einheit
Rot-Grün
Die Ära Merkel
2. Vorher
Noch Krieg
Er wäre so gerne den Hitlerjungen gefolgt
Der junge Mann ist tot
Mottenkugeln in der Kaserne
Abgeholt
Budapest
Der Krieg ist verloren
Alle tot
Panzersperren
Nachkriegszeit
Du Straße fegen
Es waren Polen
Das gibt’s nur einmal
Da sitzt Du nun, Du Herrenmensch!
Neues Deutschland
Ordnung kehrte ein
Der Vater
Ihr Völker der Welt
Kriminalpolizei
Uniformträger
Guten Abend, drüben in Deutschland
Ich bete an die Macht der Liebe
Pieck ist doof
Frieden
Frisch, fromm, fröhlich, frei
Minister in der Lüneburger Heide
Berliner Schülerparlament
Junge Presse Berlin
Der SS-Staat
Die Fichte ist unser Weihnachtsbaum
Karl Marx und AKI
Gottseidank im Westen
3. Dahlem
Nach Dahlem
Werkstudentenzeit
Er war betrunken
Bück' dir doch nicht
Das Wirtschaftswunder
Dahlem: Das deutsche Oxford
Freie Universität (FU)
An der FU
Feierliche Immatrikulation
Darf ich Sie einladen?
Schwarz, nicht rot
Das Geld der Kommilitonen
Fackelzug für den Professor
Revolutionäre FU
Dutschke in der U-Bahn und im Seminar
Die „Keimzelle“
Morgen werden Scheiben bei Springer klirren
Wenn Ihr das nicht kapiert, liegt das an Eurer bürgerlichen Herkunft
Wie die Nazis?
Vollversammlung an der FU
Rote Fahne aus Bettzeug
Kein ausreichendes revolutionäres Bewusstsein beim Berufskollegen
Einschusslöcher
Benno Ohnesorg
Arbeitskreis
Was hat der Struve wieder gesagt?
Ich hab' sogar promoviert
Hätte ich Bundeskanzler werden wollen, wäre ich nicht zur FDP gegangen
Wo sind die Revolutionäre?
Keine grundlegende Gesellschaftsanalyse
Universitätsleben
Der 10er Bus
Und was machen Sie nachts?
Ernst Deutsch darf nuscheln
Alles, nur nicht Wöhe
VWL und Erbsensuppe
Chi-Quadrat und Summe der natürlichen Zahlen
Da gibt’s nichts zum Lachen
Prüfungen
Der Professor hat keinen Sekt da
Rigorosum als Kaffeekränzchen
Rundherum
Ein internationales Ass
Fischbuletten, Zigaretten und CDU-Unterlagen
Landeskind des Freistaates
Fahren Sie bloß keinen Renault
Gesine Schwan und das OSI
RIAS-Jammerchor
Abgebürstet
An der FU kann man offensichtlich sogar studieren
Die sind alle geschult
Der Republikanische Club
Kurras
4. Münster
Wiedertäufer im Käfig
Sie sind mir in meinem Seminar willkommen!
Der alte Teppich
Die Herren von der Universität
5. Hamburg
Brüder und Schwestern aus dem anderen Deutschland
Beaujolais
Spiejel hin und Spiejel her
Ruhe an der Elbe
Heimlich altväterlich
Neue Ostpolitik
Fontane am Dammtor
6. Nachher
Vermarktung der 68er
Westerwelle und die 68er
Auschwitz
Leistung, Gleichheit und Freiheit
Drittelparität
Studium Generale passé
Marsch durch die Institutionen
VIP-Demokratie
Etwas komplizierter
Political Correctness und 68er
Die Antinazis
Ändert sich die Welt?
Don't touch the colours
Pandemie
Dahlem als Epizentrum im Westen
Evaluation und Abwicklung
Dahlem-Dorf und Currywurst
In Memoriam
Otto Stammer
Horst Bosetzky
Vorwort
Mein Freund Horst Bosetzky – also der Krimiautor „-ky“ – hatte kurz vor seinem Tode vorgeschlagen, dass wir gemeinsam ein Buch mit dem Titel „Damals in Dahlem“ publizieren sollten. Das Projekt war vielversprechend. Beide hatten wir in der wilden Zeit um das Jahr 1968 an der Freien Universität Berlin in Dahlem studiert. Beide hatten wir bei unserem verehrten Doktorvater Otto Stammer zugleich promoviert.
Leider habe ich dieses Buch nun allein schreiben müssen.
Damals in Dahlem ging es bürgerlich und revolutionär zugleich zu. Das Bürgerliche hatte uns dort hingeführt. Wir waren als Kriegs- und Nachkriegskinder stolz drauf, es auf die Universität geschafft zu haben. Auch das dort vorgefundene Revolutionäre verlockte uns. Welch eine Gaudi war es, Repräsentanten des politischen Systems als Spottfiguren studentischer Ansammlungen zu erleben! Welche Einblicke in die Psychologie akademischen Gehabes gewährte es, mit „Go“- oder „Sit-Ins“ in altehrwürdige Institutionen einzubrechen und Koryphäen zu albernem Gebaren zu provozieren.
Aber bei allem Lustempfinden:
Die Moral und die Lebensumstände verlangten und erforderten, dass ordentlich studiert wurde. Wir absolvierten Vor- und Zwischenprüfungen, besuchten Vorlesungen, Übungen und Seminare, erwarben Diplom-, Promotions- und Habilitationsurkunden. Die Universität war schließlich zum Studieren da. Und in den Ohren klangen die Worte der Eltern: „Ihr sollt es mal besser haben als wir!“ wie die Mahnung: „Strengt Euch an! Wir bezahlen schließlich alles!“
Für uns Söhne „kleiner“ Beamter aus den Arbeiterbezirken Neukölln und Spandau in Berlin war es ein erheblicher sozialer Aufstieg, an der Freien Universität im vornehmen Dahlem immatrikuliert zu werden. Wir beide waren in den Krieg hinein geboren worden, hatten dessen Sieger kennen gelernt, in Ruinen gespielt, die Spaltung unserer Heimatstadt und unseres Landes erlebt, den Mauerbau und deren Abriss verfolgt, den aufkommenden Wohlstand genossen und waren schließlich überzeugt, dass unser „Westen“ – in dem wir nun lebten – gut, der „Osten“ aber böse war. Nach dem besiegten Nationalsozialismus erschien der Kommunismus als das bekämpfenswerte totalitäre Regime der Zeit.
An der Universität lernten wir, dass hinter dem Kommunismus seriöse Gesellschaftsanalyse steckte. Wir trafen sogar mit Kommilitonen zusammen, die Defizite des „Wohlstands-Westens“ entdeckten – „entlarvten“, wie diese Kommilitonen formulierten. Als Studenten entwickelten wir das Gefühl, dass sich auch im „Westen“ vieles – vielleicht sogar alles – ändern und verbessern ließe.
Die Welt schien gestaltbar zu sein. Da wollten wir Beamtensöhne nicht nur begreifen, was die Welt zusammenhält; wir wollten diese Welt auch aus den Angeln heben können. Also studierten wir, was das Zeug hielt, damit das gelingen könnte.
Hinterher geschah viel: Ein amerikanischer Präsident wurde ermordet, der Westen entwickelte Züge einer Klassengesellschaft, Muslime versetzten den USA einen Hieb, der Ost-West-Gegensatz löste sich auf und Deutschland wurde mit Berlin als Hauptstadt wiedervereint, Europa versuchte, Weltmacht zu werden. Kriege brachen allenthalben aus. Es setzte eine globale Völkerwanderung von Süd nach Nord und von Ost nach West ein. Schließlich beendeten Klimawandel und Pandemie die Träume von der Machbarkeit der Welt.
„68“ war zuvor vermarktet worden. Es wurde idealisiert, es wurde verfälscht. Als selbstverständlich aber wurde ein für alle Mal erachtet, dass Regeln Inhalte brauchen, um anerkannt zu werden.
Die Zeit damals in Dahlen war eine historische Episode, in der es schien, als hätten die Menschen es in der Hand, die Welt nach ihrem Gusto zu gestalten. Doch mittlerweile wissen wir: Unser Einfluss auf den Lauf der Welt ist gering.
Ich danke meiner lieben Elke für die mannigfache Hilfe beim Erstellen dieses Buches, für Hinweise und Ratschläge. Meiner Enkeltochter Luna Dittberner danke ich für manchen Tipp beim Umgang mit dem Computer.
Berlin 2021, Jürgen Dittberner
1. Politische Kultur in Deutschland
„Politische Kultur“ ist ein Sammelbegriff für die politischen Institutionen und Werthaltungen in einem Gemeinwesen, sofern diese für die Politik relevant sind. Jedes politische System hat eine politische Kultur – gleichgültig, ob es sich um eine Dynastie, eine Diktatur oder einen Rechtsstaat handelt.
In westlichen Gesellschaften wird eine politische Kultur, in der Menschenrechte, Demokratie, Wohlstand und Stabilität geachtet und infolgedessen angestrebt werden, positiv bewertet. Immer wieder, so nach dem Sturm auf den amerikanischen Kongress am 6. Januar 2021, wird die Gefährdung einzelner politischer Kulturen beschworen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich seit ihrer Gründung nach dem 2. Weltkrieg immer wieder gewandelt. In der „Ära Adenauer“ wurde der aus den drei westlichen Besatzungszonen geschaffene neue Staat mit Bonn als Hauptstadt in die westliche Welt integriert. Diese „Westintegration“ Konrad Adenauers ging einher mit dem „Wirtschaftswunder“ Ludwig Erhards, das zunehmenden Wohlstand brachte.
Mit dem Bau der Mauer wurde ein tiefgehender und globaler Ost-West-Gegensatz manifestiert.
In der sozial-liberalen Zeit wurde unter Willy Brandt und Walter Scheel eine „neue Ostpolitik“ eingeleitet, die eine Entspannung zwischen den verfestigten Blöcken im Kalten Krieg zwischen Ost und West bewirkte.
Die von den Universitäten ausgehende APO verknüpfte die bislang vorwiegend formelle Demokratie mit inhaltlichen, oft auch immateriellen Werten wie Freiheit und Gerechtigkeit.
In der „Ära Kohl“ dann wurde der Prozess der europäischen Integration vom Bundeskanzler vorangetrieben.
Die „deutsche Vereinigung“ verstärkte zwar das internationale Gewicht der Bundesrepublik, bereitete dem größeren Staat mit der nunmehrigen Hauptstadt Berlin im Innern aber Integrationsprobleme.
Unter Gerhard Schröder als Bundeskanzler wurde der deutsche Arbeitsmarkt durch die „Hartz-Reformen“ modernisiert, und die Arbeitslosenzahlen sanken. Gleichzeitig emanzipierte sich die Bundesrepublik von der Vormacht USA und verweigerte die Teilnahme am Irak-Krieg.
Die CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel sozialdemokratisierte das Land. Der Kampf gegen den Klimawandel wurde Staatsziel, der Atomstrom geächtet, die Massenintegration geflüchteter Ausländer gefördert.
Die Corona-Krise schließlich beendete den rasanten Aufstieg des Landes. Wann die Krise enden wird, ob an Altes angeknüpft werden kann, weiß niemand.
Demokratische Kultur nach der Diktatur
Es stellte sich für westliche Beobachter nach dem 2. Weltkrieg die Frage, ob in Westdeutschland auf die Diktatur des Nationalsozialismus eine demokratisch politische Kultur folgen könnte. In international vergleichenden Studien wurde die politische Kultur in der Ära Adenauer empirisch untersucht.1 Dabei kam heraus, dass die Bürger der Bundesrepublik die Demokratie zwar mittrugen, aber gewisse autoritäre Einstellungen aufwiesen. Diese Einstellungen bezogen sich vor allem auf den Staat („Vater Staat“) und waren wohl auch der Grund dafür, dass eine Persönlichkeit wie Konrad Adenauer als Kanzler eine dominante politische Stellung einnehmen konnte.
Erstaunlich ist, dass das positive Verhältnis zum Staat den Nationalsozialismus überdauert hatte. Dass es den Nationalsozialismus gegeben hatte, ist auch eine Folge eines in Deutschland tief verwurzelten Vertrauens in den Staat, der seine Rolle selbst dann behielt, wenn er zerstörerisch und verbrecherisch agierte. „Staat bleibt Staat!“ – wenn auch die Inhalte radikal wechseln. So konnte beispielsweise für das Berufsbeamtentum eine Kontinuität geschaffen werden, die sich von der Weimarer Republik über den Hitler-Staat bis in die Bundesrepublik fortsetzte.
Es ist bekannt, dass im angelsächsischen Denken, besonders in den USA, der Staat diese Rolle niemals hatte, sondern eher als mächtiger, oft lästiger, Akteur im Interessenwettstreit zwischen privaten und öffentlichen Ansprüchen erschien. „Uncle Sam“ sorgte nie für Wohl und Wehe der Seinen; er war kein Protektor, sondern ein Fordernder, ein Interventionist.
Der Hinweis auf das „staatsgläubige“ Denken der deutschen Demokraten sollte nicht als Abwertung einer reifen demokratischen Kultur verstanden werden, sondern als hinnehmbarer Unterschied. Denn es ist eine Gefahr von Analysen politischer Kultur aus US-amerikanischer Sicht, dass „anders“ oft als „weniger entwickelt“ verstanden wird.
Rückgriff auf Weimar
Dass die Bundesrepublik nach 1945 umschalten konnte auf den Zustand einer bürgerlich-demokratischen politischen Kultur, ist nicht primär eine Folge der „Re-Education“-Bemühungen der alliierten Sieger, sondern ein schlichter Rückgriff auf die – allerdings etatistische – politische Kultur der Weimarer Republik. Wieder gegründet wurden die Weimarer Parteien. Die Union (CDU und CSU) rekurrierte auf dem alten Zentrum, der konservativen DNVP und einigen Liberalen. Die SPD erstand erneut, und die FDP knüpfte an die Parteien DDP und DVP an. Der Föderalismus war das A und O des staatlichen Neubeginns. Für seine Repräsentanz wurde die deutsche Bundesrats- und nicht die amerikanische Senatslösung gewählt.
Aus dem Reichs- wurde der Bundeskanzler – dieser allerdings mit alleiniger Verantwortung gegenüber dem Parlament, mit der Richtlinienkompetenz und der Abwahlmöglichkeit nur über ein konstruktives Misstrauensvotum gestärkt. Der Bundespräsident wurde zum obersten Notar der Republik, gewählt von einer Bundesversammlung und nicht direkt durch das Volk. Einen „Ersatzkaiser“ sollte es nicht geben. Aus der Erfahrung heraus, dass der Rechtsstaat von Weimar, ohne juristisch aufgehalten zu werden, in eine Führerdiktatur übergleiten konnte, wurde das Bundesverfassungsgericht kreiert. Es hatte sich lange Zeit als „Hüter der Verfassung“ bewährt.2
Zwar waren die Millionen von Mitgliedern der NSDAP 1945 von einem Tag auf den anderen wie in Luft aufgelöst; die NS-Ideen von Führerstaat, die Eroberungslust, die Rassenüberheblichkeit und der Judenhass jedoch steckten weiterhin in vielen Köpfen. Aber diese Einstellungen waren nun tabuisiert. Wo sie hochkamen wie bei der rechtsextremen SRP, bei Teilen der AfD, ging der Staat mit Parteienverboten oder politischen Gegenstrategien vor. Nazireden verstießen gegen den öffentlichen Konsens. Das begriffen die meisten schnell. Im vorpolitischen Alltag aber – in Familienkreisen etwa – waren sie noch gewärtig:
„Hitler war gar nicht so schlecht; er hätte nur nicht mit den Juden anfangen sollen. – Um die Autobahnen beneidet uns heute die ganze Welt. – Der ‚Ami‘ hätte 1945 mit uns weiter nach Osten gegen den ‚Iwan‘ gehen sollen. – Die Juden waren selbst schuld: Sie haben sich vor 1933 eben zu sehr nach vorne gedrängt.“:
Solche Reden waren im „privaten Rahmen“ oft zu hören.
Skeptische Generation
In der offiziellen Politik war dergleichen jedoch verpönt. Die Legitimität des demokratischen politischen Systems in der „Ära Adenauer“ wurde vor allem durch das „Wirtschaftswunder“ fundamentiert. Die durch Krieg und Niederlage ausgezehrten Menschen stürzten sich in die Arbeitsprozesse, schufen materielle Werte wie Lebensmittel, Kühlschränke, Autos und Fernseher, nach denen sie lechzten und die sie so haben wollten wie im bewunderten vermeintlichen Paradies auf Erden: wie in „Amerika“ – wie in den USA.
Die Masse der Bevölkerung gab sich dem Schaffen und Konsumieren hin. Nach den Heilsparolen des untergegangenen Regimes begehrte sie Diesseitiges. Die junge „skeptische Generation“3 wollte von Ideen nichts mehr hören und sich mit Gütern beglücken.
Die Politiker rekrutierten sich aus zwei Generationen: Die alten Politiker der Weimarer Zeit übernahmen zunächst die Führung: Konrad Adenauer, Theodor Heuß, Kurt Schumacher und andere. Zu ihnen gesellten sich um ihre Jugend betrogene Frontsoldaten und Flakhelfer: Helmut Schmidt, Franz Josef Strauß, Rainer Barzel oder Hans-Dietrich Genscher. Diese hatten Lebenserfahrungen, und darauf basierend klare politische Ziele: Niemals mehr sollte die Demokratie von einer Diktatur oder von hochfahrenden Visionen verdrängt werden können: „Misstrauisch gegenüber Utopien und großen weltanschaulichen Würfen, betrieben sie Politik nüchtern und pragmatisch.“4
Einer von ihnen war auch Rudolf Augstein, Gründer und Herausgeber des „Spiegels“. Er wuchs mit seinem Magazin zum Symbol der zivilen demokratischen Distanz zum allzu oft nur formalen Rechtsstaat der „Ära Adenauer“ heran. Damit lebte Augstein besonders der studentischen Jugend zu Beginn des 60er Jahre eine an den Menschenrechten orientierte demokratische Kultur vor. In die gleiche Richtung gingen Wirkungen der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichtes wie im Falle des „Fernsehurteils“ vom 28. Februar 1961, das ein von Konrad Adenauer gewolltes kommerzielles Staatsfernsehen („Deutschland Fernsehen GmbH“) stoppte. Stattdessen nahm am 1. April 1963 neben dem von der „ARD“ („Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland“) ausgestrahlten Fernsehen eine zweite öffentlich-rechtliche Anstalt, das „ZDF“ („Zweites Deutsches Fernsehen“), Sendebetrieb auf.
Paradigmenwechsel: APO und 68er
Augstein und die „Spiegel“-Affäre wurden zum Katalysator für einen Paradigmenwechsel der politischen Kultur der Bundesrepublik: Auf Weisung der Bundesanwaltschaft wurden in der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober 1962 die Redaktionsräume des Nachrichtenmagazins durchsucht. Anlass war eine vermeintlich die Sicherheit der Bundesrepublik gefährdende Veröffentlichung über das NATO-Manöver „Fallex 62“. Die Durchsuchung, die Festnahme von Journalisten und die harte Haltung Adenauers („Ein Abgrund von Landesverrat“) sowie seines Verteidigungsministers Franz Josef Strauß brachten eine intellektuelle und linksbürgerliche Öffentlichkeit gegen die Bundesregierung und die reaktionär erscheinende Union auf. Der Verteidigungsminister musste demissionieren, und am 19. November 1962 zog die FDP ihre Bundesminister aus dem Kabinett zurück.5
Rudolf Augstein wurde zum Helden der Hörsäle der Bundesrepublik. „Rudi“ war für die studentische Generation das Idol der Zeit. Durch ihn war deutlich geworden, dass die formal-demokratischen Strukturen des Staates in der Ära Adenauer inhaltlich angereichert werden müssten durch ein materielles Verständnis von Demokratie als Verhaltensnorm der Bürger und des gesamten Staatsapparates. So führte ein direkter Weg von der „Spiegel“-Affäre hin zur Regierungserklärung des 1969 gewählten sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt, der seine innenpolitischen Ambitionen auf die Formel brachte: „Mehr Demokratie wagen“.
Nach der Erkenntnis, dass eine lebendige Demokratie nicht nur Strukturen wie allgemeine Wahlen und daraus hervorgehende Parlamente braucht, sondern auch eine unabhängige Justiz und eine wirklich freie Presse, setzte sich in der studentischen Jugend die Einsicht durch, dass eine „außerparlamentarisch“ organisierte Öffentlichkeit mit Demonstrationen, Versammlungen und gelegentlichen Regelverletzungen Gerechtigkeit und Bürgerfreiheit schaffen könnte. Der APO6 folgten Bürgerinitiativen auf kommunaler Ebene und die Entfaltung eines neuen politischen Bewusstseins. Dieses Bewusstsein verließ die Vorstellung des paternalistischen Staates und rückte Bedürfnisse der jeweiligen Persönlichkeiten ins Zentrum. Diese Bedürfnisse zielten zunächst auf den sozialen Status („Chancengleichheit“), später auf allgemeine politische Werte wie „Umweltschutz“ oder „Frieden“ und „Klimaschutz“.
Beobachter nannten das den Übergang von materialistischen zu postmaterialistischen Werten.7 Diese Veränderungen betrafen die in der Bundesrepublik sozialisierte Nachkriegsgeneration.
Der Irritation über die Festnahmen und Durchsuchungen beim „Spiegel“ folgten
das Aufdecken eines „Bildungsnotstandes“ von den Zwergschulen bis hin zu den Ordinarienuniversitäten,
die durch die Vietnam-Intervention bewirkte Abkehr vom Idol der USA,
ein Ende der Toleranz gegen die Hitlerverniedlichungen der Vorgängergeneration
und
die Einsicht in die umweltzerstörende Wirkung einer bis dahin unkritisch betriebenen Industrialisierung.
Die Veränderungen im politischen Bewusstsein ereigneten sich vorzugsweise im studentischen Milieu und wurden dort forciert durch „linke“ Gruppierungen wie den SDS („Sozialistischer Deutscher Studentenbund“) und den SHB („Sozialdemokratischer Hochschulbund“), dann auch durch den LSD („Liberaler Studentenbund Deutschland“). Das waren ursprünglich Studentenorganisationen der politischen Parteien SPD und FDP, die – wie der SDS – entweder von der Mutterpartei „verstoßen“ wurden oder sich von ihr abwandten. Die sich aus der Studentenschaft entwickelnde APO bekam Zulauf durch die abstoßende Wirkung einer bösen Polemik der „Springer“-Presse, durch autoritäre Reaktionen der Ordinarien-Universitäten und durch das harte Vorgehen der Polizei gegen Protestaktionen. Der tödliche Schuss eines Polizeibeamten gegen den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 vor der Deutschen Oper in Berlin anlässlich des Besuchs des Schahs von Persien hatte eine breite Mobilisierung zur Folge. Den bisher vor allem sozialistisch und marxistisch ausgerichteten Protestaktionen schlossen sich nun Liberale und Konservative unter der akademischen Jugend an.8
Die studentische Protestbewegung – im Nachhinein oft „68er-Bewegung“ genannt9 – hatte vielfach zu einer Vertiefung des demokratischen Bewusstseins geführt. Bürgerinitiativen außerhalb der Parteien und des offiziellen politischen Systems wären ohne die 68er nicht entstanden, und dass die „Grünen“ 1983 in das Kartell des Zweieinhalb-Parteiensystems eindringen konnten10, geht auch auf die studentische Protestbewegung zurück.
Freilich bildete sich aus der Bewegung eine Nebenströmung, die im Terrorismus mündete und über die RAF11 verfügte. Die Reaktion des Staates auf diese Entwicklung war hart und unerbittlich. Schon der erste sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt hatte einem „Radikalenerlass“ zugestimmt, nach dem den als „Verfassungsfeinde“ deklarierten „Linken“ der Zutritt zum öffentlichen Dienst verwehrt werden sollte. Unter Brandts Nachfolger Helmut Schmidt wurden erpresserische RAF-Ultimaten missachtet mit der Folge der Ermordung des als Geißel genommenen BDI-Präsidenten12 Hans-Martin Schleyer. Es gab zum allgemeinen gesellschaftlichen Demokratisierungsschub eine Gegenentwicklung, so dass der Staat sich einer „wehrhaften Demokratie“ verpflichtete.
Die Anfänge der 68er lagen jedoch nicht nur in der Abkehr von materiellen und der Hinwendung zu postmateriellen Werten. Es ereignete sich vielmehr ein globaler Paradigmenwechsel: Das 50er-Jahre-Idol USA wurde Ziel tiefer Ablehnung und verbaler Angriffe. Der Dualismus des Kalten Krieges wurde zugleich aufgelöst in Richtung einer Annäherung zwischen Ost und West, und das Tabu, sich mit den Lehren insbesondere von Karl Marx nicht zu beschäftigen, wurde gebrochen.
War nämlich Amerika in den fünfziger Jahren das allgemeine Vorbild in der Demokratie, der Kultur und im Konsum, so verschwand das mehr und mehr, als die USA einen Interventionskrieg gegen ein kleines Volk in Vietnam führten. Aus Befreiern wurden in den Augen Vieler Interventionisten, aus Demokraten Nationalisten und aus Konsumenten Umweltzerstörer. Es war weder offizielle Politik, die solchen Wandel des Amerika-Bildes bewirkte, noch war es die Masse des Volkes: Studenten und intellektuelle Minderheiten demontierten das Idol. Dafür ernteten sie auch Hass der Straße und der politischen Eliten.
Es sollte über vierzig Jahre dauern, bis die Amerika-Distanz die offizielle deutsche Politik vereinnahmt hatte: Insofern waren Gerhard Schröder und Josef Fischer späte 68er oder – genauer: Sie ernteten Früchte der 68er Bewegung!
Der Antiamerikanismus der 68er war ursprünglich schlechten Gewissens in die deutsche Öffentlichkeit getragen worden. Dabei hatte es – wie gesagt – geholfen, dass es im westlichen Ausland Parallelentwicklungen gegeben hatte: Demonstrationen in Paris und in den USA selbst. So konnten die deutschen Antiamerikanisten sagen, sie wären nicht gegen das amerikanische Volk – da wären sie sogar solidarisch zu den „Genossen“ in Berkeley: Sie würden sich vielmehr gegen das politökonomische US-System wenden, das die Völker – auch das der USA – versklaven wolle.
Das passte zur Marx-Renaissance. Von Konrad Adenauer13 bis zum Sozialdemokraten Kurt Schumacher14 war sich die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft einig: Nationalsozialismus und Kommunismus wären gleichermaßen totalitäre Systeme. Von Schumacher stammt das Wort, die Kommunisten seien „rot lackierte Nazis“. Die Theoretiker des Kommunismus waren in der Zeit des „Kalten Krieges“ im Westen verfemt. Niemand musste fürchten, sich zu blamieren, wenn er das „Kapital“ und „Mein Kampf“ auf eine Stufe stellte. Da war es eine Provokation und ein Tabubruch, als der SDS damit anfing, Marx-Rezeptionen in die Öffentlichkeit zu tragen. Das war jedoch die Folge auch jenes Unvereinbarkeitsbeschlusses, mit dem die SPD nach ihrem nunmehr an der CDU orientierten Godesberger Programm 1969 den störrischen Studentenbund SDS aus der sozialdemokratischen Familie verstieß.