Buch lesen: «Gemeinsame Sprache»
Jürg Halter
Gemeinsame Sprache
Gedichte
DÖRLEMANN
Alle Rechte vorbehalten
© 2021 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Anneka Beatty und Jürg Halter
Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-03820-989-8
Inhalt
Cover
Titelei und Impressum
Inhalt
Widmung
I - Ein Staubkorn in der Ewigkeit Anfang Liebe als Bewegung Defektes Leben Zu große Gefühle An eine Wand zu sprühen Suche nach Verbündeten Magische Heimat Frau in geparktem Mercedes Nachtschwimmen Allein, allein Kosmisches Gedicht
II - Wir schaffen das Gute Menschen Schichten Blick aus der Vergangenheit Pionier ohne Grund Unsere Namen Gott vor dem Urknall Die Fragwürdigkeit des Menschen Großes, wandelndes Blatt Lockdown Offenes Weiß Monolog einer Pfütze
III - Kommendes Paradies Kommendes Paradies I II
IV - Unheilbar am Leben Schwarze Tauben fliegen auf Spiegelgedicht Irgendwann am Abgrund die Erlösung Ewige Sekunden Flug der Identitäten Ohne Ende Ich glaube Ohne Titel (blau) Teenage Sonnenuntergang Im Himmel über Berlin Am Horizont
V - Roter Faden Episch Sein Zimmer (tolstoisiert) Neues Ritual Die erste Präsidentin der Vereinigten Staaten Vermisste Katzen Roter Faden Dankesbrief an den Surrealismus Mein Papierkorb Das niemals niemanden verletzende Abc (der Rest ist Schweigen) Sprachverlost Notiz
VI - Die beste Gesellschaft Die beste Gesellschaft
VII - Der Handel mit zukünftigen Schulden Tödlich Künstliche Intelligenz Gedicht für eine beliebige Nation Erste Hilfe für Anzugträger (auf dem Paradeplatz in Zürich rumzuschreien) Atheistisches Gebet Rede eines Versicherungsspions Kriegserklärung Parallelflüchtende Blow Job Ein Kind Versinken
VIII - Als wäre Liebe zu ertragen Gemeinsame Sprache Liebe Sandmann Eines fürs Poesiealbum Zusammen kochen Beinahe ein Liebesgedicht Sie schläft jetzt mit einem anderen Relativitätspoesie Schwarz-rosa Deine Jacke Glimmen
IX - Wenn die Worte aufgebraucht sind Wenn die Worte aufgebraucht sind
Nachtrag Kunst
Zum Autor
Zum Buch
Danksagung
Für uns, jene und die anderen
I
Ein Staubkorn in der Ewigkeit
Anfang
Trenn das Band,
eröffne ein
neues Land.
Liebe als Bewegung
Sie wechselt die Straßenseite,
geht mit den Fersen voran –
deine Liebe als Bewegung
rückwärts in eine offene Vergangenheit.
Wenn wir uns am sichersten fühlen,
holen uns manchmal Bilder ein,
die wir bis zum Schluss nicht
lesen können.
Defektes Leben
Wir sind krank nach uns selbst,
an den schönsten Orten der Welt,
lassen uns sagen, wo diese liegen,
sehnen in die Weite, sehnen uns matt.
Wir sparen uns für eine Zukunft auf,
um die wir uns selbst betrügen.
Wir treten besonnen ans Feuer,
niemals wollen wir brennen.
Wir verschwenden uns wohltemperiert,
betäubt von der Hitze, die uns fehlt,
warten wir – dass das wahre Leben beginne
(etwa nach der nächsten Eiszeit).
Solange wir unseren Tod verdrängen,
kommen wir nicht lebendig zur Wahrheit,
danach zu leben heißt zweifelsohne nicht
täglich vor Todesangst zu sterben.
Zu große Gefühle
Über Verlorenes nachdenken,
bis man selbst verloren geht.
Aufgewirbelter Staub,
der sich auf ein Polaroid niederlässt,
letzte Woche noch nicht geschossen.
Das Innerste gibt es nicht,
aber es macht uns aus.
An eine Wand zu sprühen
Was willst du mal werden,
wenn du groß bist? –
Ein Staubkorn in der Ewigkeit.
Suche nach Verbündeten
Vor einer Bankfiliale eine Frau,
die ihr Transparent sinken lässt:
»Was kann ich schon ausrichten?«
Anderenorts zieht ein Argument,
längst widerlegt,
randalierend durch die Straßen.
Ein Manager fragt auf einmal,
wo er sich befindet:
»Wo befinde ich mich?«
Umzingelt von Asphalt: gestutzte Bäume.
Vögel, die auf ihnen landen sollten,
einzig auf großen Monitoren zu sehen.
Einer Leserin geht ein »Ist vergriffen«
aus der Buchhandlung nach:
»Diese Geschichte darf nicht verschwinden.«
In alle Richtungen wird endlos kommuniziert,
manchmal kommt’s gar zu richtigen Gesprächen.
Konkurrierende Einsame in weltoffenen Städten.
Man bewegt sich zwischen Begegnungszonen
auf der Suche nach dem Besonderen,
doch auch dieses betreibt überall Filialen.
Überall wird das, was andere erreicht haben,
mit dem verglichen,
was man selbst erreicht hat oder nicht.
Überall könnte man erleichtert davon sein,
zu was man es nicht gebracht hat,
aber das zählt nicht.
Und du? Hältst du es für selbstverständlich,
dass dir dein Schatten folgt?
Erinnerungen huschen durch den Raum.
Magische Heimat
Die Touristengruppe, von der ich mich entferne, gleitet
wie ein Riesenmanta über den verregneten Platz.
»Komm nach Hause, weiß nicht, wer du bist«,
hör ich mich beinahe stimmlos sagen.
Hinter dem Kirchturm taucht ein roter Ballon auf,
möge er mich aus der Traurigkeit lotsen.
Glocken sind zu vernehmen, tiefer als das Meer,
Mantas umkreisen mich – in mir fliegend.
»Ich bin die Droge, die dich dirigiert«,
orakelt es da fern in mir.
Frau in geparktem Mercedes
Sie denkt in Zusammenhängen,
doch sie möchte nur träumen –
sie träumt von der Realität
und vom Traum, in dem sie lebt.
Nachtschwimmen
Den Kopf im Nacken saß ich vor einem Schulhaus,
hin und wieder fuhr ein Auto vorüber, nichts Besonderes,
aber mir war, als sähe ich den Mond zum ersten Mal,
bis mir einfiel, dass ich ihn, so wie heute, zum ersten Mal sah!
In dieser Nacht, die so nie wiederkehren würde,
schon immer da war, zwickte mich Ewigkeit ins Ohrläppchen!
Nach einer unbestimmten Zeit erhob ich mich,
den Nacken vom Zummondhochschauen starr,
doch erleichtert und in Auflösung begriffen wie jedes Wort,
das mir auf dem Nachhauseweg durch den Kopf ging,
bis ich träumend im Bett lag – träumend wovon?
Selbstredend vom Mond, der stoisch jedem Gedicht widersteht.
Ich näherte mich einem weiß rauschenden Loch – schreckte hoch,
ob der alte Trabant nicht müde vom Betrachten der Erde ist?
Vielleicht ist er bereits vor tausenden von Jahren darüber eingeschlafen
und hat seitdem all unser Verlangen nach ihm verpasst.
Oder ist der Mond bloß ein Zustand, in dem sich
unsere maßlose Selbstüberschätzung manifestiert?
Ach was! Gewiss schwamm in jenem Schäfchenwolkenfeld
grad mein Kopf dahin – ich sank,
Tempo ungewiss, zurück ins harte Kissen.
Vorerst widersteht der Mond jedem Gedicht,
so wie du meiner umnachteten Liebe, o fernes, fremdes Herz!
Das Weltall ist eine Diva, die sich niemand ausdenken kann.