Der Milliardär und der Mechaniker

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Der Milliardär und der Mechaniker
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Julian Guthrie

DER
MILLIARDÄR
UND DER
MECHANIKER

Wie Oracle-Chef Larry Ellison den

AMERICA’S CUP

gewann und warum er den Automechaniker

Norbert Bajurin dazu brauchte

Delius Klasing Verlag

Für Larry und Norbert

Copyright © by Julian Guthrie

www.julianguthriesf.com Die amerikanische Originalausgabe mit dem Titel »The Billionaire and the Mechanic« wurde 2013 vom Verlag Grove Press, einem Tochterverlag von Gove/Atlantic Inc., New York, herausgegeben.

1. Auflage

Die Rechte für die deutsche Ausgabe liegen beim Verlag

Delius, Klasing & Co. KG, Bielefeld

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-7688-3779-8 (Print)

ISBN 978-3-7688-8267-5 (E-Book)

ISBN 978-3-7688-8454-9 (E-Pub)

Aus dem Amerikanischen von Tatjana Pokorny und Dieter Loibner

Lektorat: Birgit Radebold

Schutzumschlagfotos: vorn: picture alliance/AP Photo/Jeff Chiu;

hinten: ACEA/Gilles Martin-Raget

Schutzumschlaggestaltung: Buchholz.Graphiker, Hamburg

Satz: Axel Gerber

Datenkonvertierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft für

Verlagsservice, München

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis

des Verlages darf das Werk, auch Teile daraus,

nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.delius-klasing.de

Inhalt

Teil I

Südpolarmeer zwischen Australien und Tasmanien – Dezember 1998

Reparaturwerkstatt für Kfz-Kühler und -Klimaanlagen in San Francisco – Herbst 1999

Antigua – Mai 2000

Yachthafen von San Francisco – Frühjahr 2000

Woodside/Kalifornien – Frühlingsbeginn 2000

St. Francis Yacht Club – Sommer 2000

Golden Gate Yacht Club – Januar 2001

Golden Gate Yacht Club – Februar 2001

Teil II

In den Bergen von Santa Barbara – Sommer 2001

Atherton/Kalifornien – September 2001

Von San Francisco nach Neuseeland – Herbst 2001

Oracle Basiscamp Auckland in Neuseeland – Winter 2002

Redwood Shores/Kalifornien – Frühjahr 2002

In der Bucht von San Francisco – September 2003

Newport/Rhode Island – Juni 2004

Valencia/Spanien – Anfang 2006

South of Market/San Francisco – Frühling 2006

Valencia/Spanien – Frühjahr 2007

Teil III

Woodside/Kalifornien – Frühsommer 2007

Woodside/Kalifornien – Sommer 2007

Von Bangkok, Thailand, nach Cagliari, Italien – November 2008 bis Frühjahr 2008

Anacortes/Washington – August 2008

San Diego/Kalifornien – Frühjahr 2009

Valencia/Spanien – Februar 2010

Von Valencia nach San Francisco – Februar 2010

Rancho Mirage/Kalifornien – März 2010

Moscone Center/San Francisco – Herbst 2011

Alouis Radiators/San Francisco – Herbst 2011

Stanford University/Kalifornien – Herbst 2011

Teil IV

In der Bucht von San Francisco – Sommer 2012 bis Sommer 2013

Der 34. America’s Cup – ein mehr als holpriger Start – September 2013

Das Comeback – 19. bis 25. September

Anhang

Die Rennen um den America’s Cup

Nachwort der Autorin

Danksagung

Teil I

»Alle Menschen träumen, nur nicht gleich.«

T. E. Lawrence

Südpolarmeer Zwischen Australien und Tasmanien
Dezember 1998

Schnittig, schneeweiß und sensationell schön: So segelte die SAYONARA dem Südpolarmeer entgegen. Sie befand sich in einem Revier, das die Antarktis umfließt und für seine tückischen Wellenberge berühmt-berüchtigt ist. Am Steuer seiner 82 Fuß langen und 25 Tonnen schweren Yacht segelte Larry Ellison mit über 25 Knoten vor dem Wind. Er spürte die nasse Luft auf seinem Gesicht und konnte sehen, wie die Feuchtigkeit gegen das massive Großsegel und den Spinnaker schlug. Larry staunte: »Sogar SAYONARA ist nicht dafür geschaffen, so schnell zu segeln.« Seine Yacht begann abzuheben, ihr Bug hob sich, und ihr Heck schöpfte dem Wasser seine Gischt ab. Für diesen Winkel zum Wind war die Kohlefaser-Rakete nicht konstruiert worden. Und hatte ihn nie zuvor erlebt. Irgendetwas stimmte nicht.

In seinem roten Ölzeug, die graue SAYONARA-Kappe auf dem Kopf, schaute Larry Ellison Brad Butterworth an, einen Neuseeländer mit freundlichem Lächeln, dichtem Haar und einer beeindruckenden Sammlung bedeutender Trophäen. »SAYONARA hebt doch nicht wirklich ab«, sagte Larry ungläubig, »es ist großartig, so schnell zu segeln, aber es ist unwirklich.« Vor zwölf Stunden waren sie in eine der anspruchsvollsten Langstreckenregatten gestartet. So schnell, dass sie bereits an dem Punkt waren, den der amtierende Rekordhalter erst nach 24 Stunden erreicht hatte.

Larry und sein 22-köpfiges Segelteam, ein »Who’s who« der internationalen Profiszene und Ansammlung prominenter Segler inklusive Rupert Murdochs Sohn Lachlan, hatte den Hafen von Sydney am Samstagnachmittag, dem 26. Dezember, mit Kurs auf Hobart verlassen. In Australien herrschte Hochsommer. Glitzernd beschien die Sonne Hunderttausende von Zuschauern, die entlang der australischen Küste dem Start des 55. Sydney–Hobart-Rennens zusahen. Mit ihrem blütenweißen Spinnaker und dem Kennzeichen der roten japanischen Sonne – Larrys Design – eroberte SAYONARA früh die Führung im 624 Seemeilen langen Klassiker durch die Tasmanische See.

Larry, 55-jähriger Mitgründer und CEO der Oracle Corporation und etwa 30-facher Milliardär, hatte das Rennen 1995 gewonnen und SAYONARA seitdem mehr als dreimal hintereinander zum Weltmeisterschaftssieg in der Maxi-Klasse gesteuert. Nun wollte er herausfinden, wie viel besser er als Segler in den vergangenen drei Jahren geworden war. »Es wird ein interessanter Test werden«, hatte er sich selbst mit Blick auf sein zweites Sydney-Hobart-Rennen gesagt. Im Sport war eine Klarheit zu finden, die man in der Geschäftswelt so nicht haben konnte. Mit Oracle wollte er immer noch seine Rivalen IBM und Microsoft schlagen, doch das Geschäftsleben glich einem nie endenden Marathon.

Nach jedem abgelaufenen Quartal kam ein neues. Im Sport dagegen gibt es Signaltöne. Dann läuft die Zeit ab. Quarterback Joe Montana, der noch 58 Sekunden Zeit übrig hat, spielt einen hohen Pass ganz weit nach hinten in die Endzone, und Dwight Clarks Fingerspitzen strecken sich zum Fangen – Touchdown. Sie gewinnen die NFC-Meisterschaft gegen die Dallas Cowboys. Muhammad Ali muss sieben Runden schwere Schläge des jüngeren und stärkeren George Forman einstecken, bevor er ihn in der achten Runde k. o. schlägt und den Weltmeistertitel in der Schwergewichtsklasse zurückgewinnt. Basketball-Legende Michael Jordan gelingt mit dem Schlusspfiff der letzte Sprungwurf gegen Utah Jazz. Er gewinnt damit seine sechste Meisterschaft. Das Spiel ist vorbei. Der Sieger steht fest. Alles eindeutig.

 

Am frühen Sonntagmorgen des 27. Dezember – es ist der zweite Tag des Rennens – raste SAYONARA mit Kurs auf den südöstlichen Zipfel Australiens dahin. Die Wellen auf der offenen See wurden immer größer und gewaltiger, weil sie hier von keiner Landmasse beeinträchtigt werden können. Auch der Wind hatte kontinuierlich zugenommen. Die Böen erreichten inzwischen eine Stärke von 45 Knoten (etwa 85 km/h), und der Himmel hatte sich verdüstert. Vor dem Rennen hatte der Australische Wetterdienst eine Sturmwarnung herausgegeben. Die Segler wussten, dass es rau werden könnte. Doch Larry und die meisten seiner Männer an Bord hatten 1995 ähnliche Winde abgewettert.

SAYONARA näherte sich der Bass Strait, jenem Gewässer, das Australien und Tasmanien voneinander trennt und dessen flacher Meeresboden hohen Wellengang und Brandung wie an einem Surfstrand verursacht. Plötzlich wurde SAYONARA von einer 50-Knoten-Böe beschleunigt. Larry steuerte einen tieferen Winkel vor dem Wind, um Druck aus den Segeln und vom Rigg zu nehmen. Doch es war zu spät. Der riesige Spinnaker mit der aufgedruckten japanischen Flagge zerriss wie ein Baumwolltuch. Während der Wind weiter zunahm und immer schwieriger vorherzusagen war, kam der Befehl, den stärksten Spinnaker zu setzen, der sich an Bord befand. Sein Spitzname: der Mini. »Das Segel ist unzerstörbar«, sagte Larry zuversichtlich, während SAYONARAS Bug die weißen Gischtberge durchschnitt. Unter Stress agiert der draufgängerische Milliardär hoch konzentriert. Er hatte schon Kunstfliegerei aus Spaß betrieben und in Stürmen vor Hawaii gesegelt. Er hatte sich einmal das Genick gebrochen und wäre beinahe zum Paraplegiker geworden. Und er hatte Oracle mehr als einmal vom Abgrund des Bankrotts zurückgesteuert. Er war der fünftreichste Mann der Welt. Und das nur zwei Jahrzehnte nach der Beinahe-Zwangsversteigerung seines eigenen Hauses, als er die Rechnungen für Wasser und Strom nicht mehr hatte bezahlen können. Seine Hobbys, so hat er es selbst einmal ausgedrückt, waren eine konstante Suche nach alternativer Spannung. An Bord der SAYONARA hatte er jetzt das gleiche Gefühl. Als hätte er gerade seinen italienischen Marchetti-Kampfjet auf der knapp 800 Meter kurzen Landebahn des kleinen Flughafens von San Carlos in der Region der Bucht gelandet: Sein Verstand fokussierte sich, zwang ihn in die Gegenwart. Sein Freund Steve Jobs hatte ihm einmal gesagt, dass die Landung eines Jets auf einer so kurzen Landebahn nicht möglich sei.

SAYONARA segelte an diesem Sonntagmorgen auf direktem südlichen Kurs und wurde gerade wieder heftig von einer massiven Böe angeschoben, als das Unmögliche geschah: Das unzerstörbare Segel versagte. Der Bronzebeschlag des Spinnakerbaums, der mit seinem soliden Gewinde etwa einen halben Meter tief in dem Kohlefaserrohr sitzt, war herausgerissen, und der Mini, der Sturmspinnaker, flatterte wie lose Wäsche im Wind. Mit beiden Händen am Steuer fragte sich Larry: »Was für eine Kraft ist das, die so etwas anrichtet?«

SAYONARA erreichte nun die 300 Kilometer lange und doppelt so breite Meerenge der Bass Strait, ruppig wie der Englische Kanal. Wie das Bermuda Dreieck hat auch die Bass Strait einen mystischen Ruf, trägt den Spitznamen »Schwarzes Loch«. Es ist ein Revier, in dem Schiffe verloren gingen oder sich in Wracks verwandelten. Und wo Boote wie Zweige zerbrachen. Die stürmischen Winde nahmen abrupt ab, und die Windrichtung änderte sich im Uhrzeigersinn von Rückenwind auf Wind direkt von vorn. Der Sturm schien sich zu verflüchtigen, der Wind beruhigte sich auf weniger als zehn Knoten. Butterworth, Larry und SAYONARAS 34-jähriger Projektmanager Bill Erkelens debattierten darüber, ob sie das große, schwere Vorsegel wieder hochziehen sollten. Larry war dafür, aber Butterworth wollte warten und SAYONARA durch die Übergangszone, also jenes Revier, in dem sich die nördlichen Winde in scheinbar milde südliche verwandeln, nur unter Großsegel manövrieren. Sie warteten zehn Minuten, bis Larry sicher war, dass sie den schlimmsten Bereich der Sturmfront passiert hatten. Er ließ das Vorsegel setzen, übergab das Steuer Butterworth und ging zur Navigationsecke im hinteren Teil des Bootes. Er glitt durch die Luke nach unten und nahm auf einer gepolsterten Bank Platz. Er schaute auf die beiden nebeneinander platzierten Laptops und die Instrumentenanzeige, wärmte sich die Hände und erwartete die Anzeige der Satellitenbilder auf den Bildschirmen. Als das erste der Bilder den Bildschirm füllte, weiteten sich seine Augen. »Hast du schon jemals etwas wie das hier gesehen?«, fragte er.

Mark Rüdiger, SAYONARAS Navigator und Gewinner des gerade erst zu Ende gegangenen Whitbread Round the World Race, studierte die milchige Darstellung und schüttelte langsam den Kopf. Während er auf die wirbelnde, schäumende zyklonale Wolke mit einem Pluszeichen in ihrem Zentrum blickte, beantwortete Larry seine eigene Frage: »Nun, ich schon. Das war in den Wetternachrichten. Und sie haben es Orkan genannt. Das Pluszeichen sind wir. Wir sind im Auge eines beschissenen Orkans.«

Oben an Deck hörte Larry Butterworth’ Salve gebrüllter Kommandos. »Es wird hart, Jungs! An alle: Das Vorsegel muss sofort runter! Jetzt!« Der Wind brauchte etwa zwei Minuten, um sich von unter zehn auf über 30 Knoten zu steigern. Fünf Minuten später waren daraus stramme 50 Knoten geworden. Nun befanden sie sich in einer wesentlich schlechteren Situation als zuvor. SAYONARA segelte mit einer Geschwindigkeit von zehn Knoten in den Wind statt mit nahezu 20 Knoten mit dem Wind. Die Geschwindigkeit des scheinbaren Windes über Deck hatte auf 60 Knoten zugenommen, und das Boot neigte sich in einem 40-Grad-Winkel auf die Seite. Plötzlich war es sehr schwer und gefährlich geworden, sich an Deck zu bewegen.

Einer nach dem anderen verschwanden die Männer unter Deck, holten sich ihre Lifebelts, krabbelten durch die Luke zurück an Deck und hakten sich ein, um nicht über Bord geblasen zu werden. Wer sich an Bord bewegen musste, der hatte immer eine der beiden mit dem Gurt am Körper verbundenen Leinen aus- und am nächsten möglichen »Festmacher« wieder einzuhaken. Und so fort. Es war ein langsamer, methodischer Prozess, ähnlich dem der Bergsteiger.

Chris Dickson, damals SAYONARAS Skipper und damit auf See verantwortlich für das Boot und die Crew und einer der weltbesten Segler mit dem Image einer notorisch schwierigen Führungsfigur, schrie die Männer an. Bevor sie Sydney verlassen hatten, hatte der Neuseeländer das Team Riggtests und diverse Mann-über-Bord-Manöver absolvieren lassen. Die Männer hatten gegrummelt und angemerkt, dass es ein schöner Tag in Sydney und der Hafen doch voller Haie sei. Doch Dickson war keiner, der Ausreden gelten ließ. Die Männer gingen über Bord, und jedes Ausrüstungsteil wurde getestet und nochmals getestet. Dickson hatte bereits Stürme erlebt und sogar in Orkanen gesegelt. Aber auf Booten, die dieser Art von Bestrafungen standhalten konnten. Von SAYONARA zu verlangen, einem Orkan standzuhalten, war, als würde man einen Formel-1-Wagen ins Gelände schicken.

Dickson hörte sich die Debatte über eine mögliche Umkehr und die Aufgabe des Rennens an. Auch er wünschte sich, an einem anderen Ort zu sein. Aber sie waren auf sich gestellt. Niemand würde ihnen helfen. Die Rückkehr wäre ebenso tückisch wie das Weitersegeln. Inmitten des Orkans hämmerten die Wellen wie Wände auf SAYONARA ein. Dickson, der das Segeln schon als Kind gelernt und schon im Teenageralter seine erste Match-Race-Weltmeisterschaft gewonnen hatte, erbrach sich. Andere ebenfalls.

Larry war sicher, dass es keine Umkehrmöglichkeit gab und sich die Bedingungen mit dem weiteren Vorstoßen in Richtung Süden verschlechtern würden. Es waren jene Breitengrade, die Seefahrer die »Brüllenden Vierziger« nannten. Die Winde stürmten jetzt mit Böen bis zu 65 Knoten und einem dissonanten bitteren Zischen und Heulen auf sie ein. Sie waren sehr viel gefährlicher als die Warnungen, die von Regatta-Offiziellen zuvor veröffentlicht worden waren.

Der Regen prügelte auf sie ein. Der Himmel, die See, die Geräusche – alles erschien wie aus einer anderen Welt. Um die Laune etwas aufzuheitern, sagte Larry zu Butterworth: »So habe ich entschieden, meine Weihnachtsferien zu verbringen? Es kostet mich eine Menge Geld, hier in der Bass Strait zu sterben. Wie dumm das doch ist!«

Larrys Bootsbauer Mark Turner mit den Spitznamen Tugsy und Tugboat (dt.: Schlepper) hatte die Schule in Neuseeland im Alter von 15 Jahren geschmissen, um das Bootsbauhandwerk zu erlernen. Nun war er unter Deck mit einem roten Filzstift unterwegs.

»Tugsy, was zum Teufel machst du da unten?«, fragte Larry.

»Ich markiere die Stellen, an denen das Kohlefasergelege delaminiert«, antwortete Tugsy ruhig. Seine blauen Augen blitzten, seine Wangen glänzten rot von den Strapazen an Deck in Wind und Regen. »Die verschiedenen Lagen brechen und reißen auseinander. Das Boot ist in einem ziemlich schlechten Zustand.«

»Was?«, antwortete Larry ungläubig, »der Bug bricht ab? Das ist ja verdammt großartig!«

Tugsy hatte auf Überführungen für Larry und andere schon schlimme Stürme erlebt. Aber nie zuvor hatte er sich mitten in einem Orkan befunden. Segler trainierten nicht für Orkane, weil es einfach nicht vorgesehen war, sich in einem Orkan aufzuhalten. SAYONARA wurde umhergeworfen, ihre Einzelteile ächzten und stöhnten unter den Lasten. Der wachsame und nur wenige Worte sprechende Tugsy – zutiefst loyal gegenüber Larry und dem Boot – tat, was er konnte, um SAYONARA in einem Stück zu halten. Seit frühester Kindheit liebte er Boote, ob es nun Bilder von Holzflößen oder kleine Einbaum-Boote aus umgestürzten Bäumen waren, die Menschen für ihre ersten Entdeckungsfahrten nutzten, oder dieses schlanke weiße Vollblut, für dessen Schutz er nun verantwortlich war.

Die Sekunden, Minuten und Stunden vergingen wie in Zeitlupe. Sogar ein Augenblinzeln fühlte sich wie ein kleiner Luxus an. Es gab keinen Weg, das Boot zu verlassen. Mit Angst war nichts zu erreichen. Der Regen attackierte die Haut wie mit Nadelstichen. Larry war normalerweise immun gegen Seekrankheit. Er fühlte sich immer wohl, wenn er seinen Kampfjet in Schleifen und Loopings steuerte. Aber auch er musste sich nun erbrechen. Er übergab sich mehrere Male, während er SAYONARA durch den Sturm steuerte, und hörte dabei jemanden sagen: »Bist du okay, Kumpel?«

»Nicht wirklich«, dachte Larry bei sich.

Der Funkkontakt war abgerissen, die Kommunikation abgeschnitten. Ein Wasserleck zu Beginn des Rennens hatte dazu beigetragen. Larry dachte darüber nach, was passieren würde, wenn das Boot kenterte. Segler könnten unter dem Boot eingeschlossen werden; Wasser könnte über das Boot einbrechen. Das Ruder oder den Bug zu verlieren würde der Sache ein Ende setzen. Würden sie sinken, hätten sie in der kalten See eine Überlebenschance von kaum mehr als 30 Minuten.

Normalerweise lebte Larry in einer Welt, in der jedes Detail perfekt arrangiert war, in der die Schuhe vor dem Betreten eines Hauses ausgezogen wurden, um die feinen Holzböden zu schützen und Dreck zu vermeiden, in der Autos in wohltemperierten Garagen gehegt und frische Blumensträuße kunstvoll arrangiert wurden. Hier und jetzt konnte kein Geld der Welt Sicherheit kaufen. Er starrte in die schwarze Leere. Kein einziger Stern war zu sehen. Sogar der Bug war kaum mehr auszumachen. Er schimpfte mit sich selbst: »Was für ein Idiot kommt hierher, um sich den Fischen als Fraß vorzuwerfen?«

Der Sturm wütete die ganze Nacht, während sich Larry, Butterworth, Erkelens, Robbie Naismith, Joey Allen und Tony Rae am Steuer abwechselten und sich Klick für Klick an Deck bewegten. Mike »Moose« Howard, SAYONARAS 113 Kilogramm schwerer Grinder, im American Football ein Linebacker im Team der Universität von Südkalifornien und ehemaliger Marinesoldat, hatte ihr Handeln zum Krieg mit der See erklärt.

Larry wusste: Je länger der Sturm andauerte, je höher würden die Wellen anschwellen. Auf den Gipfeln der zwölf Meter hohen Wellenberge wurde SAYONARA von 70 Knoten Wind angegriffen. Wie von einer Peitsche wurde SAYONARA dann in den freien Fall gefegt. Bange Bruchteile von Sekunden dauerte es bis zur Crash-Landung, die sich wie ein Aufprall auf hartem, aber willkommenem Asphalt anfühlte. Dort nahm der Wind in vergleichsweise ruhigen Bedingungen für kurze Zeit auf 40 Knoten ab, bis die nächste Welle in der Höhe eines vierstöckigen Gebäudes anrollte und das Boot wie ein Flugzeug in die Höhe katapultierte, bevor es in den nächsten magenumdrehenden freien Fall ging. Beeindruckt beobachtete Larry, wie Allen und Naismith eine Aluminiumplatte zurechtbohrten und damit den Bug ausbesserten, der sich längst wie ein Strohhalm im Sturm bog. Ihre Unternehmung entsprach dem Versuch, ein Auto während einer Achterbahnfahrt zu reparieren.

 

Nach 36 Stunden Sturm hatte Larry mit Ermüdung und Dehydrierung zu kämpfen. Der Versuch zu schlafen machte alles nur noch schlimmer. Wenn das Boot im freien Fall war, übertrug sich das auf die Männer in den schmalen Kohlefaserkojen. Man konnte die Kojen zwar mithilfe eines Flaschenzugs v-förmig zusammenziehen, um das Herausfallen zu vermeiden. Doch das half unter diesen Umständen kaum. Larry hatte bei seinen Segelregatten immer ein paar Snickers und Sardinenbüchsen dabei, doch auf dieser Reise gab es keine Hoffnung auf Nahrungsaufnahme. Sogar jeder Schluck Wasser kam wieder hoch. In einem kurzen Moment der Erleichterung sprach Larry über die Gefahren eines WC-Besuchs im Orkan. Es war pechschwarz unter Deck. Jedes Mal, wenn sie in den freien Fall gingen, wurde er durch die Luft und gegen die Kabinendecke geschleudert. »Ich hätte mir ganz leicht das Genick brechen können«, sagte er, »doch das wäre irgendwie ein entwürdigender Tod gewesen.«

Wieder zurück an Deck, warf Larry einen Blick auf die rollende See und hatte eine Idee. SAYONARA segelte auf Steuerbordbug. Die Wellen brachen über die rechte Seite herein. Larry sagte Rüdiger, dass er auf Backbordbug wechseln wolle.

»Dadurch hätten wir einen besseren Winkel zu den Wellen. Ich möchte in Lee von Flinders Island kommen«, sagte Larry in der Gewissheit, dass es die Wellen sind und nicht der Wind, die Segler töten. »Je dichter wir der Insel kommen, je mehr werden die Wellen durch sie blockiert.«

»Ich bin nicht ganz sicher, ob es für die Regatta das Beste ist«, sagte Rüdiger, »ich werde mit Chris darüber sprechen müssen.«

»Mark«, schoss Larry zurück, »lass es mich ganz klar formulieren: Ich möchte, dass das Boot wendet. Oder glaubst du, dass es im Sinne der Regatta ist, wenn wir sinken?«

Erkelens stimmte zu, dass die Wende nicht optimal für das Rennen sei, weil der Kurs sie von der Ziellinie abbrächte. Es sei aber das Beste, um Boot und Leben zu retten.

Mit der Wende veränderte sich der Kurs um 60 Grad. Die Wellen wurden nicht kleiner, doch SAYONARA empfing die Wellen nun direkt mit dem Bug und nicht mehr seitlich. Das Stampfen und der Ritt nahmen an Gewalttätigkeit ab. Während sie sich Flinders Island vor Tasmaniens nordöstlichstem Zipfel näherten, zog Larry eine erste Zwischenbilanz: Zwei Männer hatten gebrochene Knochen. Ein Feuer hatte die Navigationsecke lahmgelegt, als die Kabel nass geworden waren und es zu einem Kurzschluss mit anschließendem Kabelbrand kam. Sein Boot war übel zugerichtet und zerschlagen. Aber alle waren an Bord – und am Leben. Die Wende hatte für den entscheidenden Unterschied gesorgt.

Am Morgen des dritten Tages ging die Sonne gerade auf, als SAYONARA in den Derwent River einsegelte, jene Flussmündung, die in die Hauptstadt Tasmaniens führte. Ein lachspinkfarbenes Licht bahnte sich den Weg durch den mauvefarbenen Morgenhimmel. Die Crew der SAYONARA, die Derwent als erste erreichte, wurde von einem kleinen Powerboot und einem Mann an Bord begrüßt, der die Sieger traditionell mit Klängen aus einem schottischen Dudelsack empfing. An diesem Tag waren es Trauermelodien: »When the Battle is Over«, »O for a Closer Walk with God«, »Amazing Grace«. Der Wind war nur noch ein Flüstern, wehte mit weniger als acht Knoten. Larry und seine Crew liefen in das Flusstal ein. Wildblumen, Farne und turmhohe Bäume zierten die Felsschluchten mit ihren roten Uferkanten. Die Wildblumen in ihren blauen, weißen, lila, kaminroten und heidefarbenen Schattierungen waren in ein weiches pinkfarbenes Licht getaucht. Larry schloss seine Augen für einen Moment, lauschte den düsteren Tönen des Dudelsacks und der Wellen, die leise gegen die Bordwand schlugen. Der Wind war zur Ruhe gekommen, die Wellen klangen wie ein beruhigender Herzschlag. Sie hatten die Herrlichkeit des Seins zurück.

Doch es war kein glücklicher Sieg. Larry drehte sich zu Butterworth um und sagte: »Das war, als hätte Disney versucht, das Ende eines Horrorfilms neu zu schreiben.« Während die Crew in den Hafen segelte, hatten sie erfahren, dass sechs Segler gestorben, fünf Boote gesunken und etwa 55 Menschen per Helikopter in wahrhaft heldenhaften Aktionen abgeborgen worden waren. Es sah so aus, als würde nur ein Drittel der ursprünglich ins Rennen gestarteten 115 Yachten die Regatta beenden können. Schon zu diesem Zeitpunkt war es das größte Unglück in der australischen Seefahrtsgeschichte. SAYONARA hatte die Ziellinie am Donnerstag um acht Uhr morgens gekreuzt. Drei Stunden früher als das nächste Boot. BRINDABELLA hatte das Rennen im Jahr zuvor gewonnen und kam ihrerseits einige Stunden vor RAGAMUFFIN ins Ziel, die vom damals erst 18 Jahre alten Jimmy Spithill gesteuert worden war.

Als sie das schlicht wirkende Constitution Dock erreichten, suchte SAYONARAS Crew die Zuschauerreihen ab. Eine Gruppe von Frauen, darunter auch Larrys Freundin, die Autorin Melanie Craft, hatte am Abend zuvor gemeinsam gefeiert, Margaritas getrunken und Austern genossen. Obwohl es Berichte über orkanartige Stürme entlang des Regattakurses gegeben hatte, hatten Freunde und Familien keine Ahnung, wie schlimm es ihren Lieben tatsächlich ergangen war. Sie nahmen an, es würde der Weltklasse-Crew an Bord von SAYONARA bestens gehen. Ihre Mienen veränderten sich schnell, als sie die Blicke der Segler empfingen. Nahezu drei Tage ohne Wasser und Nahrung. Immer wieder Erbrechen. Eine See, die provokant zwischen schön und grausam hin und her flackerte. Als diese härtesten Segler der Welt vom Boot stiegen, viele von ihnen an harte Arbeit gewöhnte Malocher, da fielen sie ihrer Frau oder Freundin für einen sehr langen Moment in die Arme; den meisten stiegen die Tränen in die Augen, einige weinten.

Dickson kam an Land und umarmte seine Frau Sue. Als Skipper war Dickson erfahren genug, die Last der Verantwortung erst abzuwerfen, nachdem das Boot sicher im Hafen festgemacht hatte und der Shore-Crew übergeben worden war. Als Dickson dort mit seinen 37 Jahren stand, erinnerte er sich an seine Zeit als Teenager. Er hatte am selben Platz auf seinen Vater Roy Dickson gewartet, der als sehr erfahrener Segler von einer Regatta zurückkehrte. Andere Boote waren mit Applaus und Fanfaren empfangen worden. Doch als sein Vater mit der INCA in den Hafen einlief, einem 45-Füßer aus der Feder von Olin Stephens, war es ganz still gewesen. Einer der Segler an Bord war zur Halbzeit der Regatta infolge eines Herzanfalls verstorben. Die Emotionen an jenem Tag glichen denen an diesem Tag – ein Gemisch aus Erleichterung und Trauer. Sie hatten es geschafft, doch andere hatten weniger Glück gehabt.

Auf dem Steg umarmten sich Larry und Melanie. Melanie machte einen Schritt zurück und schaute ihrem dünnen Freund ins Gesicht. Er sah schlimm aus.

»Ich wusste es nicht«, sagte sie, »wir wussten es einfach nicht. Wir dachten, es geht euch gut.«

Larry, dehydriert und knapp acht Kilo leichter als beim Start, wurde von einem Lokalsender interviewt.

»Haben wir alles richtig gemacht?«, fragte Larry, »nicht alles, aber wir haben uns eine Chance gegeben, Glück zu haben. Mutter Natur hat nicht alles gegeben. Hätte sie es getan, dann hätte sie uns getötet. Wir hatten ein großartiges Boot, eine großartige Crew und sind sehr glücklich, heute noch am Leben zu sein. Unsere Männer wurden wieder und wieder umgeworfen. Aber sie sind immer wieder aufgestanden und an die Arbeit zurückgekehrt, um zu tun, was getan werden musste, um das Boot in einem Stück und uns am Leben zu halten. Ich habe da draußen Helden gesehen.«

Danach gefragt, ob er jemals wieder an diesem Rennen teilnehmen würde, sagte Larry, der wütend auf die Offiziellen war, weil ihre wenig akkuraten Wetterprognosen die Grausamkeit des Sturms nicht hatten erahnen lassen: »Und wenn ich noch 1000 Jahre leben würde, ich werde nie wieder an diesem Rennen teilnehmen.« Als er danach seinen Sinn für Humor wiederfand, bot er den Umstehenden ein schwaches Lächeln und sagte: »Nein, wenn ich heute in 1000 Jahren noch da bin, also im Jahre 2998, dann werde ich zurückkommen und es noch einmal machen.«

Zurück im Hotelzimmer von Melanie Craft, zerrte sich Larry das übel riechende Ölzeug vom Leib. Craft wollte alles wegwerfen oder verbrennen, was er trug. Doch bevor er unter die Dusche sprang und später noch ein heißes Bad nahm, bestand Larry darauf, dass sie seine SAYONARA-Jacke aufbewahren sollte. Sie war etwas, das er behalten wollte.

Angekleidet und mit dem Gefühl, wieder ein halber Mensch zu sein, ging Larry mit Melanie lauter einzelne Kugeln Vanilleeis essen. Danach bestiegen sie Larrys Gulfstream-Jet mit Ziel Antigua, wo seine Familie auf ihn wartete. Larry schlief 18 Stunden am Stück und wachte nicht einmal beim Betanken der Maschine in Hawaii auf.

In Antigua entspannte sich Larry im Kreis seiner Familie an Bord der Megayacht KATANA, die nach einem Samuraischwert benannt worden war, und dachte über seinen Pyrrhussieg nach. Larry erzählte seinem Neffen Jimmy Linn, seiner Tochter Megan und seinem Sohn David, dass er das Sydney-to-Hobart-Rennen nicht als Sieg betrachtete. »Da war nicht der geringste Funke des Triumphes, zumindest nicht für mich«, sagte Larry und erinnerte daran, dass Ted Turner nach einem schlimmen Sturm im Fastnet Race vor der englischen Küste einmal gescherzt habe: »Was für ein Sturm?«. Das war nicht Larrys Art der Reaktion. »Wirklich großartige Segler sind da draußen gestorben. Schöne Boote, gute Boote sind gesunken. Ich habe mit angesehen, wie Menschen sich in Situationen auf Leben oder Tod verhalten haben. Und ich habe gesehen, wie wahrhaft heldenmütig manche Menschen sein können.«

Linn, der Sohn von Larrys Halbschwester Doris, hob seine Hand und bemerkte, dass ein so gefährliches Rennen doch eine verrückte Art sei, seine Ferien zu verbringen. »Was hast du gedacht?« Larrys Gesicht war ohne jeden Ausdruck: »Was meinst du? Es ist eine höllische Art, Gewicht zu verlieren. George Mallory hat einmal auf die Frage, warum er den Mount Everest besteigen wolle, geantwortet: ›Weil er da ist.‹ Wir machen es, weil es diese Herausforderungen gibt und wir uns fragen, ob wir es schaffen können.«