Immer ist alles schön

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Manchmal brauche ich einen anderen Weg, sage ich zu Bruno.

Er hat seinen Rücken zum Buckel gemacht. Er kauert am Straßenrand, eine Kellerassel betrachtend, schaut grimmig zu mir hoch, der Wolf.

Bruno sagt, sie kann ihr Hinterteil unabhängig vom Vorderteil bewegen. Sie ist schiefergrau und gelbgrau, sie hat zwölf Spaltfüße, die Kellerassel. Und eindrucksvoll ist, sagt er, dass ihre Körpertemperatur der Außentemperatur entspricht. Das heißt doch, dass sie von sich gar nichts weiß, das heißt, dass sie sich als Welt fühlt. Das heißt, es gibt für sie keinen Anfang und kein Ende ihrer selbst und überhaupt.

Die Möglichkeiten der Kellerassel, sage ich bewundernd. Bruno sagt, ich gehe nun einfach nach Hause, jetzt, da du endlich da bist.

Gut, sage ich, dann geh du einfach nach Hause, ganz gewöhnlich, ich gehe einmal einen neuen Weg.

Gut, sagt Bruno, mach du das, aber am Leben ändert das nichts.

Wer weiß, sage ich, vielleicht finde ich einen neuen Gegenstand.

Der würde dann das Leben ändern?

Ich möchte gar kein Leben ändern, ich möchte jetzt einen neu­en Weg gehen.

Gut, dann geh doch, sagt Bruno.

Ja, ich gehe jetzt, sage ich.

Gut, sagt er noch einmal.

Dann rennt er davon, der Wolf, mit seiner Magerkeit. Nur noch die nervösen Kellerasseln sind da, bewegen sich auf der freigelegten Fläche, wo vorher der Stein lag. Ich lege den Stein zurück, aber bin mir nicht sicher, ob er die Tiere nun erdrückt, also nehme ich ihn wieder weg, darunter sind die Kellerasseln noch immer nervös.

Zu Hause steht Fred in unserer Küche. Er präpariert drei Fische, die silbern sind und glitschig und die lachen mit ihren toten Gesichtern. Ob es mir gut gehe, fragt er mich. Und ich betrachte die Fische, drücke meine Fingerkuppen an die Fischzähne. Ja, sage ich. Wie es in der Schule gewesen sei, fragt er Bruno, und Bruno fragt Fred, ob ihn das wirklich interessiere. Er könne sich, sagt Bruno, beim besten Willen nicht vorstellen, warum ihn interessieren sollte, wie sein Tag gewesen sei. Doch, sagt Fred, das interessiere ihn sehr wohl. Es sei so lange her, dass er in der Schule gewesen sei, und er sei nie gerne zur Schule gegangen, das habe vor allem damit zu tun gehabt, dass er sich schlecht hätte konzentrieren können und seine Lehrer keine Geduld gehabt hätten, nun würde es ihn eben interessieren, wie das bei uns sei.

War gut, sehr konzentriert, sagt Bruno und geht hinaus. Bei mir auch, sage ich.

Ich hatte nicht erwartet, dass Fred so viel am Stück spricht. Sein Gesicht scheint mir nicht fürs Sprechen gemacht. Es scheint mir vielmehr zu weich zu sein, als dass aus ihm ohne größte Anstrengung Worte hervorkommen könnten.

Ich schneide die Zwiebeln in Würfel, das Messer ist stumpf, also weine ich, und weil ich weinen muss, denke ich einen Mo­ment an Peter.

Ich denke an Peter, an die Möglichkeit eines Gesprächs, an die Möglichkeit eines gemeinsamen Moments, an die Möglichkeit von Chips essen auf dem Pausenhof hinter dem Tor nach der Schule und von Reden. Ich denke an die Möglichkeit, sein Gesicht zu berühren, vielleicht unter einem Vordach, wenn es regnet, wenn die Kleider feucht sind und es nach Regen auf warmem Boden riecht.

Weil wir später nahe beieinandersitzen, kann ich Fred riechen; er riecht nach Metall. Weil wir nahe beieinandersitzen, berühren sich unsere Beine unter dem Tisch, und die Scheibe läuft an. Ich male einen Pfeil aufs Glas, und Mutter trägt das rote Kleid mit den goldenen Knöpfen. Fred schiebt ein Messer in die Fische, teilt sie, nimmt die Gräten heraus, füttert uns mit den Fischwangen auf der Messerspitze. Wunderbar, sagt Mutter und beginnt zu leuchten. Wir drücken die Zitronenschnitze über den Fischstücken aus.

Weil wir nahe beieinandersitzen, reden wir über Liebeslieder, und mir schläft ein Bein ein. Weil wir nahe beieinandersitzen, sind die Gesichter von Mutter und Fred, wenn sie miteinander reden, beinahe in Berührung. Mutter legt ihre Arme abwechselnd um Bruno, Fred und mich.

Weil wir nahe beieinandersaßen, umarme ich Mutter, und ich umarme Fred. Mit der Zahnbürste im Mund versuche ich, ihnen zu sagen, dass es mir gefallen hat.

Fred schläft bei Mutter im Gold. Er schaut in unser Zimmer und sagt Gute Nacht. Er hat einen grünen Schlafanzug und eine grüne Zahnbürste mitgebracht. Am Morgen will Fred die Sachen bei uns vergessen, aber Mutter erinnert ihn.

Als ich Ballet tanzte, sagte Mutter, das sehe rührend aus.

Nenne es das Ungleichgewicht der Welt, sagte sie, und dann hatte sie Tränen in den Augen.

Das weiß ich noch, weil sie versuchte, die Tränen zurück in ihre Augen zu schieben, ich erinnere mich an das Drücken mit der Fingerkuppe in den Augenecken.

Als ich Ballett tanzte, sagte Mutter, wir sollen nicht trampeln und nicht schreien, wegen Frau Wendeburg.

Bruno schaute von seinem Buch auf.

Ich habe nicht geschrien, nicht einmal geredet. Ich bin generell ein sehr stilles Kind, sagte er. Du hast Glück, so ein stilles Kind zu haben, besonders da ich ein Junge bin. Und du hast auch Glück mit Anais, denn sie ist auch nicht viel lauter.

Mutter ging sofort rauchen, das weiß ich noch, weil sie nach dem Anzünden der Zigarette das Feuerzeug gegen die Scheibe warf. Ich erinnere mich an den Klang des Feuerzeugs an der Scheibe, dass die Scheibe heil blieb.

Und ich sehe Frau Wendeburg auf einer Bank neben dem Sandkasten sitzen, sie hat die eine Hand im Fell der Katze, die andere hat sie ungebraucht neben sich liegen. Sie weint, das kann ich vom Balkon aus erkennen, ich erkenne es daran, dass sie sich leicht über sich selbst beugt und wieder aufrichtet, wieder leicht nach vorne sinkt, sich wieder gerade macht. Dabei redet sie auf die Katze ein.

Neben ihr stehend, möchte ich etwas sagen. Ich möchte sagen, Frau Wendeburg, was ist es denn, was sie traurig macht? Oder ich möchte sagen, meine Mutter sagt immer, wenn man weinen kann, kann man sich glücklich schätzen, denn weinen können nicht alle. Ich möchte sagen, sie haben eine schöne Katze.

Ich setze mich neben sie, ihr Körper vibriert. Ein Kind geht leise und fremd über den Hof, im Baum bewegen sich wie gewohnt die Blätter. Sie machen ein Rauschen zu Frau Wendeburgs Vibration. An ihrem Finger ist ein goldener Ring, der im Sonnenlicht glänzt, und neben diesem Finger klebt ein Kaugummi rosarot. Neben dem Kaugummi sitzt ein Stinkkäfer. Ich nehme den Käfer auf meine Hand und lasse ihn auf Frau Wendeburgs gelben Wollärmel laufen. Die Häuser haben viele Augen. Wir sitzen hier, Frau Wendeburg und ich, ihre Traurigkeit und ihre Katze. Aus den vielen Augen schauen die Menschen vielleicht auf uns, und vielleicht denken sie etwas.

Frau Wendeburg, sage ich, Frau Wendeburg, was haben Sie denn?

Ach Kind, sagt sie.

Wir saßen im Imbiss, sagt sie, an der Ecke.

Ja, sage ich und frage, wer da saß.

Wir haben in die Dämmerung geschaut und haben geschwiegen, sagt sie. Wir saßen an diesem Tisch, er trug ein braunes Hemd, manchmal, Theodor zog seine Absätze über den Steinboden, weil er nervös war, als er mich endlich fragte.

Ach, was rede ich denn da? Geh doch spielen Kind, sagt Frau Wendeburg schnell und steht auf, bewegt die Hände, als wolle sie mich verscheuchen oder ihre Gedanken oder eine Wespe. Sie geht davon mit dem Käfer auf dem Wollärmel und der Katze im Arm. An einem der Fenster steht ein Mann. Er hat ein Hemd in allen Farben.

Ich stelle mir Frau Wendeburg vor, wie sie mit der schwarzen Schachtel in der Manteltasche aus dem Hof geht, die Straße hinunter, wie sie genau in der Mitte des Gehsteigs bleibt, wie es zu regnen beginnt. Wie sie sich in den Imbiss an der Ecke setzt, weil es regnet. Sie schaut in den Tag, aus dem Fenster, auf die nassen Regenschirme und Menschen, die Regentropfen auf den Schirmen, die nassen Hunde und Beine. Sie beobachtet Kinder im Regen und Frauen und Männer mit Einkaufstaschen. Sie schaut aus dem Fenster, in die Lichter der Innenstadt, in die Luft, die langsam blau wird. Sie sieht Stromleitungen und alte Zeitungen auf dem Boden liegen, Schuhe, die darübergehen.

Und sie denkt daran, wie sie damals an diesem Tisch gesessen hat, mit Theodor. Sie haben oft an diesem Tisch gesessen, und sie haben gemeinsam in den Regen, in die Dämmerung geschaut und geschwiegen.

Frau Wendeburg hat darauf gewartet, dass Theodor etwas sagte, aber er hat nichts gesagt, er hat mit einem Strohhalm gespielt. Er hat ihn um seinen Zeigefinger gewickelt, bis die Fingerbeere rot wurde, bis sie ihm den Strohhalm aus den Händen riss.

Das macht mich nervös, hat sie gesagt.

Würdest du mich endlich fragen, hat Frau Wendeburg gesagt.

Er sah sie an.

Ich möchte das.

Ich auch, hat er gesagt, ich auch.

Willst du mich heiraten?, hat er gefragt.

Ja, hat Frau Wendeburg gesagt, ja.

Dann hat sie ihn geküsst.

Frau Wendeburg verlässt den Imbiss, sie geht weiter mit ihren Gedanken an den Mann und mit der schwarzen Schachtel in der Hand.

Beim Öffnen der Tür klingeln kleine Glocken. Frau Wendeburg geht bis zum Ladentisch. Sie klappt die schwarze Schachtel auf und wieder zu und wieder auf und wieder zu.

Soll ich sie auffrischen?, fragt eine Dame, nimmt ihr die Ringe aus den Händen.

Frau Wendeburg setzt sich, entfernt ein letztes Katzenhaar von ihrem Strumpf und legt sich dann die Hände in den Schoß. Es sind ruhige Hände mit pfirsichfarbenen Flecken am Handrücken. Sie hört das Surren des Poliergeräts. Frau Wendeburg sieht ein Stück des weißen Hemdes der Verkäuferin, sitzt unter dem gelben Deckenlicht. Die Wände sind verspiegelt, der Schmuck in den verspiegelten Vitrinen glänzt, und der graue Teppich hätte ihre Geräusche geschluckt, aber ich stelle sie mir geräuschlos vor. Frau Wendeburg drückt ihre Fingerkuppen auf die Glastheke und die Fingerabdrücke lösen sich ganz langsam auf.

 

Schau, sagt sie.

Und ich stelle mir vor, dass sie Schau! gesagt hat zu ihm damals, als sie genau an dieser Theke saßen.

Schau!, hat sie gesagt und auf die von ihr gewählten Ringe gezeigt. Goldringe. Frau Wendeburg hat den einzugravierenden Text auf einen Zettel geschrieben. In Großbuchstaben, gut leserlich. Ruth und Theo. Der Mann hat still gesessen mit geradem Rücken, die schweren Hände auf seine Knie gelegt, das braune Hemd. Er hat genickt, und Frau Wendeburg hat lächelnd die schwarze Schachtel mit den Ringen entgegengenommen.

Gefallen sie dir?, hat sie gefragt und gewusst, dass sie ihm gefallen würden. Er hat die Schachtel aufgeklappt und wieder zu und wieder auf und wieder zu.

Nicht, hat Frau Wendeburg gesagt und ihm die Schachtel aus den Händen genommen.

Wieder hat er genickt.

Sie nimmt ein Taschentuch aus ihrem Leinenbeutel, wischt die Fingerabdrücke weg, bevor sie verschwinden können, bevor die Dame mit den Ringen zurückkommt.

Alles Gute wünsche ich Ihnen, sagt diese, ihre Hände sind gepflegt. Sie überreicht die Schachtel in einer kleinen, weißen Tüte, auf der zwei Tauben eine Schleife halten.

Ich reribe Schaum in die Fransen des Teppichs. Sie werden sofort weiß. Mutter liegt im Bett. Als ich zu ihr ins Zimmer kam, um zu sehen, ob Fred in seinem grünen Schlafanzug bei ihr liegt oder ein nackter, haariger Mann und sie miteinander schlafen, hatte sie die Augen offen und schloss sie, als sie mich bemerkte. In den Wimpern hingen blaue Klümpchen, Fred oder einen Mann gab es nicht, dafür Geruch. Salz, Rauch und Glitzer. Ich habe das Fenster geöffnet; ein Glas Wasser neben das Bett. Aus ihrem Mundwinkel lief ein Speichelfaden, und in der Ecke des Zimmers war ein neuer, trockener Baum in einem schweren Topf, die braunen Blätter in Tropfenform. Die Hände hatte Mutter zwischen die Beine geklemmt, und die Haare lagen verknotet auf der Seite. Ich habe ihr die Haare geöffnet und die Decke bis zur Schulter hochgezogen.

Ein schöner Baum, habe ich gesagt.

Mutter atmete ruhig.

Bruno hat mir von einem Baron Münchhausen erzählt. Er sagte, der Baron von Münchhausen bindet bei dichtem Schneetreiben sein Pferd an einen Pflock, der sich nach der Schneeschmelze als Kirchturmspitze erweist. Ich finde das komisch.

Ich reibe Schaum in die Fransen des Teppichs. Bruno liegt in der Küche. Mutter schleicht herum. Ihr Bademantel öffnet sich beim Gehen, so sehe ich ihre Brüste und die weißen Flecken an ihrem Bauch, an den Oberschenkeln, am Schlüsselbein. Im Bad höre ich sie würgen.

Draußen ist der Himmel gelb. Die Nachbarskinder spielen im Hof unter der Linde König und Königin. Die Wäsche riecht nach Waschmaschinenfrühling. Draußen irgendwo ist Peter. Peters Haar glänzend. Seine Haare sind dunkelbraun. Sehr dunkelbraun. Unglaublich dunkelbraun. Ganz ganz dunkelbraun.

In einer Pause, als er vom Klo kam, als ich gesehen hatte, dass er zum Klo ging, und auf ihn wartete, ging ich wie zufällig ne­ben ihm her.

Hallo, sagte ich.

Er nickte mir zu.

Meine Mutter sagt, am Feuer kann man am besten reden. Das Feuer ist das Symbol für die Ewigkeit, sagte ich.

Peter sah mich von der Seite an, und ich sah geradeaus, weil, von der Seite betrachtet, ist mein Gesicht am feinsten.

Und, sagte ich weiter, die Vorstellung, ewig Zeit zu haben, um über alles zu reden, das gibt dem Reden den nötigen Raum, die nötige Tiefe. Meine Mutter, sagte ich, weiß das.

Peter sah mich nicht mehr an. Und?, fragte er.

Na ja, sagte ich, wir könnten nächste Woche im Wald am Feuer reden.

Ja, sagte er und rannte über den Platz zu seinen Freunden, die ihren Ball nach Tina warfen.

Ich fand Bruno in einem Gebüsch sitzend, er beobachtete Ameisen, die tote Ameisen transportierten.

Wenn es stark regnet, sagte er, und der Boden überflutet wird, dann bauen sie aus sich selber ein Floß.

Schön ist das, sagte ich.

Schön, sagte Bruno, ja.

Lass das doch, flüstert Mutter, als sie aus dem Bad kommt, ihre muskulösen Arme gegen den Türrahmen stemmt. Lass das doch sein, sagt sie. Ich halte mir einen Arm vors Gesicht und denke, du stinkst.

Du stinkst, sage ich leise.

Mutter weint.

Das ist doch alles eine große Scheiße, sagt sie, und ich nicke und reibe weiter den Schaum in die Fransen. Scheiße, sagt sie, und ich nicke.

Das nasse Haar klebt ihr am Hals. Mutter hat eine Essensunverträglichkeit, deshalb hat sie weiße Flecken am Körper und im Gesicht. Der Arzt sagte, sie müsse sich einen strikten Speiseplan machen. Mit Dinkelmehl backen. Sie müsse im Reformhaus einkaufen.

Jetzt habe ich mehr Geld bezahlt, als ich mir leisten konnte, um zu erfahren, dass ich es mir nicht leisten kann, diese Flecken verschwinden zu lassen oder zu verhindern, dass es mehr werden, hat Mutter gesagt. Irgendwann werde ich ganz weiß sein, hat sie gesagt. Dann sehe ich aus wie eine Adelige.

Mutter geht über den Flur davon, geht in ihr Zimmer. Sie schläft, zwischendurch steht sie auf und übergibt sich oder schaut aus dem Fenster, legt sich zu Bruno auf den Küchenboden. Bruno und ich kochen Nudeln, und weil es keine Sau­ce mehr gibt, essen wir die Nudeln nackt.

Mutter kommt in die Küche und sagt, sie gehe jetzt schlafen.

Du hast bis eben gerade geschlafen, sagt Bruno, du bist nackt und draußen ist es dunkel und hier drinnen brennt das Licht und wir wohnen im ersten Stock.

Das ist mir egal, und ich bin hundemüde, sagt sie.

Sie schaut in den Nudeltopf, fasst hinein, nimmt eine Nudel, riecht an ihr, wirft sie zurück.

Morgen ist es wieder gut, sagt sie, einmal ist ein guter Tag, dann wieder ein anderer.

Hoffentlich, sage ich und frage, ob sie noch was braucht.

Nein, nein, mein Tierchen, sagt Mutter, mir ist nur schrecklich langweilig bei meiner Arbeit, dieses Bewegen und Ange­sehenwerden dabei, dieses sinnlose Lächeln im Scheinwerferlicht und dann weitet sich diese Langeweile auf alles aus, und ich beginne zu denken, und wenn ich denke, dann werde ich müde.

Was denkst du denn?

Ich denke daran, was hätte sein können.

Und was hätte sein können?, fragt Bruno.

Fast alles, sagt Mutter.

Das ist viel, sage ich.

Ja, sagt Mutter, gerade darum werde ich so müde.

Wir könnten ein Spiel spielen, sage ich.

Wir könnten umziehen, sagt Bruno, wenn du willst.

Wir fahren im braunen Auto fünfmal um den See. Wir fahren um den See und sehen draußen nur den Regen an den Scheiben und den Regen in der Luft, sehen kurz, nachdem der Scheibenwischer über die Frontscheibe ging, auf die Straße, links auf das Wasser, die Bojen sehen wir, weil sie orange sind, und die Schwäne, weil sie größer sind als Enten. Wir strecken die Füße aus dem Fenster, und vom Regen werden unsere Füße nass.

Fred schaut auf Mutters Beine, Fred spricht nicht mit uns, aber er singt die Lieder falsch, Fred hält einmal, um Fisch zu holen, aber Fisch gibt es nicht, also essen wir Nüsse. Fred riecht nach Metall. Fred ruft Maria in den Fahrtwind. Fred singt, Maria, du bist so wunderschön, ja schön, so schön, schöner gibt es nicht. Er ruft aus dem Fenster in den Regen hinein. Wir spucken die Nussschalen aus dem Fenster, auch in den Regen hinein. Mutter lächelt und sagt, dass es nun genug sei davon.

Und Bruno küsst mich einmal, dann lege ich mein Gesicht in sein Haar, es riecht nach Rauch und Erde, nach Russland, wie ich mir ein Russland vorstelle, das weit ist und kalt und nach Rauch und Erde riecht. Bruno hat sein Buch dabei und öffnet es nicht. Wir schreien, weil der Motor laut ist, und wir schreien auch aus Freude. Wir schließen die Augen und fliegen.

Bei jeder Runde um den See sagt Fred, jetzt kommt das Luxushotel, und dann sehen wir es, wie es weiß dasteht am Ufer des Sees im Regen, wie die Terrasse leer ist und die Palmen noch weiß verpackt vom Winter, wie eine Matratze vor dem Eingang liegt, vielleicht ist es auch ein Gepäckstück oder ein Mensch. Wir sehen die schwarzen Wagen vor dem Hotel und sehen in den Trauerweiden am Ufer die Lichter nicht brennen.

Jedes Mal, wenn wir einmal um den See gefahren sind, sage ich, jetzt kommt der Schrottplatz mit den Autoteilen, dann sehen wir den Schrottplatz, sehen die Wagenskelette aufeinander­gestapelt, vielleicht sind es Skelette von Elefanten oder Walen oder anderen großen, toten Tieren.

Jedes Mal, wenn wir einmal um den See gefahren sind, sagt Mutter, jetzt kommt die Tafel, auf der Frankreich steht, dann sehen wir die Tafel, auf der Frankreich steht, vielleicht steht darauf aber auch etwas ganz anderes, aber ich schaue und sehe nur Regen.

Bruno hat seine Schuhe ausgezogen, und aus dem Loch seiner Socke kommt der große Zeh, er schabt mit dem Zeh auf der staubigen Fußmatte. Bruno ist ein schöner Wolf. So schön habe ich ihn lange nicht gesehen, so schön war er, als er über die Kellerassel sprach.

Mutter lässt Freds Hand auf ihrem Bein, und sie summt in den schwebenden Staub hinein, und ich sehe ihre Perlenkette aus Muttermalen und berühre sie. Sie dreht sich zu mir um und sagt etwas im Lärm, was ich nicht verstehe, aber weil sie lächelt, lächle ich auch.

Ich frage mich, ob sie diese Muttermale von ihrer Mutter hat und ob ich auch solche Male von ihr habe, irgendwo, die Gleichen, die gleiche Schönheit haben werde wie sie, wenn ich groß bin, aber ich glaube, ich habe etwas anderes, ich habe aber auch etwas. Wenn ich nach draußen schaue aus dem Autofenster, dann habe ich die Stromleitungen in meinem Kopf, als Verbindung der Dinge auf der Welt. Sehe ich Bruno, habe ich eine Liebe für ihn, die groß ist wie der Haufen Tierskelette, an dem wir zum fünften Mal vorbeifahren.

Im Raum des Autos ist Freds Metallgeruch, der Geruch von alten, verklebten Kräuterbonbons, von Vanille aus Mutters Blusenkragen und Erdgeruch von Brunos Körper, auch der Duft von Staub, Benzin und Regen. Während der letzten Fahrt liegt der Lärm wie eine Decke über Bruno und mir. Ich sehe die Straßenlaternen vorüberziehen und Werbetafeln; es ist Nacht.

Bruno und ich haben keine Großeltern. Weil wir beide keinen Vater haben, haben wir natürlich auch von diesem Vater, den wir nicht haben, die Großeltern nicht. Von Mutter auch nicht. Ihr Vater war schon nicht mehr da, als ich kam.

Ihre Mutter wollte sie lange nicht sehen. Wir haben sie später dann doch noch ein paarmal gesehen. Ich weiß nicht, wer wen sehen wollte, aber ich hab mich gefreut.

In meiner frühesten Erinnerung sehe ich sie in Hellblau. Sie sitzt vollkommen hellblau gekleidet in unserer Küche, ihr Pullover besteht aus vielen weichen Härchen, wie das Fell einer Katze. Ich habe sie gerne berührt, heimlich am Arm oder Rücken. An mein Gesicht an ihrem Pullover erinnere ich mich. Sie faltet Unterhosen und sortiert Socken in dieser meiner Erinnerung. Sie steht bei uns in der Wohnung und legt ihr Täschchen in der Küche auf den Tisch. Sie kocht Milchreis in meiner Erinnerung und füttert Bruno mit einem Plastiklöffel, den sie aus ihrer Tasche gezogen hat, der Löffel in einem Plastikbeutel, der Plastikbeutel mit Druckverschluss. Bruno mit offenem Mund und den vergrößerten Babyaugen hinter der Brille. Sie nimmt die Teller für uns aus dem Schrank in meiner Erinnerung und wäscht sie mit Seife aus. Sie schließt den Reißverschluss unserer Jacken bis ganz oben, sie bürstet mir das Haar, lange und vorsichtig und bis kein Haar mehr mit einem anderen verknotet ist. In ihrem Milchreis war Zimt. Ich liebte diesen Zimt im Milchreis und den Geruch der Mutter von Mutter nach Kokosnuss.

Als sie nicht mehr in unsere Wohnung kam, haben wir sie einmal in einem Café getroffen und sehr viel Kuchen gegessen. Es war weiß und rosarot und fliederfarben in diesem Café, auch der Kuchen war weiß und rosarot und fliederfarben. An der Wand hing ein Bild von einem Heidelbeerstrauch, das weiß ich noch, weil Mutter und ihre Mutter lange das Bild betrachtet haben und sich nicht gegenseitig ansahen. Und dann sagte die Mutter von Mutter, das ist ein Heidelbeerstrauch. Sie trug ein pastellfarbenes Kleid und eine Schauspielerinnenfrisur. Perlohrringe und eine Perlenkette. Sie steckte Bruno und mir etwas Geld zu, welches Bruno sich in den Mund stecken wollte und Mutter uns wieder wegnahm und ihr zurückgab.

Wir haben Geschenke bekommen, und die Mutter unserer Mutter hatte feuchte Augen, als sie die Geschenke vor uns hinstellte. Ein Radio habe ich bekommen und Bruno ein Auto zum Draufsitzen und Herumfahren. Das weiß ich noch, und dass sie nach Kokosnuss gerochen hat und uns gefragt hat, wie es uns geht. Mutter hat etwas in Zellophan Eingewickeltes bekommen, das weiß ich noch, wegen des Knisterns des Zellophans und weil sie ihr Geschenk nicht ausgepackt hat. Sie legte es neben sich auf die Bank, und Bruno, der neben ihr saß, hat daraus lange ein Knistern gemacht, bis Mutter ihn auf den Boden setzte. Ich weiß noch, dass die Mutter der Mutter etwas wegen meinem Vater zu mir sagen wollte. Sie sagte, Anais, dein Vater ist ein guter Mensch. Das sagte sie zu mir, und sofort knallte Mutter ihre Hand auf den Kirschholztisch. Das weiß ich noch, ich erinnere mich an den Tisch, weil die Mutter von Mutter zuvor gesagt hatte, wir sollten aufpassen mit der Schwarzwälder Kirschtorte auf dem Kirschholztisch. Das hatte ich lustig gefunden, deswegen weiß ich es noch, und ich weiß noch, dass Bruno herumgekrochen ist. Dann sind wir gegangen, schnell und dramatisch.

 

Als wir die Mutter von Mutter das nächste Mal sahen, war sie tot. Sie lag in einem Kühlraum, in dem auch eine Kerze brannte. In dem Mutter neben ihrer Mutter stand und ihre kalte Wange berührte. Sie roch nicht, und es gab an ihr keine Weichheit mehr. Weiß war sie, sehr weiß, und bestimmt war sie innen so kalt wie die Luft im Raum.

Ich weiß noch, dass es an ihrer Beerdigung schneite, dass weiß ich noch, weil vielen Frauen mit hochgestecktem Haar die Schneeflocken auf den Frisuren und Pelzmänteln liegen geblieben waren. Auch auf den Armen der kahlen Bäumchen vor der kleinen Kirche lag der Schnee. Oft haben die Frauen etwas aus ihren goldenen und roten und samtenen Täschchen genommen und wieder etwas darin verstaut, oft haben sie die Arme vor dem Bauch gekreuzt. Die Kirche war aus Beton, und zum Öffnen der Eingangstür war an der Tür ein großes, eisernes Kreuz befestigt. Das weiß ich noch, weil ich mich an das Kreuz hängen musste, um die Tür zu öffnen. Viele haben Mutter nicht angesehen und uns nur von Weitem. Einige sagten etwas zu Mutter, und sie hat davon ein Gesicht hart wie Stein bekommen. Viele hatten Blumen in ihren behandschuhten Händen, manche der Frauen rochen, wie die Mutter der Mutter gerochen hatte. In der Kirche dann sagte der Pfarrer, ehret Eure Eltern, die Euer Haus sind. Als er das sagte und dabei Mutter nicht ansah, stand sie auf, nahm Bruno auf den Arm und mich an der Hand und verließ die Kirche. Mit den Absätzen machte sie Lärm, sodass wir den Pfarrer nicht mehr hören konnten.

Draußen gingen wir an das offene Grab. Und Mutter sagte etwas mit dem Wort Liebe in die Leerstelle hinein.

Wütend sagte sie es, und dann gingen wir heim, und dann trank Mutter Gin mit Gurke. Das weiß ich noch, ich erinnere mich an die Gurke.

Bruno fragte Mutter einmal, wer sein Vater ist.

Ich fragte Mutter auch einmal, wer mein Vater ist.

Und Mutter wühlte in ihrem Zimmer irgendwo nach etwas, kam aber ohne etwas in die Küche, setzte sich an den Tisch.

Vielleicht wühlt sie auch nur, um Zeit zu gewinnen, sagte Bruno, als ich fragte, nach was sie wohl suche.

Zeit für was?, fragte ich.

Zeit zum Überlegen, was sie sagen soll, sagte Bruno.

Aber warum überlegen?

Das sogenannte Geheimnis zwischen Mutter und Kind vielleicht, sagte Bruno.

Vielleicht, sagte ich und hoffte, sie komme mit einem Bild meines Vaters, auf dem mein Vater aussieht wie mein Vater.

Mutter kam ohne Bild, kam mit ihrer Eleganz.

Ich habe nichts gefunden, sagte sie.

Was hast du gesucht?

Aber Mutter legte ohne Worte eine Hand auf ihren Mund, sie setzte sich und dachte nach. Bruno und ich warteten, schwiegen, sahen ihre Hände, die miteinander spielten und ihre zwei tiefen Falten zwischen den Augen.

Wie unglaublich schön meine Mutter ist, dachte ich. Aus Speckstein war ihr Gesicht an diesem Morgen.

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