Immer ist alles schön

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Ich stehe im Hof unter der großen Linde und sehe bei Frau Wendeburg Licht. Ich stehe hier und sehe sie in der Küche sitzen, unter dem tiefen Lampenschirm, vom Küchenlicht beleuchtet. Der Wind kommt in Schüben in den Hof, dreht seine Runden, geht, und der Donner klingt leise, als brächen Felsen innerhalb des Himmels, in einem Himmel außerhalb der Stadt.

Ich denke an Frau Wendeburgs Fassadenblick.

Ihre Wollmäntel sind weich, auf ihren Schultern liegen Schuppen wie Schneeflocken, das kann ich immer dann erkennen, wenn der Wollmantel dunkel ist, und ich weiß, dass an ihrem braunen Regenschirm eine Speiche verbogen ist.

Frau Wendeburgs Wollmäntel sind grün, rot, braun, orange, weiß. Frau Wendeburgs Haut ist hellbraun gefleckt, weißlich, billigpuderdosenorange, rosarot.

Und an ihrem Arm machte der leere Leinenbeutel einen Leinenbeuteltanz im Wind. Der Wind bewegte auch die Blättchen am Baum. Frau Wendeburg, die langsam davonging.

Und jetzt ihr Lächeln an der Scheibe. Ein Vorhangzurseiteschieben mit zwei Fingern, ihr rundes Gesicht. Sie schaut nach draußen. Ich stelle mich hinter den Baum.

Frau Wendeburg kennt unsere Wohnung von früher, sie kennt das Rauchen von Mutter auf dem Balkon. Sie kennt Brunos Schlaf und meinen. Sie hat Toast Hawaii für uns gemacht, das weiß ich noch, weil der Schinken salzig war und die Ananasscheiben süß. Wir mussten uns waschen vor dem Schlafengehen mit den Waschlappen, die kratzten, sie waren alt und steif, nicht weich wie Frau Wendeburgs Mäntel. Sie hatte die Tür unseres Schlafzimmers offen gelassen, weil sie dachte, wir könnten nicht schlafen ohne Licht. Der Fernseher war laut, wenn sie da war, das weiß ich noch, weil ich nicht schlafen konnte wegen Fernseher und Licht. Sie roch nach Kräutern, Frau Wendeburg, auch nach Rose, auch nach der Katze und nach Vergangenheit roch es da, wo Frau Wendeburg war. Sie kennt das durch die Wand fließende Wasser, wenn Mutter nach dem Bad den Stöpsel zieht.

Und Frau Wendeburg schaut nach draußen zu mir. Sie lächelt, ich sehe ihr kreisrundes Gesicht an der Scheibe, darin das Lächeln, das unheimlich ist, weil es nirgends hingeht, niemanden meint, der da ist.

Und sie steht auf, stößt mit dem Kopf gegen den Lampenschirm, das Licht geht hin und her, hin und her, Licht und Schatten liegen abwechselnd auf Frau Wendeburg, die zu tanzen beginnt. Ich sehe, wie sie die Arme hebt. Sie tanzt zu keiner Musik, und sie tanzt mit jemandem, langsam. Frau Wendeburg mit dem Kopf an eine Brust gelegt. Sie geht mit dem Licht der Lampe hin und her, tritt von einem Fuß auf den anderen. Hinter ihr glänzt die Küchenablage silbern. Hinter ihr dampft das Wasser im Teekocher. Der Dampf steigt hoch, es sammeln sich Tropfen am Kunstholz des Küchenschranks und fallen wieder. Neben ihr sind die Blumen auf dem klebrigen Plastiktischtuch grün und rot; auf dem Tischtuch steht die Pfeffermühle, und um die Mühle herum liegt Pfefferstaub. An der Wand ein Bild im Goldrahmen, ein Bild von Frau Wendeburg mit einer weißen Katze auf dem Sofa im Wohnzimmer, das Sofa ist braun.

Frau Wendeburg riecht nach Rose.

Der Lampenschirm steht jetzt still, das Licht, keine Tropfen mehr am Küchenschrank. Das Unwetter ist weitergezogen, an der Stadt vorbei. Noch zweimal weit weg ein leises Donnern. Als es draußen finster ist, löscht sie das Licht.

In unserer Wohnung sagt Mutter, dass sie froh sei, dass ich da bin. Sie habe sich Sorgen gemacht.

Aber warum?, frage ich.

Weil es regnet, sagt sie.

Aber es regnet nicht, sage ich.

Doch, bestimmt, sagt sie, und dass ich Bruno sagen soll, er solle sich endlich waschen.

Ich sage Bruno, dass er sich waschen soll.

Bruno sagt, Nein, er habe keine Lust, sich zu waschen.

Aber duschen kannst du dich, das ist angenehm, sage ich.

Aber duschen möge er nicht, sagt Bruno, das Wasser sei immer kalt oder heiß. Drehe man es kühler, werde es kalt, und drehe man es wärmer, werde es heiß, und so könne er sich niemals entspannen, und er möge es nicht, wenn ihm Wasser über das Gesicht laufe, dann hätte er das Gefühl, er müsse sich fortwährend das Gesicht trocknen.

Wasch dir wenigstens die Füße, sagt Mutter, wenigstens das könntest du für uns tun.

Bruno reibt sich die Füße mit Seife ein, ich betrachte mein Gesicht im Spiegel und sage ein paar Sätze, die ich zu Peter sagen könnte.

Gestern habe ich bei Regen unter der Linde gestanden, und es roch nach Schnecke, sage ich. Gestern habe ich unsere Nachbarin tanzen gesehen mit ihrem Mann, den es nicht gibt. Ich möchte nie so tanzen müssen wie sie. Und du?

Peter, sage ich zu mir im Spiegel, meine Mutter ist eine wun­derbare Tänzerin, und ich mag es, wenn du von deinem Apfel so große Stücke abbeißt, dass man die Stücke an deiner Wangeninnenseite noch erkennen kann.

Bruno sagt nichts, aber ich spüre seinen Blick am Hinterkopf. Im Spiegel sehe ich seine eingeseiften Füße. Ich drehe mich nicht zu ihm um, sehe nur die Füße.

In die Küche fällt das Morgenlicht. Bruno sitzt neben mir, das Gesicht auf die Tischplatte gelegt, schaut an die Wand. In der Ecke der Küche hängt seit gestern Nacht ein silberner Vogelkäfig. Ich habe Mutter gehört, als sie nach Hause kam in der Nacht mit dem Käfig und einem unaufhörlichen Kichern, einer Männerstimme neben sich im Flur und in der Küche und in ihrem Zimmer. Einen Vogel gibt es nicht, nur ein kleineres Vogelhaus im Vogelkäfig. Wir hören den Fernseher aus Frau Wendeburgs Wohnung und ein leises Schnarchen aus Mutters Zimmer, das nicht Mutters Schnarchen ist. Wir hören auch, wie unsere Füße die trockenen Brotkrümel und die Reiskörner am Boden verschieben. Bruno hat sein Gesicht an meinen Arm gelegt, er versucht pustend, die Härchen aufzurichten.

Ich habe versucht, Peter zu ignorieren, aber Peter hat es nicht bemerkt. Er hat nicht bemerkt, wie ich das Bein angewinkelt und gelacht habe, dabei meine feinen Finger in seine Nähe streckte, wie ich mich überhaupt gestreckt und den Bauch eingezogen habe, wenn er sich in Sichtweite befand, und wie ich in meiner gelben Lieblingsleggins ein Rad geschlagen habe, als er mit seinen Freunden in meine Richtung schaute. Er hat nicht bemerkt, dass ich mir Zöpfe geflochten und Ohrringe habe stechen lassen für Weihnachten und Geburtstag zusammen. Er hat nicht bemerkt, wie ich nicht bemerkt habe, dass er ein Tor geschossen hat. Er hat nicht bemerkt, wie ich eine Woche lang vor dem Schlafengehen kein Brot mit Butter gegessen habe. Er hat nichts bemerkt, bis ich einfach zu ihm hingegangen bin und ihn gefragt habe, ob er mit mir reden will. Einfach so, und dann bin ich schnell wieder weggegangen. Meine Ohrläppchen haben geschmerzt, und die Pausenglocke hat mir auch wehgetan.

Du hättest vielleicht warten sollen, bis er antwortet, hat Tina gesagt. Tina trägt ihren Pullover oft falsch rum, nicht absichtlich, gerade das gefällt mir.

Und? Habe ich Peter in der nächsten Pause gefragt, und er hat die Augenbrauen hochgezogen; um ihn standen seine Freunde als Leibwächter. Sie trugen farbige Turnschuhe mit an der Seite reflektierenden Streifen, und an der Seite des Kopfes sind sie rasiert, alle. Peters rasierte Kopfseite ist viel weicher, aber das sage ich ihm nicht.

Und?, habe ich gefragt.

Ich hatte die Füße aneinandergelegt und schwankte deswegen wie ein Hochhaus. Hin und her und hin und her. Ich habe Schweiß unter den Armen gehabt.

Geh und friss, sagte einer.

Die anderen standen breitbeinig um uns herum und haben die Hände unter die Achseln geklemmt. Sie haben die Ar­me auf der Brust gekreuzt. Peter hat das auch gemacht, aber bei ihm sah es nicht blöd aus.

Ich habe sie ignoriert, habe Peter fest betrachtet.

Die Augen habe ich angeschaut, die braun sind wie das Braun unseres Tisches in der Küche, über den ich darum manchmal streiche mit den Fingern und an Peter denken muss. Und die weiche Lippe habe ich angeschaut, die weich ist wie die Kissen in Mutters Bett.

Mutter hatte einmal gesagt, arme Idioten gibt es immer und überall. Daran habe ich in diesem Moment gedacht. Die Idioten haben mich ausgelacht. Peter hatte seine schönen Augen, die mich ansahen.

Wenn meine Oberschenkel auf der Sitzfläche des Stuhls aufliegen, dann sind sie fünfmal so breit wie meine Arme. Bruno hat sich aufgesetzt, seine Augen sind geschlossen. Seine knochige Schulter berührt meine.

Ich bin erschöpft, sagt er und trinkt in kleinen Schlucken seine Milch. Dann legt er sich auf den Küchenboden.

Er hat Ja gesagt, ganz schnell und leise. Ja hat er gesagt, und ich bin davongelaufen.

Jetzt hat er Ja gesagt und kann nicht mehr Nein sagen.

Tina strahlte mich an, sie gab mir einen Klaps auf den Po.

Bravo, sagte sie.

In mir haben alle geklatscht. Ich bin zu Bruno gelaufen, der klein in einer Ecke des Schulhofs saß. Er hat hochgesehen mit dem schweren Buch auf den Knien, an seinem Hemdkragen hing ein schwarzes Haar, das habe ich ihm liebevoll entfernt.

Er hat Ja gesagt, sagte ich.

Hat er?

Ja, hat er. Laut und lachend, sagte ich.

Das glaub ich dir nicht.

Nicht laut und nicht gelacht, aber Ja.

Gut, sagte Bruno und nickte langsam.

Mutter kommt in die Küche und stößt den Vogelkäfig an, er schaukelt leer hin und her und hin und her. Und wir schauen ihm dabei zu, und Mutter zeigt auf den Käfig. Und sie streicht dem auf dem Boden liegenden Bruno mit dem Fuß über den Rücken.

Ein ganz hervorragender Morgen, sagt Mutter und geht auf den Balkon hinaus. Sie streckt die Arme von sich.

Ich liebe euch, sagt sie.

Ich hab ihn gefragt, sage ich.

Du hast ihn gefragt?

Ja.

 

Und was hast du ihn nun gefragt?, fragt Mutter.

Ob er mit mir reden will.

Ob er mit dir reden will?

Ja.

Gut, sagt Mutter. Das ist wundervoll, Anais.

Dann schweigen wir einen Moment. Ich schweige, weil ich merke, dass Mutter nachdenkt, und ich sie dabei nicht stören möchte, und Bruno schweigt, weil er meistens schweigt, und Mutter denkt nach.

Normalerweise redet man aber einfach, und dann fragt man, ob derjenige mit einem ausgehen möchte, in eine Bar, in einen Club, in ein Restaurant. Oder in deinem Fall am ehesten ins Kino, sagt Mutter dann.

Aber ich meine Reden ja im Sinne von Kennenlernen. Ich möchte mit ihm reden, um ihn kennenzulernen, um überhaupt zu wissen, ob ich mit ihm ins Kino gehen will.

Das findet man aber raus, wenn man nebeneinander im Kino sitzt und an verschiedenen Stellen lacht zum Beispiel oder den Geruch des anderen nicht mag oder wie er Popcorn isst. Und das ist einfacher, weil man dazu nicht reden muss.

Aber ich mag reden.

Ja, das stimmt, sagt Mutter, dann ist es ja gut.

Später kommt ein Mann mit weichen Wangen in die Küche und findet keine Möglichkeit zu sitzen. Er grüßt uns, indem er lächelt und die Hand hebt, steigt über Bruno, bleibt vor der Balkontür stehen, schaut hinaus. Ich finde auf seinen Armen keine Zeichnung, keinen Namen einer Frau, kein selbst gezeichnetes Messer. Ich finde keine Fremdheit, die mit ihm in die Küche gekommen ist. An der Balkontür kleben die Weihnachtssterne, bei manchen fehlt ein Zacken. Auf dem Balkon ist das kleine Windrad. Es dreht sich im Wind, und ich kann ihn riechen, den Wind, und Erde in der Luft und Reste von Regen.

Mutter wirft ihre Zigarette in eine Blumenkiste, kommt in die Küche, küsst den Mann, legt dann ihr Gesicht an die Scheibe. Die Zigarette raucht in der Blumenkiste; Mutter nimmt den Kopf von der Scheibe, und es bleibt ein Fettfleck.

Der Rauch der Zigarette steigt knapp vor Mutters Gesicht in die Höhe, vernebelt ihre violett umrandeten Augen. Der Rauch schleicht über die Oberlippe in ihre Nase, und aus dem Mund kommt er wieder raus. Sie hat eine Hand in die Erde der Blumenkiste gelegt. Ihr Mantel ist eine Forelle. Wir sehen uns in der Scheibe am Tisch sitzen und als Spiegelbild auf Mutter, die draußen auf dem Balkon steht und in der Blumenkiste ihre Finger bewegt. Über uns die Spiegelung der Glühbirne, hinter uns das gelbe Licht der Straßenlaternen.

Dann geht sie. Und wir gehen ihr nach. Wir bleiben hinter ihr im klebrigen Treppenhaus und im Hof. Wir betreten hinter ihr die Straße, gehen nahe an der Hausmauer und halb in den Büschen. Wenn Mutter unter die Laternen tritt, ist ihr Haar aus Gold. Ihre Absätze geben einen Takt auf dem Asphalt an, das Geräusch geht hoch, kommt von den Hauswänden zurück. Sie geht fest, als wolle sie Schlangen vertreiben. Sie geht, und ihr Forellenmantel hebt sich im Wind. Hinter den Fenstern brennen die Lampen und zuckt das blaue Licht der Fernseher.

Und dann dreht sich Mutter um.

Wir wollen wissen, was du machst, sagt Bruno.

Ja, sage ich.

Mutter schweigt und schaut uns an. Sie hält eine brennende Zigarette von sich gestreckt in der linken Hand. Sie macht mit den Fingern der anderen Hand Bewegungen, um uns zu sich zu holen, dann geht sie weiter, und wir gehen neben ihr.

Mutter öffnet eine silberne Tür. Wir gehen durch eine Hintertür in ein Hinterhaus und durch einen Flur wieder durch eine Tür, dann macht ein Licht aus Neonröhren unsere Gesichter bleich. Bruno und ich blinzeln, der Mann mit weichen Wangen steht in einem weißen Hemd vor uns.

Meine Kinder, sagt Mutter.

Fred, sagt der Mann und lacht.

Fred hat ein feuchtes Lachen. Er winkt uns zu und schaut dabei zu Mutter.

Wir haben uns bei euch gesehen, Maria, sagt er.

Und er sagt Mutters Namen, als wäre ihr Name kein Name, vielmehr ein Ausdruck für das Empfinden von Glück.

In einem Raum mit Schränken aus falschem Holz und bleichen Blumen aus Papier auf dem Tisch zupft sich Mutter Schamhaare. Sie dreht sich vor dem Spiegel, versucht sich von hinten zu sehen. Dann steigt sie in eine sehr glitzernde Haut. Bruno und ich sitzen auf weißen Plastikstühlen und warten, bis sie sich die Füße mit Öl eingerieben hat.

Der Vorhang ist schwer und dahinter das Murmeln, auch Schritte auf einem knarzenden Boden, tiefes und hohes Lachen, das Ablegen von Mänteln, Haut, die Haut berührt.

Ihr bleibt genau hier stehen, sagt Mutter.

Wir bleiben stehen, und Mutter schiebt den Vorhang zur Seite, geht hindurch.

Und ich frage mich, warum der Vorhang nicht auf- und sie hinausgeht, und dann geht der Vorhang hinter ihr wieder zu, dafür sind Vorhänge doch da, und geht jemand vor einen Vorhang, gibt es Applaus.

Das Publikum aber klatscht mit Flossen, nicht mit Händen. Eine Frau hat ein spitzes Gesicht, trägt Ohrringe in der Form von Ohren. Alle schauen Mutter an. Diese funkelt und steht still hinter einer Stange.

Sie trinken Sekt. Sie trinken Wein. Vor ihnen steigt Rauch auf. Sie streichen sich vorsichtig über das eigene glänzende Haar. Sie tragen weiße Hemden. Sie tragen Kleider mit Pailletten, lange Fingernägel in waldgrün, blutrot, meerblau. Sie haben ihre Finger in den Schälchen mit den schwarzen Oliven. Sie werfen Worte über die Tische, lachend. Sie warten. Sie werfen sich Oliven in die Münder, in den offenen Mündern sieht man fleischige Zungen. Ihre Zähne leuchten weiß im schummrigen Licht. Die Damen haben lange Finger, mit denen sie sich selber am Hals streicheln. Gurgeln und Seufzen. Farbige Steine sind in die Ringe eingelassen, die an jedem einzelnen Finger einer Dame stecken, mit denen sie die Hände einer anderen Dame bedeckt.

Hinter der Bar steht Fred und trocknet Gläser.

Mutter bewegt ihren reflektierenden Körper zur Musik, die feucht ist wie Freds Lachen. An der Decke gehen Rohre entlang, die silbern sind, und Mutter streckt die Brust nach außen und berührt mit dem Gesicht oben und mit den Fersen unten die Stange. Dann zieht sie die Beine hoch, über sich selbst. Ihre Beine gehen wie Schlangen um die Stange herum. Sie dreht sich kopfüber hängend. Sie streckt die Beine in den Raum und hält sich mit nur einer Hand, gleitet langsam drehend nach unten, unter der Glimmerhaut ihre Muskeln, und sie dreht sich und dreht sich immer schneller und verschwimmt vor meinen Augen zu Gold und Grün.

Das Publikum klatscht. Fred geht mit der Sektflasche herum, füllt die Gläser. Die Frauen und Männer zünden sich Zigaretten an oder nehmen aus einer Schale weiter die Oliven, stecken sie sich in den Mund, kauen, spucken die Steine aus. Mutter verbeugt sich, das Fantastische fällt aus ihrem Gesicht auf die Zuschauer, die Zuschauer pfeifen auch. Sie wedeln sich Luft zu. Sie haben glänzende Augen, und das Glänzen hat mit Mutter zu tun.

Dann bleibt sie bei den Tischen stehen, umarmt, küsst. Sie trinkt den Sekt. Fred zeigt auf uns, die wir da stehen halb hinter dem Vorhang, zu Mutter schauend, die ihre Haare öffnet und sie schüttelt.

Und Bruno schweigt, als Mutter vor ihm in die Hocke geht, seinen Mund küsst. Er schweigt, als Mutter ihn ihren kleinen grimmigen Professor nennt und ihn fragt, ob er es so schlimm fand. Sie steht auf, geht wieder in die Hocke, legt ihr Gesicht an seine kleine Brust, küsst ihn wieder. Er schweigt, als Mutter ihn loslässt und davongeht mit ihrer zweiten Haut, die geheimnisvoll glitzert, den unendlich langen Beinen.

Bruno schweigt auf dem Weg nach Hause, geht als müder Wolf. Er schweigt, während Fred neben uns hergeht und uns fragt, wie das alles für uns so ist und was unsere Lieblingsfarbe ist, und als ich Fred erzähle, dass ich Menschen mag und Meerjungfrauen. Er schweigt, während Fred sagt, Meerjungfrauen mag ich auch, uns die Hand gibt und sagt, schlaft gut, und dann den Weg wieder zurück zur Bar geht. Er schweigt, während ich Fred hinterherrufe, er soll doch bitte auf Mutter aufpassen, und während Fred sich umdreht im Laternenlicht und sein Bauch von oben beleuchtet ist und er ruft, das werde ich. Er schweigt, während ich froh bin und sage, wir haben unsere Mission erfüllt, du kannst die Waffe einschließen, und während wir Zähne putzen und ich ihn frage, was denn los sei, ob er nicht mit mir reden wolle. Er schweigt, während ich ihm einen Zahnpastapunkt auf die Nase mache und während wir im Bett liegen, während wir beide schweigen und wach sind, was ich daran merke, dass die Stille zu still ist für Schlaf.

Auf dem Wannenrand sitzend, betrachten wir uns im Spiegel und suchen in unseren Gesichtern die Gesichter unserer Väter. Ich finde die Wangenknochen meines Vaters und Bruno die Augenwimpern seines Vaters. Mutter steht im Flur und hängt ein Bild eines Kranichs an die Wand.

Der Kranich sei das Tier der Weisheit, sagt sie und, Brunos ­Vater sei ein rothaariger Mann gewesen, einer mit einem schönen Gesicht, das Schöne an seinem Gesicht sei gewesen oder sei es immer noch, dass die Gesichtshälften ungleich gewesen seien. Er habe mit nur einer Gesichtshälfte gelacht.

Wo er wohl jetzt sei, fragt Bruno, ganz beiläufig soll es klingen, geradeso, als ob es ihn nur wenig interessiere.

Mutter sagt, sie hätte ihn im Wald getroffen, aber da sei er jetzt bestimmt nicht mehr.

Was er denn wohl im Wald getan haben könnte, damals? Fragt Bruno noch immer geradeso, als ob es nichts zu bedeuten hätte.

Ach Tierchen, sagt Mutter und macht das Gesicht zu, wie die Geschäfte in der Innenstadt am Abend die Rollläden vor den Schaufenstern runterlassen.

Aber dann öffnet sie das Gesicht noch einmal, Rollladen hoch, ganz unverhofft, wie es manchmal bei ihr passiert, wenn sie über etwas nicht reden will, aber doch reden will, nicht mit uns, aber eben nur uns zum Reden hat.

Mutter sagte einmal, als Mutter müsse man sich ein Geheimnis bewahren, eines das, wenn man es verrät, der Mutter das Muttersein nimmt und dem Kind das Kindsein. Zwischen Mutter und Kind müsse etwas offenbleiben über die Welt der Mutter ohne Kind.

Ich frage sie, ob mein Vater das Geräusch und den Geruch vom Regen mochte.

Wir reden nicht von deinem Vater, sagt sie.

Das weiß ich, aber mochte er den Regen?

Das wisse sie nicht, sagt Mutter, und dass er nie über den Regen geredet habe außer darüber, dass er nass sei vielleicht und dass man wegen der Nässe besser drinnen bleiben sollte. Er mochte den Regen nicht, sagt sie, er mochte die Welt allgemein nicht sehr, er mochte eher die Gedanken an die Welt, vielleicht, die Welt als Karte, aber nicht das Berühren der Weltoberfläche. Nicht die Beschaffenheit der Welt.

Und weil es regnet, findet Mutter, sollten wir nach draußen gehen. Bruno und ich, und Mutter als Mutter zwischen uns. Wir gehen unter einem Regenschirm bis ans Ende der Straße und dann weiter in den Wald. Wir grüßen alle Menschen, die wir treffen, einige grüßen zurück. Wir grüßen die kleinen Menschen, die großen, Hunde, Amseln, Krähen, Katzen, Mutter singt. Wir berühren den Weg, die Verkehrsschilder, die Plakatwände, die Gesichter auf den Plakatwänden und die Bäume, die Blätter, Stämme und Schneckenhäuser, Nacktschnecken, das Moos, bauen im Wald eine Hütte, die zu klein ist für ein Kind, auch für ein Nagetier, und in sich zusammenfällt, bevor sie fertig gebaut ist.

Brunos Brillengläser sind angelaufen, und er ist hungrig. Dass er hungrig ist, merke ich daran, dass er sich auf einen umgestürzten Baum setzt und mit den Fersen an der Baumrinde scharrt. Er stochert auch mit einem Ast im Laub und scheint nicht zu bemerken, dass er nasser und nasser und nasser wird.

Wir laufen durch den Wald bis zu einem Sportplatz. Im Vereinslokal setzen wir uns an einen Tisch. Mutter schaut sich den Tisch genau an, sie fährt mit den Fingern den eingeritzten Zeichnungen nach. Sie schaut zu den Wänden, zu den Schals und Wimpeln an den Wänden. Sie schaut zu den verstaubten Pokalen und geht zur Toilette und kommt zurück.

Hier riecht es nach Senf, Fleisch, aufgeweichtem Karton, altem Bier und Schweiß. Der Wirt ist dick und äußerst langsam, er schlurft mit Bratwurst und Brot zu unserem Tisch. Mutter schaut auf ihre Hände, als müsste sie diese erst verstehen, bevor sie die Wurst schneiden können. Dann schaut sie zum Wirt, als müsste sie ihn und er sie kennen. Aber der Wirt erkennt sie nicht, er steht hinter seinem Tresen und schaut in den Fernseher, der über dem Eingang des Lokals hängt. Im Fernseher läuft ein Billardspiel. Ein fein gekleideter, asiatisch aussehender Herr geht um den Billardtisch herum, versenkt alle Kugeln. Der Wirt nimmt die Fernbedienung, schaltet um. Fußball. Bruno reinigt seine Brillengläser mit einem Stück seines Unterhemdes, so kann ich seinen weißen Bauch sehen. Ich lege meine kalte Hand auf seinen Bauch, er erschrickt und knurrt. Ich esse die Wurst und schaue nach draußen auf das Spielfeld. Der Regen fällt auf den Kunstrasen, dahinter ist der Wald dunkelgrün, und dicht über den Spitzen der Tannen bewegt sich ein Nebelteppich langsam nach links. Mutter und Bruno kauen still die Wurst, tauchen die Wurststücke in Senf, reißen Stücke vom Brot. Und ich frage mich, ob Mutter einen Freund haben will.

 

Will Fred gerne dein Freund sein?, frage ich.

Ich glaube schon, sagt Mutter, was denkst du?

Ja, sage ich, ich glaube auch.

Und was hältst du davon?, fragt Mutter.

Er ist nett, sage ich, aber ich kenne ihn nicht.

Und er wünscht uns gedanklich nicht fort, sagt Bruno.

Natürlich nicht, sagt Mutter, das würde ich nicht zulassen, so was.

Das stimmt so nicht, sagt Bruno.

Und du?, frage ich.

Ich mag ihn, doch doch.

Alle schauen wir ein wenig auf die leeren Teller.

Findest du es schlimm, dass ich tanze?, fragt Mutter irgendwann und schaut Bruno an.

Er schweigt.

Du musst es mir sagen, sagt sie, unbedingt musst du das, wenn du es nämlich schlimmer fändest, als ich es schlimm finde, irgendeine andere Arbeit zu machen, dann müsste ich das unbedingt tun, eine andere Arbeit finden, meine ich.

Wie sollen wir das aber feststellen können, wer von uns was wie schlimm findet und wie es im Verhältnis zum Schlimmfinden des anderen steht?, fragt Bruno.

Im Wald ist es still. Das Knacksen von Ästen ist manchmal zu hören oder Flugzeuge beim Start oder Landeanflug. Im Wald ist es still. Bruno, Mutter und ich halten uns an den Händen. Wir gehen langsam zurück, sehen einen Specht beim Hacken, fünf Schnecken ohne Haus, einen Baum, der einer alten Dame gleicht. Wir sehen eine Maus und ein von einem Hund zerkautes Stück Holz. Wir sehen eine Frau mit einem in Plastik eingehüllten Kinderwagen, ein Regenschirm mit verbogenen Speichen liegt im Bachbett.