Schneesturz - Der Fall des Königenhofs

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Walburga betrachtete das immer noch zierliche, jammernde Kind und war verzweifelt. Wenn Jakobea nicht langsam etwas zu sich nahm, würde sie zu schwach zum Überleben, da machte Walburga sich nichts vor. Über dieser Sorge vernachlässigte sie seit Tagen ihre Pflichten und wurde von Martin getadelt. Aber was sollte sie tun? Es ging doch um ein Menschenleben.

Bibiane kam mit einem Stoß Teller in die Stube und stellte sie auf dem Tisch ab. Dann setzte sie sich neben ihre Mutter auf die warme Ofenbank und betrachtete ihre kleine Schwester.

»Sie sieht so fahl aus«, sagte sie, »jeden Tag mehr.«

Walburga schaute ihre zweitälteste Tochter streng an. Sie sollte so etwas nicht sagen, aber die Sechzehnjährige hatte recht.

»Soll ich sie mal halten?«, bot Bibiane an.

Walburga legte das kleine Bündel in die Arme seiner Schwester und spürte Erleichterung. Bibiane wiegte Jakobea hin und her und summte ein Lied für sie. Ganz weich und zärtlich sah sie dabei aus, wie Walburga es bei der energischen Bibiane noch nie wahrgenommen hatte. Walburga war gerührt von diesem Anblick. Gleichzeitig war sie sich plötzlich sicher, dass das kleine Mädchen nicht zu retten sein würde.

Jakobea starb in der Nacht nach Allerseelen. Als Walburga am Morgen aufwachte, lag der Säugling tot neben ihr im Bett. Die Bäuerin war untröstlich. Auch Martin war traurig. Die kleinen Geschwister weinten hemmungslos.

In der Stube stellte Martin in der vorderen Ecke zwei Stühle zueinander und legte ein Brett dazwischen. So bahrten sie den Säugling auf, holten das Totenkreuz hervor und versammelten sich geschlossen um das kleine Totenbett. Pfarrer Schilling kam. Walburga sah verhärmt aus, grau, faltig. Sie fühlte sich abwesend, als säße sie woanders und hörte die Stimmen aus weiter Ferne. Ausgerechnet das dreizehnte Kind von ihnen war verstorben. Walburga hatte das Gefühl, als würde ihr eine besondere Prüfung auferlegt. Was hatte Gott mit ihnen vor? Das dreizehnte Kind.

»Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich«, sprach der Pfarrer.

»Amen«, antwortete die Hofgemeinschaft.

»Es ist Vorsehung«, fuhr der Pfarrer fort. »Es liegt nicht in unserer Hand, sondern ist allein Gottes Entscheidung, wann es Zeit ist, zu ihm zu gehen.«

Er segnete Jakobea und verabschiedete sich bald darauf. Gertrudis trat vor Walburga, die sich mit dem Zipfel ihrer Schürze die Tränen aus dem Gesicht wischte. Seit der Todesnachricht war Gertrudis von Zweifeln geplagt, ob nicht sie das Kind auf dem Gewissen hatte, nachdem sie Walburga nach dem Zwischenfall in der Küche vor wenigen Tagen so heftig verflucht hatte. Gertrudis hatte den Teufel heraufbeschworen und ihrer Kostgeberin alles Schlechte gewünscht, aber doch nicht den Tod.

»Es tut mir leid, Bäuerin. Aber du und der Bauer, ihr könnt ja froh sein, dass ihr noch so viele weitere Kinder habt, die alle gesund sind«, versuchte sie wohlmeinend ihr Beileid auszudrücken.

Walburga, die an nichts anderes als an die Zahl dreizehn denken konnte, glaubte, sie hätte sich verhört. Und deshalb sollte der Tod von Jakobea weniger schlimm sein? Ach, sie konnte diese dumme, liederliche Magd nicht länger ertragen! Die Bäuerin sprang auf.

»Raus! Raus mit dir, aber sofort. Verlass diesen Hof, ich will dich nie wieder hier sehen.«

Mit der ausgestreckten Hand wies sie zur Stubentür. Gertrudis schaute sie irritiert an und war wie erstarrt.

»Was …?«

»Raus, hab ich gesagt!«, bellte Walburga.

Martin ging dazwischen. »Du wirst jetzt nicht die Magd rauswerfen, Walburga, lass es sein.«

»Du willst nur weiter mit ihr tändeln, aber ich ertrag sie nicht mehr. Sie soll gehen. Raus!«

Walburga zitterte, aber ihre Entscheidung stand fest, auch wenn ihr Mann das letzte Wort hatte. Gertrudis hatte den Bogen überspannt, und jetzt war Schluss.

Gertrudis wirkte verschüchtert und glaubte zunächst nur an einen der üblichen Wutanfälle der Bäuerin. Einige Momente stand sie unbeweglich da und schaute von einem zum anderen. Als sie merkte, dass die Bäuerin es ernst meinte, löste sich ihre Erstarrung, sie zuckte wortlos mit den Schultern und verließ die Stube. Kaum war sie draußen, ließ Walburga den Arm sinken und setzte sich erschöpft auf die Ofenbank.

Im selben Moment erhob sich Wendelin. »Wenn Gertrudis geht, dann muss ich auch gehen.«

»Was zum Teufel …?« Martin sah seinen Knecht fassungslos an.

»Nicht fluchen!«, zischte die Fallermarie dazwischen.

»Gertrudis und ich gehen zusammen. Tut mir leid, Bauer.«

Wendelin breitete entschuldigend die Arme aus. Er spürte, dass er in seinem ganzen Leben noch nie so viel Mut gehabt hatte wie in diesem Augenblick. Jetzt war der Moment gekommen, an dem sie sich entscheiden mussten. Hinter der Stubentür wartete Gertrudis, und auch wenn sie jetzt nicht wüssten, wohin, so war doch klar, dass sie gemeinsam den Weg gehen würden. Er würde sie nicht im Stich lassen. Kaum hatte Wendelin die Stubentür zugezogen, fielen er und Gertrudis sich im Hausgang in die Arme.

»Lass uns unsere Bündel packen, und dann sind wir weg«, sagte Wendelin.

Drinnen hörte man den Bauern zürnen.

»Beide Völcher weg. Du bist ja von allen guten Geistern verlassen!«, schrie Martin seine Frau an. »Wie kannst du es wagen? Welcher Knecht geht jetzt mit mir in den Wald? Wer macht die Arbeit der Magd? Du weißt es nicht? Das ist jetzt dein Problem, du wirst es ausbaden!«

»Das ist mir gleich«, keifte Walburga zurück. »Lieber schufte ich die ganze Nacht durch, als dass ich diese Allmannshure hier noch länger ertrage. Glaubst du, ich habe nicht gesehen, wie du ihr ständig hinterhersteigst? Ist Jakobeas Tod vielleicht die Strafe Gottes dafür, dass du die Finger nicht von der Magd lassen kannst?«

»Du bist ja irre, vollkommen verrückt. Du hast wohl zu viel Zeit zum Nachdenken. Aber die Arbeit wird dir diese Gedanken schon austreiben«, entgegnete Martin wütend.

»Hört auf, alle beide«, ging die Fallermarie dazwischen. »Das ist nicht der Zeitpunkt, um zu streiten. Vor eurem toten Kind. Habt ihr denn keine Ehre?«

Sie hielt kurz inne und sah Walburga und Martin streng an, bevor sie weitersprach: »Bei Gott, reißt euch zusammen. Macht es nicht noch schlimmer. Reicht es nicht, dass euer Kind gestorben ist? Eines ist sicher: Noch mehr Unglück auf dem Hof können wir nicht gebrauchen. Also betet zu Gott, dass er uns gnädig sei.«

Walburga trug schwer am Verlust ihrer Tochter. Darüber hinaus erschien ihr die Vorstellung, noch einmal schwanger zu werden, furchterregend. Sie wollte ihre Ruhe. Sie konnte es nicht mehr ertragen, wenn Martin sich abends im Bett ihr näherte, der Atem nach Schnaps riechend, und sein eheliches Recht einforderte.

Wenige Wochen nach Jakobeas Tod sah Walburga ihre Stunde gekommen, um das fortan zu verhindern. Martin tauchte mit einem jungen Ehepaar im Haus auf und zeigte ihnen das Stüble und die darüber liegende Schlafkammer. Auch die Küche inspizierten sie, während Walburga das Mittagessen vorbereitete. Die Tränen liefen ihr gerade die Wangen herunter.

»Es sind die Zwiebeln«, erklärte sie und deutete mit dem Messer auf den Tisch vor sich.

Das war eine gute Ausrede, doch kamen Walburga seit Jakobeas Tod oft die Tränen, wenn sie allein war. Jetzt war sie dazu noch fassungslos. Denn statt noch vor Weihnachten eine neue Magd und einen neuen Knecht auf den Königenhof zu bringen, kam Martin plötzlich mit Gehausleuten daher. Untermieter, die ihren eigenen Herd in der Küche und ihr eigenes Stüble haben sollten. Sie schaute der Gruppe nach, als diese wieder ihre Küche verließ, legte das Messer nieder, wischte sich mit der Schürze die Tränen ab und folgte ihnen in die Stube.

»Walburga, bring etwas zu trinken und Brot«, befahl Martin, kaum dass sie zur Tür hineinkam.

Walburga tat wortlos, wie ihr geheißen, und ging zurück in die Küche. Die junge Frau lächelte sie freundlich an, als sie mit dem Wasserkrug wieder in die Stube trat. Augenblicklich entwickelte Walburga eine Abneigung gegen das junge Paar. Die Frau hatte lange blonde Locken und sah aus wie ein Engel. An ihrem Rockzipfel hing ein etwa dreijähriger Bub, und in ihrem Arm hielt sie einen Säugling. Walburga spürte einen Stich.

»Das sind Hilar Winterhalter und seine Frau Clara«, stellte Martin vor. »Hilar ist Uhrmacher. Sie ziehen hier ein und kriegen das Stüble und die Stüblekammer. Und Clara bekommt den zweiten Herd in der Küche.«

Walburga sah von dem Mann zu dessen Frau. Sie verspürte keinerlei Interesse daran, sich ihre Küche mit einer fremden Frau zu teilen. Was dachte sich Martin bloß?

»Wir freuen uns sehr«, sagte Clara nun. »Es ist schön, dass wir auf dem Königenhof wohnen können.«

»Auf gute Nachbarschaft«, ergänzte Hilar.

Beide strahlten Walburga an, waren froh, eine Bleibe für sich und ihren Nachwuchs gefunden zu haben. Martin vereinbarte mit ihnen, dass sie gleich am nächsten Samstag einziehen könnten. Walburga saß stumm daneben und schaute zu, wie die beiden Männer am Stubentisch ein entsprechendes Papier aufsetzten.

Nachdem die jungen Leute gegangen waren, erklärte Martin, dass die Fallermarie das Stüble samt Stüblekammer zu räumen hatte.

»Einverstanden«, erwiderte Walburga bestimmt, »wenn das so ist, dann schläft die Mutter ab sofort bei mir. Du kannst in die leere Knechtskammer ziehen. Da ärgere ich mich auch nicht, wenn du dich viel später als ich volltrunken hinlegst und die ganze Nacht schnarchst.«

Erstaunlicherweise hatte Martin keinerlei Einwände. Noch am selben Abend zog er um. Das Ehepaar ­Tritschler würde nie wieder beieinanderliegen.

 
Teil II 1843 bis 1844

Herbst 1843

Bibiane wartete an ihrem üblichen Treffpunkt. Sie hoffte, Philo hatte mitbekommen, dass sie sich vom Hof gestohlen hatte. Viel Zeit blieb nicht bis zur Stallarbeit, aber sie hatte Sehnsucht gehabt. Bibiane hockte sich auf den großen Findling und schaute angestrengt ins Tal hinunter in Richtung Königenhäusle. Als sie den jüngsten Beha-Sohn vor die Tür treten sah, lächelte sie, und ihr Herz tat einen Hüpfer. Philo schlug einen Bogen und lief den Berg von hinten hoch. Er war schnell, und Bibiane flog ihm schier in die Arme.

Der Findling war von Bäumen umgeben und von unten schwer einsehbar, zumindest, wenn man nicht so genau hinschaute, wie es Philo oder Bibiane taten, wenn sie sich dort treffen wollten. Sie brauchten keine Worte zu machen. Waren sie gemeinsam auf dem Feld oder im Wald am Arbeiten, reichte ein einfacher Blick, und dann legten beide es darauf an, sich fortzustehlen. Schon seit der Heuernte ging es so. Bibiane schwebte förmlich. Philo, ihr Gefährte seit Kindertagen, war gutaussehend, zärtlich und sagte ihr liebe Sachen, wie sie es gar nicht gewöhnt war. Am liebsten würde sie ihn sofort heiraten. Er hatte dazu aber noch nichts gesagt, und Bibianes Eltern hatten sicher eher einen Bauern für ihre zweitälteste Tochter im Kopf als den Sohn vom Nachbarn.

Bibiane holte die alte Decke unter dem Findling hervor, die sie dort in einem Hohlraum versteckt hielten, und breitete sie aus. Beide setzten sich auf den Waldboden, Philo lehnte sich an einen Baumstamm und öffnete seine Arme. Bibiane kuschelte sich hinein.

Philo schaute auf die Baumstümpfe, die überall aus dem Waldboden ragten. Weiter hinten am Hang oberhalb des Königenhofs war es schon sehr kahl geworden.

»Wenn dein Vater so weitermacht, haben wir bald kein Versteck mehr«, sagte er.

Bibiane grinste Philo an. »Dann sorg doch dafür, dass er hier in der Ecke nicht die Axt schwingt.«

»Schön wär’s, wenn er sich von mir etwas sagen ließe.«

»Wem sagst du das.«

Beide mussten lachen.

»Der Herbst wird es bringen, dass wir uns woanders treffen müssen«, meinte Philo, während er Bibiane liebevoll über das Haar strich. »Jetzt fallen schon bald die ersten Blätter, und dann ist hier sowieso alles licht.«

Sie küssten sich. Schon wenig später mahnte Philo zum Aufbruch. Bibiane hatte keine Lust. Sie sollte als Erste zum Hof laufen, mit gehörigem Abstand würde dann Philo zurückkehren.

»Zieh nicht so einen Mund, Bibi«, munterte Philo sie auf. »Heute Abend ist wieder Cego bei euch, dein Vater hat’s gesagt, dann sehen wir uns schon wieder.«

Bibianes Gesicht hellte sich auf. »Jetzt geht es schon mit dem Cego los?«

Philo grinste. »Wir können es kaum abwarten.«

Cego war ein Kartenspiel für die langen Winterabende und in der Stube des Königenhofs fester Bestandteil, der den Männern großen Spaß machte. Philo und sein Bruder Blasius kamen regelmäßig dazu, manchmal der Löfflerjohann und der Kajetansbauer. Und natürlich Hilar, ihr Gehausmann. Für die Frauen, die nicht mitspielten, war es auch stets ein lustiger Abend. Sie saßen am Spinnrad oder strickten. Alle schwatzten miteinander und erzählten sich Geschichten. Die Zeit verging auf diese Weise wie im Fluge.

Bibiane hatte die Regeln des Kartenspiels allein durchs Zuschauen längst begriffen, aber die Männer ließen sie nicht mitmachen. Eine Frau, die Karten spiele, wo gäbe es denn so was, meinten sie. Also blieb sie meist am Spinnrad sitzen und vergnügte sich damit, das Treiben am Stubentisch zu betrachten. Sie freute sich auf den heutigen Abend.

Walburga stand in der schwarzen Küche und blickte in dem schwachen Licht, das die Kienspäne spendeten, auf die zweite Kochstelle Richtung Stüble, die seit fünf Jahren von Clara, der Frau ihres Gehausmannes Hilar Winterhalter, genutzt wurde. Die Bäuerin grollte. Es war schwer genug, sich die eigene Küche mit einer eigentlich fremden Person zu teilen, dachte Walburga, aber wenn diese Person auch noch so unordentlich wie Clara war, dann war es fast nicht auszuhalten. Und nicht nur das: Die Untermieterin wagte es darüber hinaus, sich an Walburgas Kochgeschirr zu bedienen und es nicht zurückzulegen. Walburga wollte schier platzen. Denn es war doch eindeutig ihr Schürhaken, der da auf dem Stübleherd lag!

Seit das Ehepaar Winterhalter mit ihren mittlerweile vier Kindern im Stüble wohnte, hatte Walburga das Gefühl, nicht mehr Herrin im eigenen Haus zu sein. Ständig gab es Ärger mit Clara, die auf ihrer Kochstelle und drum herum einfach nicht so Ordnung halten wollte, wie Walburga es in ihrer Küche von allen, die hier arbeiteten, verlangte. Martin hingegen war mit der Lösung, einen Gehausmann samt Ehefrau statt eines Knechts und einer Magd auf den Hof geholt zu haben, sehr zufrieden. Und da Walburga die ihrer Meinung nach liederliche Magd samt Knecht damals vom Hof gejagt hatte, musste sie hinnehmen, was ihr Mann sich in Ermangelung neuer Völcher überlegt hatte.

Hilar Winterhalter arbeitete als Uhrmacher im ­Stüble und Clara unterstützte ihn, indem sie die Uhrenschilder bemalte. Die Abmachung war, dass beide den größten Teil der Miete durch Arbeit erbringen mussten. Und da gab es schon das nächste Problem. Denn während Martin und Hilar sich gut verstanden und stets in der Lage waren, sich über die Arbeitsaufteilung im Wald und auf dem Feld zu einigen, gab es mit Clara nur Streit. In Walburgas Augen wollte die junge Frau nicht richtig zupacken und mitarbeiten. Aufs Feld ging sie gar nicht, mit der Entschuldigung, sie müsse auf ihre Kinder aufpassen oder ein Uhrenschild fertig malen. Ja, wo gab es denn so was, dass sich jemand aus der Hofgemeinschaft, der zwei gesunde Arme und Beine besaß, vor der Feldarbeit drücken konnte? Dass sie dabei auch ein Auge auf die jüngsten Kinder der Tritschlers hatte, ignorierte Walburga.

Um das Maß vollzumachen, war nun auch noch Claras Schwester Catharina mit ihrem unehelichen Balg auf den Königenhof gezogen, weshalb Paul und Anton, die zwei ältesten Buben der Winterhalters, ein Bett in der Schlafkammer der Zwillinge bekommen hatten. Walburga war wegen des Neuzugangs gar nicht gefragt worden. Es ging ihr gehörig gegen den Strich. Aber dafür würden die Winterhalters noch einen Obolus zahlen müssen, dessen war sich Walburga sicher. Schließlich waren sie nun mehr als zwanzig Personen im Haus.

Es war nicht alles schlecht. Hilar selbst war ein anständiger Mann, fand Walburga. Er hatte sich schon bald nach ihrem Einzug ihres mittlerweile elfjährigen Sohnes Mathäus angenommen, der großes Talent mit den Händen zeigte. »Sie sind viel zu schade für Feld und Stall«, pflegte Hilar zu sagen. Er ließ den Buben bei ihm am Stübletisch Platz nehmen und zeigte ihm, wie das mit den Uhren ging. Mathäus lernte schnell und fleißig. Wie geschickt der Bub schon jetzt, in so jungen Jahren, mit dem Zahnrad umging! Walburga lächelte bei dem Gedanken. Er würde einen ausgezeichneten Uhrmacher abgeben, erklärte Hilar; und weil Mathäus es unbedingt wollte, hatte Martin ihm eine Lehrstelle in Urach besorgt, obwohl er noch so jung war. Seit ein paar Wochen war er dort, die Tritschlers hatten ihn seitdem nicht mehr gesehen, und dass er noch nicht wieder zu Hause aufgetaucht war, nahmen sie als gutes Zeichen.

Clara kam in die Küche. Auf dem linken Arm trug sie ihr jüngstes Kind, die zweijährige Balbina. In der rechten Hand hielt sie einen Rettich, den sie auf dem Küchentisch auf ihrer Seite ablegte. Balbina setzte sie daneben. Die Kleine lutschte an einem Stück Brot und brabbelte zufrieden vor sich hin.

Walburga stemmte die Hände in die Hüften. »Du hast schon wieder von meinen Sachen genommen und sie nicht zurückgelegt.« Mit dem Kinn wies sie auf den Stüb­leherd. »Das ist mein Schürhaken.«

Clara lächelte sie an und schüttelte ihren blonden Lockenkopf. Sie war sehr hübsch, musste Walburga zugeben. Aber das entschuldigte nichts.

»Jetzt reg dich nicht so auf. Es war keine böse Absicht«, erklärte Clara gleichmütig.

»Ich habe es dir schon oft gesagt, in der Küche muss Ordnung herrschen. Du verbreitest Unordnung«, legte Walburga nach. »Und was willst du mit meinem Schürhaken? Wo ist dein eigener?«

»Jetzt sei mal still. Es geht dich nichts an, ob ich Ordnung halte oder nicht. Dieser Bereich der Küche gehört mir. Hier«, Clara zeigte auf die Fuge zwischen den Steinplatten am Boden, »verläuft die Linie. Auf dieser Seite ist mein Reich, und da kann es aussehen, wie ich es will.«

»Es ist meine Küche, die ganze Küche, dir gehört hier gar nichts. Auch nicht mein Schürhaken.«

Clara griff nach dem Streitobjekt und drückte es Walburga entnervt in die Hand. »So nimm ihn doch, bei Gott. Der Haken ist ja nicht abhandengekommen. Und jetzt lass mich in Ruhe, ich will das Abendessen ohne dein Geschrei zubereiten. Sonst wird die Suppe noch sauer. Und außerdem«, Clara zeigte auf eine Schöpfkelle, die auf Walburgas Küchenseite auf dem Tisch lag, »ist das meine. Huch, wie kommt sie denn dahin?« Clara grinste breit.

Walburga war einen Moment verdattert. Die Schöpfkelle hatte sie gar nicht gesehen. Aber sie selbst hatte sie doch bestimmt nicht benutzt oder dort hingelegt. Sie wurde rot im Gesicht.

»Das war sicher Martha. Oder Bibiane. Bibiane vergisst immer, die Sachen an ihren Ort zurückzulegen.« Mit der freien Hand griff Walburga nach dem Utensil und streckte es ihrer Untermieterin entgegen.

Clara schaute schadenfroh, als sie die Schöpfkelle in Empfang nahm. »Na, siehst du. Es gibt auch noch andere Leute, die so unordentlich sind wie ich.« Dann verfinsterte sich ihr Blick. »Und jetzt lass mich einfach in Ruhe arbeiten, ja?«

Walburga stand unschlüssig herum, ehe sie sich ihrer Kochstelle zuwandte. Sie fragte sich, wie es sein konnte, dass die Kelle auf Claras Tisch gelandet war. Es war eigentlich nicht vorstellbar. Warum hätte eine ihrer Töchter dies tun sollen? Die Mädchen wussten, welchen Wert Walburga auf Ordnung legte, und arbeiteten entsprechend, um sich keinen Ärger einzuhandeln. Es gab nur eine Möglichkeit. Walburga drehte sich wieder um.

»Du. Du hast die Schöpfkelle dorthin gelegt. Du willst mir eins auswischen.«

Clara sah die Königenbäuerin verärgert an. »Jetzt wirst du langsam verrückt. Ich hab wirklich anderes zu tun, als mich um deine wirren Gedanken zu kümmern.« Sie machte eine Pause. Spott lag in ihren Augen. »Gewöhn dich an den Gedanken, dass dein Reich ein geteiltes ist. Nach fünf Jahren solltest du es ja langsam mal verstanden haben, oder?«

Nach dem Abendessen ließ Bibiane an der Ofenbank ihr Spinnrad surren, daneben taten es ihre Schwestern Elisabeth und Marei ihr gleich. Theresia und Martha gesellten sich zu ihnen und beschäftigten sich mit ihrer Stickarbeit. Am langen Tisch saßen Martin, wie immer am Kopfende, daneben der älteste Tritschler-Sohn Lorenz sowie Philo; gegenüber auf den Stühlen Hilar und Philos Bruder Blasius. Philo hatte sich besonders bemüht, einen Platz zu ergattern, von dem aus er genau hinüber zu Bibiane am Kachelofen schauen konnte. Die fünf Schwestern teilten sich einen einzigen Kienspan, der für die Handarbeit eigentlich viel zu wenig Licht gab. Um die Cego-Karten gut zu erkennen, hatte Martin eine Tranfunzel über den Tisch gehängt, die beständig vor sich hinqualmte. Philo mischte die Karten und teilte aus, und weil nur vier mitspielen konnten, setzte in jeder Runde abwechselnd derjenige aus, der die Karten gab. Philo nutzte die Pause erfreut, um Bibiane dabei zuzusehen, wie sie im Zwielicht den Faden laufen ließ. Er bekam gar nicht mit, wie die Partie der anderen verlief. Mit der letzten Karte knallte Martin den Gstieß, den höchsten Trumpf, auf den Tisch und feixte. Die anderen johlten und klopften mit ihren Schnapsgläsern. Martin goss nach.

»Walburga, hol neuen Schnaps. Die Flasche ist leer«, rief der Bauer.

Walburga, die strickend in der Ecke saß und eins mit der Dunkelheit war, erhob sich wortlos und lief hinaus. Wenig später kehrte sie zurück und stellte den Obstbrand lautstark auf den Tisch.

»Sauft nicht so viel«, grummelte sie.

»Was du immer hast«, entgegnete Martin und füllte die restlichen Gläser.

»Ich geh schlafen«, erklärte Walburga und an ihre Töchter gewandt: »Ihr auch.«

»Ja, gleich«, antwortete Bibiane fröhlich, während der Faden durch ihre Hand lief.

Walburga öffnete die Tür zum Stiegenkasten und verschwand ohne ein weiteres Wort in der über der Stube liegenden Schlafkammer. Marei hielt ihr Spinnrad an und wünschte eine gute Nacht, bevor sie ebenfalls ins obere Stockwerk stieg. Sie schlief in derselben Kammer wie Walburga, die Fallermarie und die jüngste Schwester Magdalena, die schon im Bett lag.

 

Die Männer stießen an und tranken ihre Gläser in einem Zug leer. Donnernd stellten sie sie wie auf Kommando zurück. Blasius war dran mit Geben.

»Was ist das eigentlich mit dem Philo?«, flüsterte Elisabeth Bibiane zu. »Der guckt die ganze Zeit zu uns rüber.«

»Nur zu mir«, erwiderte Bibiane vielsagend und strahlte.

Elisabeth sah sie verwundert an. »Hab ich da etwas nicht mitbekommen?«

»Sieht ganz so aus.«

»Ja, Bibiane, das ist ja was!«

Elisabeth war überrascht und neidisch zugleich. Sie selbst interessierte sich insgeheim für Blasius, aber der hatte sie noch nie so angeschaut, auch jetzt nicht, während er eine Runde aussetzte.

»Hat er dich schon gefragt?«, wollte sie wissen.

»Was? Ob er mich heiratet?« Bibiane tauschte einen besonders langen Blick mit Philo und lächelte ihn verliebt an, bevor er sich in sein Blatt vertiefte. »Noch nicht, aber ich glaube, er wird es bald machen.«

»Oh, Bibiane, wie wunderbar!« Elisabeth rief es so laut aus, dass Theresia und Martha neugierig zu ihren Schwestern schauten.

»Ja, aber so lange sagst du es niemandem, hast du verstanden?«, forderte Bibiane sie flüsternd auf. »Noch ist es nicht so weit.«

»Bestimmt nicht«, Elisabeth legte ihre Hand aufs Herz, »du kannst dich auf mich verlassen.«

»Wer weiß, was die Eltern sagen. Aber ich will keinen anderen.«

Nach der Sonntagskirche griff sich Bibiane einen Korb aus der Speisekammer und zog ihre Strickjacke an. »Ich geh Pilze sammeln«, rief sie in die Stube.

Walburga schaute kurz auf und nickte. Sie hatte nichts dagegen, im Gegenteil. Wenn sie abends ein paar Pilze in die Suppe schneiden konnte, dann war das eine willkommene Ergänzung zum üblichen Speiseplan. Darüber hinaus war Bibiane auch mit zwanzig Jahren noch genauso rastlos und voller Energie wie als kleines Mädchen; wenn sie sich also heute am heiligen Sonntag im Wald austobte, sollte es der Mutter recht sein.

Draußen lief Bibiane auffällig nah am Königenhäusle vorbei und winkte der Behamarie, die im Garten stand, mit ihrem Korb fröhlich zu. Der Herbsttag versprach mild zu bleiben. Schäfchenwolken zogen über den blauen Himmel. Bibiane lief den Hang hinauf direkt auf den Findling zu. Pilze würde sie an dieser Stelle nicht finden, dafür gab es dort mittlerweile viel zu wenige Bäume, in deren Schutz sie wachsen konnten, aber Bibiane kannte weiter unten im Tal einige vielversprechende Stellen. Sie hockte sich auf den Stein, blinzelte in die Sonne und hoffte, dass Philo überhaupt kommen würde, denn am Abend zuvor war von den Kartenspielern mehr als eine Flasche Schnaps geleert worden, und Elisabeth und Bibiane hatten zu vorgerückter Stunde höchstpersönlich dafür gesorgt, dass Philo und Blasius überhaupt die zweiunddreißig Schritte nach Hause machen konnten. Ganz schön mühselig war das gewesen. Bibiane musste lachen, wenn sie jetzt daran dachte. In der Kirche am Morgen hatte man die beiden dann nicht gesehen, genauso wenig wie Hilar.

Es dauerte nicht lange, bis Philo am Waldrand auftauchte. Ein bisschen müde und verknittert wie ein ungebügeltes Leinentuch sah er im Gesicht aus, aber er strahlte Bibiane schon von Weitem an. Sie sprang auf und rannte ihm entgegen. Die beiden griffen nach ihren Händen und liefen im Schutz der Bäume weiter, schlugen einen Bogen hinunter Richtung Gütenbach, in den noch dichten Wald hinein.

Dort wurde Bibiane fündig. Ein paar Tage zuvor hatte es ergiebig geregnet und jetzt schossen die Pilze nur so aus dem Boden. Bibiane kannte sich gut mit den verschiedenen Arten aus, wusste giftige von essbaren zu unterscheiden, und der Korb war bald mit Pfifferlingen, Steinpilzen und Maronenröhrlingen gefüllt. Während sie suchte, bereitete Philo unter einer Weidbuche ein weiches Lager aus Tannenzweigen vor. Dann nahm er sein Messer und ritzte ein Herz in die Rinde des Baumes. Schließlich ein zweites daneben.

»Jetzt kannst du kommen«, rief er Bibiane zu.

Sie lief auf ihn zu und streckte ihm freudig ihren Korb entgegen. Philo nahm sie fest in die Arme und Bibiane hatte das Gefühl, sich ganz fallen lassen zu können. Der Korb landete auf dem Boden, ein paar Pilze purzelten heraus.

»Schau, Bibi, hier ist unser neuer Platz.« Philo zeigte stolz auf seine zwei eingeritzten Herzen.

»Oh, Philo!« Bibiane war entzückt. »Das ist aber lieb von dir.«

Philo setzte sich hin und streckte seine Hand aus. Bibiane ließ sich gerne von ihm herunterziehen. Er fuhr mit dem Mund küssend ihren Hals entlang. Es kitzelte.

»Ich liebe dich, Bibi.«

»Ich dich auch, Philo.«

»Wir gehören zusammen.«

»Ja.«

Ihre Küsse wurden intensiver und bald fanden Philos Hände den Weg unter Bibianes Rock. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie. Hoffentlich ist es nie vorbei, dachte sie.

Am dritten Sonntag im Oktober stand der Höhepunkt des Jahres für die Königenhofbewohner bevor, die Kirchweih, die sie »Kilbi« nannten. Das Heu und die Garben waren eingeholt, die Reisigwellen trocken gelagert, nichts Gesätes war mehr auf den Feldern, zum ersten Mal seit Langem gab es keine Verpflichtung. Als die Tritschlers die letzten Kartoffeln aus ihrem steilen Acker hervorgeholt hatten, hatte es schon Frost gegeben, und die Kinder, die barfuß am Hang standen, bekamen Frostbeulen an ihren Füßen. Am Samstag vor der Kilbi harkten sie schließlich gemeinsam das Laub der Kartoffeln zusammen und warfen alles auf einen großen Haufen, um den sich am Abend die Hofgemeinschaft versammelte. Martin hielt seine Fackel hinein, bis Flammen aufschlugen.

»Es brennt!«, riefen die Zwillinge erfreut.

Auch Familie Beha fand sich am Laubfeuer ein, und Philo stellte sich hinter Bibiane. Elisabeth schaute auf die beiden und grinste verschwörerisch. Philo berührte unauffällig Bibianes Rücken, und in ihrem Bauch fühlte es sich an, als flatterten Schmetterlinge.

Walburga klatschte in die Hände. »Lasst uns singen«, rief sie gut gelaunt.

»Hid isch Kilbi, morge isch Kilbi, bis zum Zischdig obe«, sangen alle gemeinsam und wiegten sich im Takt dazu.

»Komm, wir tanzen.« Jetzt griff Philo nach Bibi­anes Hand.

Während die anderen klatschten, drehten sie sich im Kreis um das Feuer. Bibiane wurde schwindelig. Wie schön es war. Elisabeth ließ sich von Blasius herumführen und strahlte vor Glück, Lorenz forderte Catharina auf. Sogar Martin zog seine Frau an sich. Walburga, die mit Argusaugen auf ihren ältesten Sohn und Catharina geschaut hatte, lachte und vergaß ihre Beobachterrolle. Wann hatten sie und Martin das letzte Mal mit­einander getanzt? Es war eine Ewigkeit her. Seit Jahren schon war sie nicht mehr so unbeschwert gewesen wie an diesem Abend.

Am nächsten Morgen war die Kirche bis auf den letzten Platz besetzt. Nach dem Gottesdienst ging es auf dem Platz vor dem Gasthaus Rössle weiter. Dort war ein Karussell aufgebaut, und Bibiane und ihre jüngeren Geschwister baten ihren Vater um etwas Geld, um damit fahren zu dürfen. Martin war bester Dinge, und es zog ihn mit seinen Nachbarn ins Gasthaus zu den anderen Männern. Großzügig gab er ein paar Münzen aus, bevor er ins Rössle verschwand. Walburga blieb draußen und unterhielt sich mit der Frau des Kajetansbauern, die von ihren vier kleinen Töchtern umringt war. Eine Musikkapelle spielte, die Menschen klatschten dazu. Lorenz schlenderte mit Catharina über den Platz. Bibiane reihte sich mit den jüngeren Brüdern, Magdalena und Theresia in die Warteschlange vor dem Karussell ein.

Der junge Hochdobelbauer Josef stand etwas abseits und beobachtete Bibiane, wie sie in der Schlange stand und mit ihren Geschwistern lachte. Schon lange hatte er an den Sonntagen in der Kirche ein Auge auf sie geworfen. Die fröhliche Tritschler-Tochter vom Königenhof, die so zupackend wirkte, hatte es ihm angetan.

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