Schneesturz - Der Fall des Königenhofs

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Bibiane lachte erleichtert auf. »Aber gib zu, ein bisschen hast du dich auch gefürchtet«, stellte sie fest.

»Na ja, nicht wirklich«, schwächte Philo ab. »Komm, wir sollten jetzt schnell die anderen Tiere holen und zum Hof laufen. Sonst setzt es noch was.«

Er fing die Kuh ein und gab ihr mit seiner Geißel die Richtung zu verstehen, und gemeinsam liefen sie zurück zur Weide. Während des ganzen Weges schämte Bibiane sich abgrundtief, dass sie vor Philo in Tränen ausgebrochen war. Sie wollte vor ihren Freunden ganz sicher nicht als schwaches Mädchen dastehen. Doch Philo sagte nichts, sondern lächelte sie nur aufmunternd an.

Als die beiden auf dem Weidestück ankamen, waren dort keine Tiere mehr zu sehen. Das Vieh wusste, wann es Zeit war, zum Hof zurückzukehren, und hatte sich ohne die Kinder auf den Weg gemacht. Blasius kam aus dem oberen Wald auf sie zugerannt.

»Verflixt«, keuchte er. »Jetzt hat sich das ganze Vieh schon davongemacht, und wir kriegen erst recht Ärger.«

Den Kindern blieb nichts anderes übrig, als mit der abtrünnigen Kuh zurückzulaufen. Zwei weitere Kühe und eine Ziege fingen sie auf dem Rückweg noch ein. Bibiane hoffte, dass ihr Vater noch beim Holzfällen war, denn sie hatte Angst vor seiner Wut, wenn er sah, dass die Herde ohne Hirten nach Hause gekommen war.

Ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Als die drei den Königenhof erreichten, wurden sie von Martin an der Stalltür erwartet. Für alle drei Kinder setzte es Ohrfeigen, weil sie nicht richtig aufgepasst hatten.

Einige Wochen nach ihrem Einzug saß Walburga am Morgen auf der Bank vor ihrem Haus. Das Öhmden, der zweite Schnitt im Jahr, war vorüber, und die Tritschlers hatten Glück gehabt, dass es nur wenig geregnet hatte und das Gras schnell getrocknet war. Der Heustock ihres neuen Hofes war voll bis zum Rand, sie würden gut über den Winter kommen. Auch heute schien die Sonne mild. Bald würde sie nicht mehr ins Tal reichen und der Schatten überhandnehmen.

Walburga spürte eine altbekannte Übelkeit in sich aufsteigen. Seit einiger Zeit ging es morgens schon so, und die Bäuerin wusste nur allzu gut, was das bedeutete. Ihr Beten hatte nichts genützt, sie trug ihr elftes Kind unter dem Herzen. Walburga seufzte. Vierzig Jahre zählte sie bald. Ihre Haare waren grau, Falten zogen sich über ihr Gesicht. Wie sehr hatte sie gehofft, dass das nicht mehr passieren würde. Sie und Martin konnten Gott nur danken, dass sie zehn Kinder auf die Welt gebracht hatte, die alle gesund waren und von denen kein einziges gestorben war. Kaum ein anderer Hof in der Umgebung brachte es auf so viel Nachwuchs, und es gab kaum eine Familie, die nicht ein totes Kind zu beklagen hatte. Aber waren zehn nicht genug? Musste ihr Glück noch ein weiteres Mal herausgefordert werden? Walburga wünschte, sie könnte es ändern, und erschrak bei diesem Gedanken. Sie bekreuzigte sich und entschied, mit der Mitteilung an ihren Mann noch etwas zu warten. Sie musste sich erst selbst daran gewöhnen, dass sie schon wieder ein Kind bekam.

Nach Weihnachten war Walburgas Bauch so groß wie nie zuvor in ihren anderen Schwangerschaften. Martin zog sie auf, dass sie wahrscheinlich schon im Januar niederkommen würde. Doch Walburga war sich sicher, dass dies nicht der Fall sein konnte. Sie ging zur Hebamme nach Neukirch. Der über eine Stunde dauernde Fußmarsch stramm bergauf durch den Schnee war beschwerlich, und Walburga war froh um den Stock, den sie mitgenommen hatte, um sich beim Laufen abzustützen. Sie hoffte inständig, dass die Hebamme überhaupt da war und nicht gerade unterwegs bei einer Geburt.

Sie hatte Glück. Theodora, eine ältere Frau mit freundlichem Lächeln, öffnete die Tür ihres winzigen Hauses und ließ sie eintreten.

»Guten Tag«, sagte Walburga, »ich bin vom Königenhof.«

»Und bald kommst du nieder«, meinte Theodora fachkundig mit Blick auf ihren Bauch.

»Nein, eben nicht«, erwiderte Walburga, »das kann überhaupt nicht sein. Es können höchstens fünf Monate sein.«

»Dann komm rein.«

Walburga war froh, in die Wärme zu gelangen. Ihre Füße waren durchgefroren. Ihre nassen Schuhe zog sie aus und schlüpfte in die Strohschuhe, die Theodora ihr hinstellte. Über einen schmalen Hausgang ging es linkerhand in eine kleine Stube, in der neben dem Kachelofen ein Bett stand.

»Leg dich hin«, die Hebamme deutete auf das Bett, »ich werde dich abtasten.«

Geschickt strichen ihre warmen Hände wenig später über Walburgas Bauch, die sich nach einer Weile entspannte. Theodora schwieg und arbeitete ruhig und gewissenhaft. Schließlich schaute sie auf.

»Du kriegst Zwillinge.«

»Zwillinge?« Walburga sah die Hebamme erschreckt an. »Bist du sicher?«

»Ja, ganz sicher, ich kann beide spüren.« Sie lächelte. »Zwei Kinder sind etwas Besonderes. Du kannst stolz sein.«

»Wie soll ich mich um zwei Säuglinge gleichzeitig kümmern können?«, fragte sich Walburga leicht verzweifelt. »Und um die anderen Kinder noch dazu?«

»Wie viele hast du schon?«

»Zehn.«

»Dann wird es nicht so schlimm, du wirst sehen.« Theodora stand auf. »Du weißt, wie es geht. Deine großen Kinder werden dir helfen. Versuche, dich zu schonen, mach nur das Nötigste. Ich kann in einem Monat noch einmal nach dir schauen.« Die Hebamme sah Walburga direkt in die Augen. »Wenn du möchtest.«

Walburga verstand und setzte sich auf. Sie griff nach ihrem Beutel und holte ein ordentliches Stück frisch geräucherten Speck hervor.

»Ist das ausreichend?«

Theodora griff zu. »Danke, das passt fürs Erste.«

Leo und Julius kamen im April 1834 zur Welt. Theodora war an Walburgas Seite, die sich vor Schmerzen wand. Kaum war Leo auf der Welt, versagte ihr die Kraft, doch die Hebamme hieß sie durchzuhalten. Als es am frühen Nachmittag geschafft war, kümmerte sich Theodora um beide Säuglinge, wickelte sie in Decken und legte sie in Walburgas Arme. Dann holte sie Martin.

»Schau, zwei Buben.« Walburga strahlte ihren Mann erschöpft an. »Beide kräftig und gesund.«

Martin kam näher ans Bett und betrachtete eine Weile mit zufriedenem Gesichtsausdruck seine neugeborenen Söhne.

»Sie ähneln sich wie ein Ei dem anderen«, stellte er fest. »Wie sollen wir sie je auseinanderhalten?«

»Nein, so ähnlich sehen sie sich nun auch wieder nicht«, widersprach Walburga. »Ich kann die Unterschiede schon erkennen. Bald geht es dir auch so.« Die Königenbäuerin glühte vor Stolz. »Wie gesegnet wir mit Kindern sind, nicht wahr, Martin?«

»Ja, um einen Hoferben brauchen wir uns wahrlich keine Sorgen zu machen.« Er legte seine Hand auf ihre Schultern. »Jetzt erhol dich. Die Magd kommt auch ohne dich in der Küche zurecht.«

Martin war angesichts zweier weiterer Söhne in bester Stimmung. Nachdem er die Schlafkammer verlassen hatte, ging er direkt in den Bergschopf und kehrte mit einer Flasche Obstbrand in die Stube zurück.

»Lorenz, hol die Nachbarn«, wies er seinen Ältesten an.

Kurze Zeit später trafen die ersten Gratulanten im Königenhof ein. Der Gestellmacher Philipp Beha und der Löfflerjohann aus dem Königenhäusle setzten sich gerne und ließen sich einschenken. Der Bauer vom Kajetanshof kam dazu, sogar dem Knecht Wendelin wurde ein Platz am Tisch angeboten.

»Zwei Söhne auf einmal«, rief Martin und hob das Glas, »das muss mir erst mal einer nachmachen.«

»Gratulation.«

»Das Glück dem Tüchtigen!«

»Prost.«

Die gefüllten Gläser stießen gegeneinander. Aus der Stube drang bald das dröhnende Lachen der Männer nach oben in die Schlafkammer, in der Walburga mit den Zwillingen lag. Sie war zu erschöpft, um sich über das immer lauter werdende Saufgelage zu ärgern. Ihr Mann stolperte später betrunken die Treppe hinauf und schlief in einer der Gangkammern. Das war Walburga nur recht.

1835

Im Sommer 1835 zog Walburgas verwitwete Mutter zu ihrer Tochter ins Wagnerstal. Maria Faller, die von allen Fallermarie genannt wurde, war sechzig Jahre alt, aber keineswegs unbeweglich oder hilfebedürftig. Im Gegenteil, sie entschied sich für den Königenhof, weil sie Walburga mit ihren zwölf Kindern unterstützen wollte.

Martin hatte nichts dagegen, und Walburga empfand die Anwesenheit ihrer Mutter als Segen. Die Fallermarie hatte kräftige Arme und eine gerade Haltung, als hätte sie in ihrem Leben nie buckeln müssen, dabei kannte sie nichts als harte Arbeit. Sie zog ins Stüble und tat klaglos das, was ihr aufgetragen wurde. Sie brachte eine gewisse Ruhe und Gelassenheit mit auf den Hof, auf dem oft ein schroffer Ton herrschte. Martin neigte zu einer derben, beleidigenden Sprache, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, und auch Walburga geizte nicht mit bösen Worten, wenn sie sich angegriffen fühlte. Und das war oft der Fall. Am meisten bekam es Gertrudis zu spüren. Die Magd konnte es ihrer Bäuerin selten recht machen und wurde dafür ständig herumgescheucht.

»Geh runter zum Waschen«, befahl Walburga heute.

Es war Sonntag, und die Bäuerin schien nicht gewillt, ihrer Magd am Tag des Herrn Ruhe zu gönnen. Sie stellte einen Weidenkorb voller Kleidungsstücke vor Gertrudis ab. Nach der Feldarbeit der letzten Tage standen sie vor Dreck.

Gertrudis nickte wortlos. Sie holte zunächst Wasser vom Brunnenstock und setzte es auf den Herd, dann legte sie die Kleidung in eine Wanne und lief damit an den Bach. Am Backhaus konnte sie später auf dem Brett, auf dem sonst die Brotlaibe auskühlten, die eingeweichte Kleidung ausbreiten und die Flecken ausbürsten. Als Gertrudis das heiße Wasser für die Lauge holen wollte, kam die Fallermarie hinzu.

»Ich helfe dir«, bot sie freundlich an.

Gertrudis war dankbar. Die alte Frau hatte ein Gespür dafür, wann sie Unterstützung brauchte. Gemeinsam trugen sie den schweren, heißen Kessel zum Bach und schütteten das Wasser in die Wanne.

 

»Den Rest schaffe ich allein, danke«, sagte Gertrudis.

Die Fallermarie ging zurück ins Haus, und mit einem Stock bewegte Gertrudis schließlich die Wäsche in der Aschelauge hin und her.

Die Magd war keineswegs faul, wie ihr Walburga unablässig unterstellte. Gertrudis tat ihr Bestes, mehr schaffte sie einfach nicht, zumindest empfand sie es so. Denn kaum hatte sie eine Aufgabe erledigt, gab ihr Walburga die nächste. Gertrudis kam nie zum Durchschnaufen. Sie wusste schon, warum die Bäuerin es so auf sie abgesehen hatte, aber dafür konnte sie doch nichts. Denn wenn Gertrudis nur etwas sagen, eine eigene Meinung haben dürfte, dann würde sie sich das Verhalten des Königenbauern bestimmt nicht bieten lassen. Seit der Geburt der Zwillinge war es so, und sie musste sich ständig vorsehen. Wo Gertrudis nur konnte, ging sie Martin aus dem Weg. Aber manchmal war sie einfach nicht schnell oder nicht schlau genug.

Gertrudis zog das erste eingeweichte Hemd aus der Lauge und machte sich ans Wäscheschrubben. Sie mochte den Arbeitsplatz am Backhaus, denn er war vom Haus nicht einsehbar, und so hatte sie hier ihre Ruhe. Sie summte vor sich hin, während sie mit der Bürste einen hartnäckigen Fleck auf einem Hemd bearbeitete. Es war ein heißer Tag, und sie war von der Tätigkeit schweißgebadet. Ihre rotblonden Haare hatte sie im Nacken zu einem Zopf geflochten, aber immer wieder musste sie sich eine Strähne aus dem Gesicht streichen.

Wie lange Martin schon dastand, wusste sie nicht. Gertrudis erschrak, als sie ihn wahrnahm. Das Summen blieb ihr im Hals stecken. Mit schnellen Schritten kam der Bauer wortlos auf sie zu und drückte sie mit dem Gesicht an die Wand des Backhauses. Er keuchte, während er hinter der Magd stand und seine Hand auf ihre rechte Brust legte. Gertrudis spürte sein hartes Geschlecht an ihrer Hinterseite. Sie roch seinen Schweiß. Ihr wurde übel.

»Lass das«, ächzte sie, aber Martin presste sie nur stärker gegen das Backhaus und fuhr mit seiner Hand unter ihren Rock. Gertrudis schickte ein Stoßgebet gen Himmel, während sich der Bauer an ihr abarbeitete und dabei stöhnte.

»Gertrudis, wo bleibst du?« Walburga rief vom Hof. Sie klang verärgert. »Was ist mit der Wäsche?«

Augenblicklich ließ Martin von der Magd ab und verschwand, ohne ein Wort zu verlieren. Gertrudis sank zu Boden. Am liebsten hätte sie losgeweint, aber sie unterdrückte die Tränen und schluckte die aufkommende Übelkeit hinunter.

Walburga kam jetzt selbst zum Backhaus, um sich vom Fortgang der Wäsche zu überzeugen. Auf dem Arm hielt sie einen der Zwillinge, der brüllte. Verwundert blickte sie auf die am Boden hockende Gertrudis. »Was machst du da unten?«, fragte sie gereizt.

Schnell rappelte Gertrudis sich auf. »Entschuldigung, ich bin gerade gestolpert.«

»Gestolpert?« Misstrauisch schaute Walburga ihre Magd an, die sich den Rock glattstrich.

»Ich bin gleich so weit. Muss nur noch auswaschen.«

»Und dann kommst du hoch. Ich brauch dich im Haus.«

»Das mache ich gerne.«

Gertrudis lächelte Walburga an, die verwundert zurückblickte, bevor sie sich mit dem schreienden Kleinkind abrupt umdrehte und zurück zum Haus lief.

»Puh.« Gertrudis atmete tief durch. Nie war sie froher gewesen, dass die Bäuerin sie kontrollieren kam.

Das Land an den steilen Hängen rund um den Königenhof gehörte größtenteils Martin Tritschler. Der dichte Wald, der sich über die Berge zog, hatte sich an der einen oder anderen Stelle schon gelichtet. Denn seit die Tritsch­lers vor einem Jahr ins Wagnerstal gezogen waren, hatte Martin Dutzende von Bäumen gefällt.

Gemeinsam mit Wendelin, den Nachbarn Philipp Beha und Johann Löffler sowie seinem ältesten Sohn Lorenz zog Martin beinahe täglich in seinen Wald. Hatten sie in stundenlanger Arbeit einen Baum gefällt, die Äste abgeschlagen und zerteilt, schließlich die Rinde entfernt und die Spitze des Baumes zu einer runden Schnauze gehauen, schlugen sie ihre Äxte hinein, um den Stamm mit vereinter Kraft zur Riese zu ziehen, entlang derer das Holz ins Tal geschickt wurde. Rechts und links der Riese lagen Baumstämme zur Begrenzung, in der Rinne selbst quer dazu schmale Rundhölzer, die für das Gleiten sorgten. Lorenz lief neben der Riese ein Stück weiter nach unten, blieb schließlich stehen und blies in sein Kuhhorn. Die Töne warnten alle, die sich in der Nähe befanden.

»Auf geht’s!«

Ächzend gab Martin das Kommando, und die Männer schoben mit aller Kraft. Der Stamm schoss polternd die Riese hinab. Lorenz bekam derweil einen roten Kopf, so stark pustete er in sein Horn. Während der Stamm seine rasante Reise ins Tal unternahm, zogen die Männer schon den nächsten an den Startpunkt.

Nachdem sie drei Weißtannen auf diese Weise ins Tal befördert hatten, liefen die Männer nach unten zum Ankunftspunkt. Martin begutachtete, wie viel Schaden das Holz auf seiner Reise genommen hatte.

»Es sieht ordentlich aus«, sagte er zufrieden. »Die paar Stellen können wir jetzt ausbessern. Lorenz, hol die Pferde.«

Lorenz, stolz, diese Aufgabe übertragen bekommen zu haben, lief los, während die Männer sich daran­machten, die Stämme zu glätten. Das Pferdegespann zog anschließend das Holz aus dem Wald zur Sammelstelle. Dort traf sich Martin am nächsten Tag mit Händlern, die die Baumstämme über die Wilde Gutach bis an den Rhein brachten, von wo es weiter bis nach Holland geflößt wurde. Es zahlte sich aus. Schon ein Jahr nach dem Kauf war der Königenhof schuldenfrei.

Der junge Kajetansbauer, dessen Hof nur eine Viertelstunde vom Königenhof entfernt lag, beäugte das unentwegte Baumfällen seines Nachbarn indes mit Argwohn und Sorge. Als er die Männer wieder einmal mit ihren Äxten den Weg an seinem Hof vorbeilaufen sah, kam er auf sie zu.

»Man muss vorsichtig sein und es nicht übertreiben«, warnte der Kajetansbauer nach einer Begrüßung, »sie kommen von der Behörde. Bei mir waren sie schon. Man darf nur noch nach Erlaubnis des Försters fällen, so will es das Gesetz.«

»Welches Gesetz soll das sein?«, fragte Martin unwirsch.

»Das neue Waldgesetz. Hast du es nicht gehört? Wir dürfen nicht mehr selbst entscheiden, welche Bäume wir fällen. Und wie viele. Das macht jetzt ein Förster.«

Der Königenbauer tippte sich an den Kopf. »Die können mich mal mit ihrem Drecksgesetz. Was geht es die da oben an, was ich hier mache?«, brauste er auf. Martin hasste es, wenn man sich in seine Angelegenheiten einmischte, seien es der Förster oder sein Nachbar.

Der Kajetansbauer versuchte es mit Erklärungen. »Es ist zu viel Wald abgeholzt worden. Ich will ja selber noch fällen, aber mich haben sie kontrolliert. Vor zwei Tagen erst. Eine saftige Geldstrafe soll ich jetzt zahlen. Und fällen darf ich nichts mehr. Zunächst muss ich neu pflanzen. Zu dir, Martin, werden sie auch noch kommen, wirst schon sehen. Sieh es als Warnung.«

»Was schert’s mich? Die da oben haben uns lange genug drangsaliert. Wir sind freie Leute, und es ist mein Wald. Dort mache ich, was ich will«, erklärte Martin mit Nachdruck und sah seine Begleiter an. »Kommt, wir gehen.« Er wandte sich ab und ließ seinen Nachbarn stehen.

»Es war nur ein gut gemeinter Rat«, rief der Kajetansbauer ihnen hinterher.

Martin drehte sich noch einmal um und machte eine abwehrende Handbewegung. »Wir sind keine Leibeigenen mehr«, gab er laut zurück, »die feinen Beamten sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst.«

1838

Es war erneut passiert. Vierundvierzig Jahre war Walburga nun alt und wieder war sie schwanger geworden. Das dreizehnte Kind. Was hatte sie nicht alles unternommen, damit das nun ein Ende haben würde. Aber ewig ließ sich ihr Mann nicht abweisen, und Walburga hatte sehr wohl wahrgenommen, dass er sich regelmäßig an die Magd heranmachte. Dabei hatte diese doch schon genug mit dem Knecht zu tun. Nicht, dass sie Gertrudis in irgendeiner Weise zu schonen gedachte, aber dass Martin mit ihr tändelte, das ging dann doch zu weit. Also hatte Walburga in der bäuerlichen Schlafkammer nachgegeben. Und jetzt das.

Dass es sie Mühen kostete, ließ sich Walburga, wie in ihren Schwangerschaften zuvor, nicht anmerken. Hochschwanger stand sie mit den anderen während der Heuernte am Hang und verzettelte die Scharen. Trotz dicken Bauches hatte sie Kraft in den Armen und arbeitete in ihrer gewohnten Geschwindigkeit, schließlich hatte sie nie etwas anderes getan. Auch als die Zeit für den Roggen kam, ging sie wie üblich mit aufs Feld. Doch sie merkte, dass es beschwerlicher wurde.

An einem heißen Nachmittag Ende Juli brauchte es alle Überwindungskraft, in gebückter Haltung die frischgeschnittenen Halme zusammenzuraufen. Die Sonne brannte auf der Königenhöhe. Walburga biss die Zähne zusammen. Seit dem Mittagessen hatte sie Wehen, und diese kamen in immer kürzeren Abständen. In der Reihe neben ihr stand ihre Mutter, die Fallermarie, und sah sie prüfend an.

»Geht es noch«, fragte sie, »oder kommt das Kind gleich hier auf dem Acker?«

»So weit ist es nicht«, erwiderte Walburga und griff nach den nächsten Roggenhalmen, die Martin gerade mit der Sense geschnitten hatte. In dem Moment spürte sie einen Schwall. An ihren Beinen lief das Fruchtwasser herab. Sie ließ den Roggen fallen und richtete sich auf.

»Ich geh kurz ins Haus«, erklärte sie knapp und setzte sich in Bewegung.

»Muss das sein?«, fragte Martin.

Alle sahen Walburga nach, aber keiner begleitete sie, nicht einmal ihre eigene Mutter. Der Himmel ließ Regen erahnen, und Martin drängte zur Eile. Je mehr sie jetzt noch einbrachten, desto besser.

Im Haus herrschte eine angenehme Kühle. Walburga war allein, und sie war froh drum. Sie wusste, was zu tun war, sie hatte es oft genug gemacht. Sie stieg die Treppe hoch. In der Schlafkammer angekommen, hockte sie sich vors Bett und hielt sich am Rand fest. Dann stieß sie einen lauten Schrei aus.

Nur wenig später lag Walburga mit ihrer Tochter im Arm auf dem Bett. Ihr dreizehntes Kind hatte sie ohne Hilfe zur Welt gebracht, selbst die Nabelschnur abgetrennt. Während sie den Säugling an ihrer Brust betrachtete, hörte sie, wie die Magd unten zur Tür hineinkam und in die Küche eilte, um das Feuer erneut zu schüren. Elisabeth schimpfte mit den Zwillingen, sie sollten nicht so viel Unsinn treiben. Walburga hörte die Glocken der Kühe, Ziegen und Schafe, die von der Weide heimkehrten, und Bibianes fröhliches Lachen, während die Kinder das Vieh nach dem Tränken in den Stall trieben. Die Hofgemeinschaft machte sich bereit für die Stallarbeit, Martin gab Anweisung, wie immer knapp und herrisch. Der erwartete Regen setzte ein. Erst als das Melken erledigt war und alle wieder ins Haus kamen, hörte Walburga, wie jemand die Treppe hinaufstieg und die Tür zur Schlafkammer öffnete. Ihre Mutter schaute hinein.

»Ja, Walburga, warum hast du denn nichts gesagt?«

Die Fallermarie schloss die Tür und trat ans Bett ihrer Tochter. Prüfend blickte sie auf das Neugeborene.

»Ein Mädchen«, sagte Walburga lächelnd.

»Es sieht schlecht aus«, stellte die Fallermarie unmissverständlich fest, »ganz grau.«

»Meinst du?«, fragte Walburga überrascht.

Die Fallermarie nahm das Kind vorsichtig auf den Arm und betrachtete es lange. »Vielleicht sollten wir die Hebamme holen. Ich sage Martin Bescheid.«

Mit dem Pferdewagen brachte Martin wenig später die Hebamme Theodora aus Neukirch zum Königenhof. Theodora untersuchte den Säugling und wirkte besorgt.

»Das Kind wird es schwer haben«, meinte sie, als sie es wieder in Walburgas Arme legte. »Es kommt jetzt auf dich an. Du musst dich schonen, kräftige Kost zu dir nehmen«, Theodora machte eine Pause, bevor sie fortfuhr, »und beten.«

Ihre jüngste Tochter war tatsächlich anders als alle Kinder, die Walburga zuvor geboren hatte. Sie war kleiner, fahler, jämmerlicher. Nicht mal die Zwillinge hatten je so schwach und kränklich gewirkt. Vielleicht gerade deshalb fühlte sich Walburga von Liebe für dieses zarte Wesen überwältigt. Bei keinem ihrer Kinder zuvor war sie nach der Geburt so von Gefühlen ergriffen gewesen. Keine Sekunde ließ sie ihren Säugling aus den Augen, der die ganze Nacht weinte. Erst am Morgen beruhigte sich das Kind, und Walburga konnte kurz schlafen. Danach stand sie auf, richtete sich her und ging mit ihrer Tochter hinunter in die Stube. Dort wurde sie von ihren anderen Kindern umringt, die neugierig ihre neue Schwester betrachteten. Die vierjährigen Zwillinge Leo und Julius streichelten ihr abwechselnd sanft über die Stirn und lachten aufgeregt.

 

Am Nachmittag erschien Pfarrer Schilling auf dem Hof, um die Taufe durchzuführen. Die Hebamme hatte ihm Bescheid gesagt.

»Nennen wir sie Jakobea«, schlug der Geistliche vor. »Das heißt ›Gott schütze‹. Und Schutz kann dieses zarte Wesen ja sicher gut gebrauchen. Was meint ihr?«

Martin und Walburga sahen sich an. Wer wollte einem Pfarrer widersprechen? Sie waren einverstanden, zumal der Name für sie wohlklingend war. Schilling nickte und tauchte seinen Finger ins Weihwasser, von dem es stets welches im Weihwasserkesselchen neben der Stubentür gab.

»Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes auf den Namen Jakobea Tritsch­ler. Möge Gott seine Hand über dich halten.«

Jakobea, die zuvor leise gejammert hatte, hielt still. Der göttliche Beistand schien bald Wirkung zu zeigen. Das kleine Mädchen kam etwas zu Kräften.

Gertrudis richtete sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Sie spürte Wendelins Hand auf ihrem Rücken.

»Ich muss gehen«, flüsterte sie.

»Bleib noch ein bisschen«, versuchte Wendelin sie leise zu überreden.

Wie so oft in letzter Zeit war Gertrudis zu später Stunde in die Knechtskammer geschlichen, in der Wendelin alleine schlief. Sie war beiden ihr sicherer Hafen. Hier waren sie unter sich, die Magd und der Knecht, die sogenannten Völcher, und mit der Zeit waren sie sich nähergekommen. Doch sie mussten vorsichtig sein. Wenn die Bauersleute das mitbekamen, waren sie bestimmt nicht angetan, das war beiden bewusst. Ganz besonders der Königenbauer schien Gertrudis als sein Eigentum zu betrachten. Sie konnte sich seiner kaum erwehren.

»Es wird immer schlimmer. Gestern hat der Alte mir wieder unter den Rock gefasst«, vertraute Gertrudis Wendelin an, während sie ihre Bluse zuknöpfte. »Ich hasse es.«

»Dieser Glotzbock«, grollte Wendelin wütend. »Ich wünschte, ich könnte ihm …«

»Lass«, Gertrudis legte ihren Zeigefinger auf seinen Mund. »Ich darf einfach nicht irgendwo allein sein. Kaum ist das so, taucht er auf. Du musst darauf achten, dass du dich nicht so weit von ihm entfernst, dann kannst du mich vielleicht schützen. Manchmal glaube ich, die Bäuerin lässt mich mit Absicht Arbeit machen, bei der ich alleine bin, damit der Alte kommen kann. Die ist doch froh, wenn sie ihre Ruhe hat im Ehebett.«

»Er soll dich in Ruhe lassen.« Wendelin zog Gertrudis zu sich heran. »Wir verschwinden von hier. Bald. Ich versprech’s dir.«

»Dir tut er ja nichts.« Missmutig stand Gertrudis auf. »Ich gehe jetzt. Schlaf gut.«

»Du auch.«

Ein letzter Kuss und Gertrudis machte sich auf in die Gangkammer, in der sie mit den drei jüngsten Tritsch­ler-Kindern schlief. Dazu musste sie leise die Tür von Wendelins Schlafkammer auf- und zumachen, durch den Hausgang huschen, an der bäuerlichen Schlafkammer vorbei, um die Tür zum Außengang genauso leise zu öffnen und wieder zu schließen. Gertrudis wusste ganz genau, wie weit sie die Türen in welcher Geschwindigkeit öffnen musste, damit sie nicht knarrten. Barfuß lief sie in der Dunkelheit über den Holzboden. Es war erstaunlich, wie behände und lautlos sie in der Schwärze der Nacht ihren Weg fand. Sie trat auf den Außengang und zog sachte die Tür hinter sich zu. Gleich war sie bei ihrer Kammer. Wie kalt es schon Anfang Oktober ist, dachte sie. Ihre Füße fühlten sich wie Eisklötze an, seit sie Wendelins Bett verlassen hatte.

»Pst«, kam es von hinten.

Gertrudis zuckte zusammen. In der Dunkelheit kam Martin auf sie zu. Sie sah nur seine Umrisse, aber wusste doch allzu genau, dass es der Bauer war. Sie konnte es riechen. Er hatte auf dem Außengang gestanden und sie offenbar erwartet.

»Was machst du hier?«, herrschte er sie leise an.

»Ich, ich …«

Gertrudis konnte nur stammeln. Der Bauer griff nach ihrem Arm. Gertrudis war im ersten Moment wie erstarrt. Im zweiten überkam sie Wut. Sie riss sich mit aller Macht los.

»Nein«, zischte sie, »lass mich!«

Sie drehte sich um und rannte zu ihrer Kammer. Als sie drinnen war, drückte sie die Tür zu und unterdrückte ein Keuchen. Starr stand sie da und betete zu Gott. Wenn Martin wollte, konnte er problemlos die Tür öffnen und die Magd herausziehen. Doch Gertrudis hatte Glück. Die Schritte des Bauern entfernten sich.

Seinen Unmut über die Abfuhr ließ Martin am nächsten Tag weidlich an der Magd aus. Beim Morgenessen ging es schon los. Kaum war Gertrudis bei der Milchsuppe an der Reihe, legte Martin seinen Löffel nieder. Alle folgten seinem Beispiel, sodass Gertrudis auch nichts anderes übrigblieb. Du nicht, schienen seine Augen zu sagen, als Martin sie finster ansah. Schließlich nahm er seinen Löffel wieder auf und schöpfte aus der Schüssel. Dann war Wendelin dran, danach die Buben, schließlich Walburga, alle Töchter und die Fallermarie. Als Gertrudis erneut zu löffeln versuchte, wiederholte der Bauer das Spiel. Keinen Bissen bekam Gertrudis ab, aber neben den bösen Blicken des Bauern reichlich spöttische von der Bäuerin. Gertrudis wurde rot vor Scham, aber sie hielt sich aufrecht und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Wendelin schaute mitleidig zu ihr herüber, aber er konnte nichts machen, und Gertrudis wich seinem Blick aus. Als sie abgeräumt hatte und Wasser vom Brunnen in die Küche trug, erschien die Fallermarie und steckte ihr ein Stück Brot zu.

»Gräm dich nicht«, sagte sie freundlich und verschwand wieder. Gertrudis biss dankbar in die Rinde und machte sich an den Abwasch.

Beim Mittagessen ließ Martin die Magd wie gewohnt löffeln, aber zum Abendessen gab es wieder nichts für sie. Hungrig stand Gertrudis danach in der Küche und spülte Schüsseln und Topf. Diesmal kam niemand mit Essen herein, aber der Anschnitt vom Brot lag noch da. Das Brot war schon alt, das Endstück steinhart und eigentlich nicht essbar, aber in ihrem Hunger griff Gertrudis zu und stopfte es sich in den Mund, um es aufzuweichen.

Walburga kam in die Küche und sah die Hamster­backen der Magd.

»Stiehlst du jetzt etwa Brot?«, fuhr sie sie an. »Raus damit. In meinem Haus wird nicht gestohlen.«

Gertrudis öffnete ihre Hand und spuckte das harte Stück hinein. Walburga griff tatsächlich danach und warf es auf den Boden. Dann trampelte sie darauf herum und blickte Gertrudis wütend an.

»Wenn ich dich noch mal erwische, du Luder«, sagte sie böse, »dann jag ich dich vom Hof.«

Walburga wandte sich ab. An der Tür drehte sie sich noch einmal um.

»Jetzt kannst du’s essen, ich hab nichts dagegen.«

Gertrudis hob das Brot vom Boden auf und warf es in den Schweineeimer. Sie hasste die Bäuerin.

»Soll dich der Teufel holen«, fluchte sie und spuckte Richtung Küchentür, »dich und deine ganze Familie.« Sie wünschte der Alten alles Unglück.

Der Königenhof konnte mit der diesjährigen Ernte zufrieden sein. Genug Hafer und Roggen hatten die Bewohner eingebracht, der Kartoffelkeller war gut gefüllt, auch Lein hatten sie ausreichend anbauen können, der jetzt in der kommenden dunklen Jahreszeit von den Frauen zu Garn und Tuch weiterverarbeitet wurde. Zur Kirchweih, der Kilbi, ging die Hofgemeinschaft fast geschlossen nach Neukirch in den Gottesdienst und feierte anschließend auf dem Platz vor dem Gasthaus Rössle bei Musik und Jahrmarkttreiben.

Am Abend ging es mit einem großen Essen im Hause Tritschler weiter, für das eigentlich Walburga verantwortlich war. Doch heute konnte sie sich nicht darum kümmern, und deswegen standen die Fallermarie, Elisabeth und Bibiane in der Küche, während Walburga in der Stube Jakobea in den Armen hielt. Ihr jüngstes Kind, das sich eigentlich gut entwickelt hatte, kränkelte seit Tagen erneut. Wieder und wieder legte Walburga Jakobea an die Brust, aber die Kleine wollte nicht trinken. Stattdessen weinte sie ohne Unterlass.