Die Dreizehnte Fee

Text
Aus der Reihe: Die Dreizehnte Fee #1
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Die Dreizehnte Fee
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Julia Adrian

Die Dreizehnte Fee

Erwachen


Astrid Behrendt

Rheinstraße 60, 51371 Leverkusen

www.drachenmond.de, info@drachenmond.de

Satz, Layout Martin Behrendt

Lektorat, Korrektorat: Michael Lohmann, worttaten.de

Bildmaterial Hintergrundmuster: lolloj / shutterstock.com Brombeeren: Guzel Studio / shutterstock.com Blätter und Ranken: Kopainski Artwork

Umschlaggestaltung Alexander Kopainski, kopainski-artwork.weebly.com

Zitat / Gute Nacht Lied Clemens Brentano

ISBN: 978-3-95991-231-0

ISBN der Druckausgabe: 978-3-95991-131-3

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

  Prolog

  Bett aus Rosen

  Rückkehr der Königin

  Nordwind

  Das Heim der Sieben

  Wahrung des Erbes

  Verlorene Träume

  Die Kinderfresserin

  Der Uhrmacher

  Die Giftmischerin

  Schicksal

  Im Schutz der Nacht

  Hexenwahn

  Nixen

  Zauber des Glücks

  Brunnenhexe und Rattenbiest

  Die Wurzel

  Scheidepunkt

  Das Ende einer Reise

  Danksagung

Für Petros

Du bist der Grund, warum es dieses Buch gibt,

dieses Märchen über Schuld und Unschuld.

»Warum ist die Hexe bei Hänsel und Gretel böse?«

Eine Frage.

Hier die Antwort.

Vielleicht.

Vertraue deinem Herzen.

Es ist nicht alles so,

wie es auf den ersten Blick scheint.

Prolog

Ich komme zu spät. Ich weiß es.

Die Erde fliegt unter meinen Füßen dahin. Ich berühre sie kaum, achte nicht auf meinen Tritt. Vorwärts, ist alles, was ich denken kann. Vorwärts. Und meine Füße tragen mich schnell und doch nicht schnell genug.

Dreh um, hallt es in meinem Kopf, du willst das nicht sehen.

Ich muss. Ich habe keine Wahl.

So ist die Liebe. Sie bindet, sie bindet mich und ich kann nicht anders, als dem Schrecken entgegenzulaufen. Ich weiß, was mich erwartet und dennoch kann ich nicht aufhören zu hoffen.

Bitte, bitte, habe sie verschont!

Ich beiße die Zähne zusammen, würge den Schrei hinunter. Nur die Tränen kann ich nicht aufhalten.

Du wolltest lieben. Liebe bedeutet Leid. Hast du das denn immer noch nicht begriffen?

Nein! Ich schließe die Augen, lasse mich tragen über die Wiesen. Und alles, was ich sehe, ist ihr Gesicht und es brennt in mir. Alles brennt. Nur nicht sie!

Sie ist ein Mensch. Unbedeutend.

Sie ist alles.

Die Königin in mir lacht, aber sie lacht leise und ich spüre, dass auch sie leidet.

Liebe, höhnt sie und dann verstummt sie. Denn ich stehe am Hang und blicke hinab auf das Tal. Ich blicke hinab auf den Tod.

Ich habe sie verloren.

Bett aus Rosen

Es war einmal – so beginnen die Märchen und so begann auch mein Leben. Und es hätte tatsächlich ein Märchen werden können, doch das ist lange, lange her. So lange, dass sich die Jahre zu Staub verwandelten, zu Bruchstücken einer sich selbst vergessenden Zeit. Und nicht einmal ich kann sagen, wann mein erstes Es war einmal seinen Anfang fand.

Ich atme. Ich lebe. Zum zweiten Mal.

Während ich keuchend die süße, unheilschwangere Luft einsauge, mein Herz in wilder, neu erwachter Energie pumpt, ahne ich, dass sich alles verändert hat, und begreife doch nicht was. Meine Lippen prickeln wie in Erinnerung an einen zärtlichen Kuss. Ich fasse mit meinen Händen in die steifen Laken, fühle den rauen Stoff unter meinen Fingerkuppen zu Staub zerfallen.

Ich schlage die Augen auf und sehe doch nichts. Aber ich fühle, dass da jemand ist, bei mir. Ich höre den Atem, das nervöse Zucken von Wimpern. Ich rieche Schweiß: Angst, Erregung und Erschöpfung.

Fremde Hände greifen nach mir, berühren mich. Etwas zerbröselt. Bestürzt stelle ich fest, dass es mein Kleid ist. Ich balle die Finger zur Faust, erwarte die Hitze der Magie – doch meine Hand bleibt leer.

Das Bett schwankt unter dem Gewicht des Fremden. Ich öffne die Hand und rufe erneut nach meiner Macht – nichts geschieht. Nur die Finger fassen mich an, schüren meine Verwirrung und meinen Zorn.

»Verflucht.«

Stille.

Dann: »O Gott, sie ist wach!« Lauter: »Sie ist wach!«

Hallende Schritte. Eine Tür, die aufgerissen wird. Frische Luft.

»Was sagst du? Sie ist wach? Was machst du da?«

»Ich dachte, weil sie doch nur so da liegt … ich glaubte, es würde niemanden stören!«

»Hast du sie geküsst?«

»Nein, ich meine ja …«

Ein Schwert wird zischend aus der Scheide gezogen. Ich kenne das Geräusch. Ich blinzele, kämpfe gegen die gleißende Helle, gegen das Gefühl der Ohnmacht. Nur langsam kehrt die Kraft zurück. Ich muss lange geschlafen haben. Zu lange. Etwas stimmt nicht. Etwas ist ganz und gar falsch.

»Wieso ist sie nackt?«

»Ich naja … ich … ich habe nur …«

»Was hast du getan?«

»Beim Fluch der Eishexe! Ich wollte sie nur einmal berühren. Aber das Kleid, das Kleid, es zerfiel einfach!« Die Worte überschlagen sich fast. Es schmerzt in meinen Ohren.

»Du hast die Schlafende erweckt. Ich hatte befohlen, sie nicht anzufassen.«

»Ich dachte … ich meine …«

»Wie lange?« Ich unterbreche den Streit. Meine Stimme klingt so sanft wie die einer neugeborenen Elfe, nicht wie die der uralten Frau, die ich fürchte zu sein.

»Wie lange?« Ich wiederhole die Frage und kann endlich Schemen ausmachen. Vage Umrisse, von vier oder fünf Gestalten. Menschen. Ein gutes Zeichen, wenn es noch Menschen gibt. Dann hat die Welt sich nicht allzu oft gedreht.

»Wie lange was?«, fragt der Mann mit der unerträglichen Stimme. Blonde Haare, helle Haut.

»Wie lange habe ich geschlafen?«, frage ich.

Schweigen.

Und in dem Schweigen kommt mir die Erinnerung an die letzten Momente, kurz bevor der Zauber seine Wirkung tat.

Und ich begreife die entsetzliche Wahrheit: Sie haben mich betrogen!

Eiskalter Hass brennt in mir, flammt durch meine Adern. Ich hebe den Arm, drehe die Hand. Das Zeichen auf dem Handgelenk brennt schwarz wie eh und je.

Ein verlogenes Symbol!

»Sie ist eine Hexe«, knurrt der Zweite. Der Blonde kreischt, er weicht zurück. Noch mehr Schwerter zischen. Eines legt sich an meinen Hals, kühl und scharf. Endlich klärt sich mein Blick und ich löse die Gedanken von der Vergangenheit. Ich sehe von dem tödlichen Stahl auf meiner Kehle hinauf in die schwarzen Augen eines dunkelhaarigen Mannes.

»Unser Dornröschen ist eine Hexe«, murmelt er und hebt mein Kinn mit der Spitze des Schwertes.

Fünf Männer stehen im Raum. Drei von ihnen scheinen Soldaten eines Reiches zu sein, dessen Wappen mir unbekannt ist: eine goldene Schlange auf blauem Grund. Der Blonde ist ein Edelmann, ein Prinz. Falls es noch Prinzen gibt und Königreiche.

Der fünfte und letzte Mann jedoch ist mir ein Rätsel. Er ist anders – er riecht anders.

»Was seid Ihr?«, frage ich.

Er neigt den Kopf, als würde er sich wundern. Die Augen verengen sich.

»Unmöglich, eine Hexe?«, näselt der Blonde und späht über die Schultern der verängstigten Soldaten. Seine Augen sind wässern. Kein Glanz ist in ihnen, keine Andeutung von Tiefe.

»Sie trägt das Zeichen«, antwortet der Dunkelhaarige.

»Sie sieht nicht aus wie eine Hexe!«, beharrt der Prinz störrisch. »Ich meine, sie ist so überaus reizend. So vollkommen und schön!«

»Die Eishexe ist auch schön«, flüstert einer der Soldaten.

»Und die Giftmischerin«, wirft der zweite ein.

 

»Es ist das Zeichen der Dreizehn Hexen.« Der Dunkelhaarige mustert mich genau. »Doch gab es bisher nur zwölf.«

Zwölf, sie leben.

»Es sind dreizehn, waren es immer«, sage ich leise und ignoriere die hastig gestammelten Gebete der vier anderen. Ich brauche sie nicht anzusehen, um sie wahrzunehmen. Ich höre ihre ängstlich flatternden Herzen, das Zischen ihrer Lungenflügel. Doch erreicht es mein Bewusstsein nur dumpf. Keine Magie, geschwächte Wahrnehmung. Die Jahre fordern ihren Tribut.

»Wer hat den Fluch gebrochen?«, frage ich und mein eigenes Herz beginnt zu stocken. Der Mann neben mir hebt eine Braue. Seine kurzen Haare schimmern schwarz wie der Himmel bei Nacht. Ob er …?

Er fixiert mich. Sein Blick sucht eine Antwort. Er scheint sie nicht zu finden.

»Unser Prinz«, antwortet er.

Nur langsam begreife ich den Sinn der Worte. Der blonde Prinz, er küsste mich. Mein Blick fährt herum, findet ihn. Er erbleicht.

»Du!«, zische ich und schmecke bittere Enttäuschung. Feige versteckt er sich zwischen den Soldaten und ihren Schwertern. Verlogenheit und Selbstsucht umgibt ihn wie ein schwelender Gestank. Dieser Mensch erlöste mich durch einen Kuss? Er soll der Eine sein? Meine wahre Liebe …?

»Ich … ich glaubte, Ihr wäret eine Prinzessin«, wirft er mir pikiert vor.

»Was soll mit Eurer Hexe geschehen?«, fragt der Dunkelhaarige. »Ihr erwecktet sie, jetzt gehört sie zu Euch.«

Hexe?

Es klingt wie eine Beleidigung. Besäße ich meine angestammte Macht, wäre sein Urteil besiegelt: Tod. Hätte ich meine Magie, würde nichts, aber auch nichts von ihnen bleiben. Ich würde sie alle zerstören, meinen Frust an ihnen auslassen … und meine Enttäuschung.

Verdiene ich jemand so selbstsüchtigen wie den Prinzen?, frage ich mich plötzlich erschöpft. Ist es das, was die Menschen Gewissen nennen? Die Erkenntnis über die eigenen Fehler?

»Ihr seid der Hexenjäger«, schnappt der Prinz. »Ich bin gesandt, um meinem Vater von dem Turm zu berichten. Nicht um Hexen zu töten oder gar heimzubringen.«

»Hexenjäger?« Ich ziehe überrascht die Augenbrauen hoch und mustere den Mann. Er wirkt kräftig, die Augen wachsam. Eine Narbe zieht sich über die Hälfte der Wange. Und noch während ich ihn betrachte, zuckt sein Mundwinkel spöttisch. Hexenjäger – das gab es zu meiner Zeit nicht.

Das Gewicht der Armbrust an seiner Schulter scheint er kaum zu spüren, zwei Dolche stecken im Gürtel. Das Schwert in seiner Hand liegt ruhig, ich spüre kein Zögern wie bei den Soldaten. Nein, der fürchtet mich nicht. Im Gegenteil, er würde keine Sekunde zögern, mich zu töten. Doch er tut es nicht. Warum?

»Die Dreizehnte Hexe«, höre ich ihn murmeln.

Lange, so lange Zeit. Die Spuren der Zauber, die einst diesen Ort umgaben, liegen noch in der Luft. Ich höre meine Schwestern ihre Bannsprüche sprechen, um meinen Schlaf der Ewigkeit auszuliefern, versteckt im Wald. Doch ihre Flüche sind gebrochen, verflogen die Zauber, die mich vor den Augen der Welt verbargen. Vergaßen sie, sie zu erneuern? Vergaßen sie mich?

Ihr Fehler wird sie teuer zu stehen kommen, denn jetzt bin ich frei.

»Was machen wir mit ihr?«, ruft der Prinz. »Beim Feuer der Drachen, sie ist eine Hexe! Eine der Dreizehn!« Seine Miene wechselt zwischen Hilflosigkeit, Angst und Wut. »Es ist mir gleich, was das Gesetz der Magie besagt. Niemals kann diese Hexe meine wahre Liebe sein! Hätte ich sie doch nur nicht geküsst!«

»Ja«, zische ich und erkenne, dass alles misslungen ist. Ich starre ihn an, den Prinzen, der den Zauber erlöste, und empfinde nichts als Verachtung.

Er keucht und die Furcht lodert in ihm auf wie ein gleißendes Schwert. »Tötet sie!«, kreischt er. »Sofort!«

Die Waffe auf meiner Kehle zuckt unmerklich – doch ich atme noch, ich lebe. Der Hexenjäger verharrt. Innerhalb eines Wimpernschlags erkenne ich, dass es nicht der Prinz ist, der über Leben und Tod entscheidet, sondern der Hexenjäger. Doch war ich zu lange an der Macht, um mich unterzuordnen. Ich werde nicht im Staub kriechen!

Ich überfliege die Situation. Der Turm, erinnere ich mich mit klarer Gewissheit. Ich befinde mich in dem Turm. In meinem luftigen Grab: die einst seidenen Vorhänge des nun zerschlissenen Himmelbettes, die zerbrochenen Fensterscheiben, die rankenden Rosen mit ihrem unerträglichen Duft, der an verwesende Leiber erinnert.

Hinter dem Prinzen gähnt die Tür wie ein dunkles Omen. Die Treppe hinab in die Freiheit, hinunter in den Wald der Geister – oder wie immer er heute heißen mag.

Mit einer einzigen, überaus flinken Bewegung schlage ich das Schwert des Hexenjägers beiseite und gleite an ihm vorbei. Der Mund des Prinzen klafft im stummen Schrei. Die Soldaten weichen. Ein Schwert klirrt verloren auf den kalten Steinfliesen. Ich bin an der Tür, als mich ein Schlag in die Seite trifft. Obwohl ich fast so schnell bin wie einst, gelingt es dem Hexenjäger, meinen Zopf zu greifen. Er reißt daran. Ich lande mit dem Rücken auf den kalten Fliesen. Der Aufprall raubt mir den Atem. Der Hexenjäger zieht mich zurück. Ich winde mich, will ihn treten. Doch er holt aus und seine Faust landet auf meiner Schläfe. Schmerz explodiert in meinem Kopf, Punkte tanzen vor meinen Augen und meine Gegenwehr erstickt.

Er hat mich geschlagen.

Ein Mensch.

Mich!

»Was bist du?«, knurrt der Hexenjäger, reißt mich hoch und drückt mich gegen die Wand. Er nimmt mir den Atem. Sein Duft. Ich mag seinen Duft. Unfähig mich zu befreien, starre ich in sein grimmiges Gesicht. Er ist nicht nur stark. Er ist schnell. Viel schneller als erwartet. Ja, die Welt hat sich verändert. Die Menschen sind nicht mehr die Opfer, die sie einst waren.

»Hexenjäger«, flüstere ich seinen Namen und muss fast lachen. Seine Augen glühen. Ich kenne den Blick. Ich muss schön sein, so schön wie in meinem ersten Leben, dass es selbst ihm schwerfällt, sich meinem Zauber zu widersetzen. Haut so weiß wie Schnee, Haare so schwarz wie Ebenholz und Lippen so rot wie Blut.

Die perfekten Menschen – Feenkinder – heute Hexen.

»Du hast das Zeichen«, sagt er und streicht mit den Fingern über die schwarze Stelle an meinem Handgelenk. »Aber du hast keine Macht. Du bist nicht wie sie. Wer bist du?«

Ich balle die Hand, öffne die Finger, einen nach dem anderen. Ich rufe nach ihr, mit all meinen Fasern. Ich rufe nach meiner Magie.

Die Muskeln des Hexenjägers verkrampfen. Die scharfe Klinge des Dolches presst sich auf die pulsierende Ader an meiner Kehle.

»Was bist du für eine seltsame Hexe«, murmelt er, als nichts passiert.

»Hexen«, zische ich und muss die Tränen unterdrücken. »Früher nannte man uns Feen.«

»Nenn dich, wie du willst.« Der Dolch schneidet in die Haut. Ich spüre den Schmerz kaum. Schmerz gehörte schon immer zu meinem Leben – sodass ich kaum weiß, wie es ohne ihn ist. Einzig der Duft des Blutes gräbt sich tief in mein Bewusstsein und ich erkenne, dass er kurz davor ist, sich für meinen Tod zu entscheiden.

»Du jagst uns Feen?«, flüstere ich erstickt. Ich darf nicht zweifeln, darf nicht der ungewohnten Angst nachgeben, die in meinem Bauch wächst und meine Glieder zu lähmen droht. Meine Kraft wird wiederkehren und mit ihr meine Magie. »Töte nicht die Einzige, die dir helfen kann, sie zu finden.«

Der Mund des Hexenjägers verzieht sich zu einem spöttischen Grinsen, aber die Klinge verharrt. Er hört mir zu. »Wie kommst du auf die Idee, dass ich deine Hilfe brauche?«

»Brauchst du nicht?«, frage ich zurück.

Sein schwarzer Blick wandert von meinen Lippen zu meiner Kehle. »Nein.« Doch er zögert.

»Bist du sicher?«, frage ich und versuche das gleichmäßige Pulsieren seines Herzen zu ignorieren. Er fürchtet mich nicht. Magie nährt sich von Furcht. Wer ist er? »Ich kann von Nutzen sein«, presse ich hervor. »Ich weiß Geheimnisse über sie, die niemand sonst kennt. Ihre Schwachstellen, ihre Vergangenheit.«

»Bringt es zu Ende, Hexenjäger«, ruft der Prinz ungeduldig. Jetzt da ich gefangen bin, traut er sich vorzutreten. Der Hexenjäger schweigt, mustert mich nachdenklich. »Hört nicht auf ihre Worte. Sie ist eine verdammte Hexe. Ach, wisst Ihr was? Behaltet sie. Ich überlasse sie Euch für die Mühen Eures Geleitschutzes durch die Hecke. Betrachtet sie als Lohn.« An die Soldaten gewandt fügt er hinzu: »Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es vor dem nächsten Sonnenaufgang hinaus aus diesem verfluchten Wald. Vater wird erfreut sein, von dem Turm zu hören und dem Geheimnis, das er barg. Eine Hexe, eine der Dreizehn – jetzt muss er mich zum Erben bestimmen!« Er klatscht in die Hände. »Los, los. Sattelt die Pferde!«

Die Soldaten fliehen der Treppe entgegen. Sie können dem muffigen Grab nicht schnell genug entkommen. Ihre Schritte hallen tausendfach aus dem Schacht empor. Der Prinz kehrt als Letzter zur Tür. Sein Blick fängt den meinen, er verzieht den Mund, als ekele er sich vor mir, und doch sehe ich die Gier. Angst und Lust, eine gefährliche Mischung.

»Beeilt Euch, falls Ihr mit uns reiten wollt – wir warten nicht!« Er folgt den Soldaten. Und der Prinz, der mich erweckte, verschwindet aus meinem Leben, ohne eine Spur hinterlassen zu haben.

Wir sind alleine. Ich und der Mann, der meine Schwestern jagt. Ich blicke in seine Augen und erkenne voller Verwunderung, dass sie nicht schwarz sind, sondern grün wie die dichtesten Tannenwälder.

»Was mache ich nur mit dir?«, murmelt er.

»Was würdest du denn gerne mit mir tun?«, wispere ich zurück. Eine Einladung, ein Versprechen. Die einfachste und älteste Falle der Welt und doch so effektiv.

Er stockt, seine Augen weiten sich, dann lacht er schallend auf. »Es steht wahrlich schlimm um dich.« Langsam nähert er sich, den Blick auf meine Lippen gerichtet, dann sieht er mich aus seinen geheimnisvollen Augen an. Mein Herzschlag beschleunigt, mein Atem stockt. Was geschieht mit mir? Ich spüre seinen Atem, die Wärme seiner Haut und fühle mich unendlich verletzlich. »Selbst wenn du die letzte Frau auf Erden wärst …«, flüstert er rau, greift in meine Haare und zieht meinen Kopf in den Nacken. »Deine Hexenkräfte wirken bei mir nicht.«

»Nicht?«, flüstere ich gepresst.

»Nein«, sagt er nur. »Ich finde dich nicht im Mindesten anziehend.«

»Du lügst.«

Er lacht und ebenso plötzlich, wie er sich mir näherte, entfernt er sich wieder, gibt meine Hände frei. Nur den Zopf schlingt er um die Hand. Eine Leine. Eine Demonstration seiner Macht.

»Du bist anders als die anderen«, meint er nachdenklich.

Anders, das war ich schon immer. Doch es gibt niemanden mehr, der um mein Geheimnis weiß – niemanden außer meinen Schwestern.

»Du bist schwach.«

»Ich war eine Königin«, erwidere ich und hebe die Handflächen empor. Sanft zeichnen sich die Linien ab. Es sollten die Hände einer alten Frau sein – runzelig und verbraucht. Stattdessen sind sie weich und stark: die Hände der Königin von einst.

Ich hebe den Blick. Vor uns thront der mächtigste Spiegel des Landes. Mein Spiegel. Mein Land. Ich hauche gegen das matte Glas, und wie von Feenflügeln berührt weicht der feine Staub, um mein Antlitz zu enthüllen. Glattes, tiefschwarzes Haar umfließt ein blasses Gesicht, das schöner nicht sein könnte. Dunkle Wimpern, stechende Augen, ein sinnlicher Mund so rot wie der pulsierende Lebenssaft selbst. Das Gesicht der Königin. Das Gesicht der Schönsten. Daneben der Hexenjäger, feindlich und ungezähmt. Er lässt meinen Zopf durch die Finger gleiten. Er hebt ihn an und fast – aber eben nur fast – ist er versucht, an meinen Haaren zu riechen.

»Zieh dich an«, fordert er abrupt und ich weiß, dass seine Entscheidung gefallen ist. Doch es ist nur ein Aufschub, ein bisschen Zeit.

»Ich weiß nicht was«, sage ich ruhig. Wie lange …, frage ich mich. Wie lange hielt mich der Fluch gefangen? Der Fluch des Todesschlafs.

Der Hexenjäger reißt einen Schrank auf. Für einen Moment glänzen Dutzende Kleider in allen Farben des Regenbogens. Prächtige Juwelen, golddurchwebte Schleier. Doch wie von Zauberhand verblasst der Glanz. Und langsam, so als würden sie den Moment hinauszögern, zerfallen sie und rieseln seufzend zu Boden. Von den einst kostbaren Kleidern bleibt nichts als ein Haufen Staub.

»Was ist das für ein Zauber?«, knurrt er und zerrt an dem Zopf.

»Kein Zauber«, erkläre ich schlicht. »Nur der Tribut der Zeit.«

Er schnaubt. »Ich glaube dir kein Wort. Aber gut, du willst nackt sein? Nur zu, mich soll es nicht stören.« Ohne zu zögern, strebt er dem Ausgang zu. Sein Schritt ist fest und entschlossen. Er wird mich nicht töten, noch nicht.

 

Ich folge dem Feind meiner Schwestern die Stufen hinab. Mit jedem Schritt wird der Duft des muffigen, nach Leichen stinkenden Grabes schwächer. Ich entfliehe meinem Gefängnis. Ich bin bereit, so bereit, mein zweites Leben zu beginnen.

Meine Rache wird furchtbar sein.

Weitere Bücher von diesem Autor