Buch lesen: «Augenschön Das Herz der Zeit (Band 3)»
Judith Kilnar
Augenschön
Das Herz der Zeit
Für Leo.
Prolog
Es war Sommer. Die Sonne schien hell und lange – jeden Tag aufs Neue, und selbstverständlich brachte sie dabei immer Wärme mit sich. Schon kurz nachdem sie aufgegangen war, konnte man an den lauen Lüftchen und dem angenehmen Gefühl auf der Haut erkennen, dass ein neuer Tag mit makellosem Wetter anbrach. Wobei … einen Makel mochte es geben: Die wohltuende Wärme wandelte sich nämlich im Laufe des Tages, und kaum einer konnte die sengende Hitze um die Mittagszeit ertragen, ohne ernstliche Kopfschmerzen und einen Sonnenbrand zu bekommen. Doch das war draußen, außerhalb eines Gebäudes und außerhalb von dicken, abtrennenden Wänden.
Einer der Orte, zu dem die Hitze keinen Zutritt hatte, war der Kerker einer kleinen Burg, die am äußersten Rand einer kleinen Stadt lag. Dort saß ein junger Mann, fast noch ein Junge, zusammengekrümmt in die hinterste Ecke gepresst. Man konnte ihn kaum erkennen, kaum von seiner Umgebung unterscheiden, so schmutzig war er. Ein flüchtiger Blick hätte ihn nicht erfasst, nur durch genaueres Betrachten und mithilfe einer Fackel hätte man Details erkennen können. Doch niemand machte sich die Mühe, fast niemand traute sich überhaupt in die Nähe dieses Kerkers.
Durch den Körper des Jungen ging ein Beben, und es raschelte kurz, als er seine Sitzposition änderte. Dabei stieß er sich den Kopf an einem spitzen Stein an der Wand und schlug reflexartig die bis dahin geschlossenen Augen auf. Kurz huschte sein Blick hin und her in dem verzweifelten Versuch, einen Funken Licht zu erhaschen. Doch da war nichts. Nichts als Dunkelheit. Der Junge lehnte den Kopf in einem anderen Winkel an die Wand und schloss erneut die Augen.
Warum sie auch offen lassen, wenn es keinen Unterschied machte? Das bleiche Gesicht verfiel erneut in die glatte, ruhige Starre, und es gab kaum noch einen Unterschied zu einem bereits Toten. Bis auf das eine vielleicht, aber das unterschied ihn nicht allein von den Toten, sondern ebenso von allen anderen Menschen. Trotz der zerrissenen Leinenfetzen, die das Einzige waren, was er am Leibe trug, trotz der Schmutz- und Staubschicht, die seinen Körper überzog, an manchen Stellen mit altem Blut vermischt, das von vergangenen Peinigungen herrührte, trotz der verklebten Haare, dem Dreck unter den Nägeln und den tiefen Ringen unter den Augen – trotz alldem strahlte er eine unbestreitbare, unheimliche Schönheit aus. Niemand hätte sagen können, was es genau war, das ihn so besonders machte. Es war vorhanden und einer der beiden angeblichen Beweise, die seine Gefangenhaltung begründeten. Der andere Beweis verbarg sich unter den kalkweißen Lidern des Jungen.
Diese flogen mit einem Mal flatternd auf, ähnlich wie vorhin, nur dass diesmal keine Berührung daran schuld war. Es war etwas anderes, ein Gedankengang, ein paar gezählte Lichtstreifen und die Angst vor dem Tod.
Stöhnend richtete sich der Junge halb an der Wand auf. Stimmte es? Hatte er richtig aufgepasst? Nicht die Ankunft eines Tages verpasst? Nein. Er hatte doch stets bemerkt, wenn die schmalen Lichtstreifen bei Sonnenaufgang kurze Zeit auf den erdigen Kerkerboden gefallen waren. Doch wenn er richtig gerechnet, wenn er nichts übersehen und alles aufmerksam verfolgt hatte …
Die schmutzigen Finger rauften mit einem Mal die hellen Haare, und ein Keuchen entfuhr der ausgetrockneten Kehle, gefolgt von einem »Oh, verdammt!«. Plötzlich war er sich sicher, keine Zweifel bestanden mehr. Die Frist war abgelaufen, heute würde man ihn holen. Man würde ihn grob aus den Kerkern zerren, wahrscheinlich noch einige Tritte und Schläge hinzufügen, ihn sich Knie und Arme blutig schrammen lassen und ihn letztendlich dann …
Die ausgemergelten Hände pressten sich auf die dunklen Schatten um die Augen, verdeckten das Gesicht einen Moment lang mit den spindeldürren, langen Fingern. Als ob diese verzweifelten Gesten den Gedanken davon abhalten würden, weiter durch seinen Kopf zu schießen! Als ob irgendeine Geste überhaupt noch einen Sinn hatte, wo doch die Glieder, die sie ausführten, am selben Tag noch in Flammen aufgehen würden. Bei lebendigem Leibe verbrennen, qualvoll darauf wartend, dass sich sein ganzer Körper in Asche verwandelte, um dem Schmerz ein Ende zu setzen. Genauso würde er sterben.
Auf dem Scheiterhaufen.
Heute.
Und warum?
Der Junge ballte die Hände zu Fäusten und sank langsam wieder hinab zum Boden. Die stumme Frage ließ ihn nicht los. Warum? WARUM?
Sie kannten nicht einmal den wahren Grund, warum er es vielleicht verdient hätte zu sterben, und doch würden sie ihn töten wegen eines Verdachts, einer Anklage, die nur auf seinem Aussehen und seinen Augen beruhte. Seinen Augen …
Die Überlegungen wirbelten weiter durch seinen Kopf, und immer mehr bekam er das Gefühl, dass sie mit dem Urteil über ihn doch richtiglagen. Waren es nicht diese verfluchten Augen gewesen, die tatsächlich etwas Fürchterliches getan hatten? Diese Augen, die schon so oft so viele Tote gesehen hatten …
Tote, die ohne ihn keine gewesen wären.
Und womöglich stimmten auch die übrigen Anschuldigungen gegen ihn.
Als Hexer auf dem Scheiterhaufen brennen … Er hatte den Worten nie geglaubt, nie geglaubt, dass die vielen Frauen, Mädchen und manchmal auch Männer, die verbrannten, alle Hexen und Hexer gewesen sein sollten. Er hatte die Bäckerstochter doch persönlich gekannt. Sie hätte nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun können.
Aber was, wenn doch nicht alle Verbrennungen Fehlentscheidungen gewesen waren? Was, wenn es andere gab wie ihn? War er womöglich wirklich …?
Er hatte sich nie erklären können, was genau passierte, wenn das Brennen einsetzte, die von ihm ausgehenden hellen Lichter umherzuckten und hinterher nichts als Verwüstung übrig blieb. War das etwa die überall gefürchtete, hässliche und teuflische Hexerei, die so entschlossen verfolgt wurde und wegen der etliche Unschuldige brennen mussten?
Doch so sehr er sich auch davon zu überzeugen versuchte, dass sein Tod richtig war, dass er es verdiente zu sterben, so wenig konnte er sich von der schleichenden Angst befreien. Die Angst, die in einem jeden lauerte, um im entscheidenden Augenblick auszubrechen und alles zu überlagern: Es war die pure Angst vor dem Tod. Angst vor etwas, was am Ende des Weges lag. Des Weges, von dem man zu Beginn nicht wusste, wann man auf das ungewisse Etwas treffen würde, das ihn beendete.
Er grub seine Finger in die löcherigen Fugen der steinernen Wand und versuchte, sich erneut zu erheben, seine Beine zu strecken und eine gewisse Sicherheit zurückzugewinnen. Sicherheit bekam er nicht, das Aufrichten misslang, und er fiel stattdessen vornüber, schlug sich die Stirn am Boden auf und fühlte, wie etwas Klebriges, Warmes hervortrat. Den Schmerz hinter dieser Wunde bemerkte er allerdings kaum, er spürte das Blut nicht, spürte nicht, dass er inzwischen am Boden lag. In ihm herrschte plötzlich ein erbitterter Kampf, einer, bei dem man sich nicht ablenken lassen durfte, er fühlte schwindenden Lebenswillen und lähmende Schwäche, die sich auf seinen geschundenen Körper und die wunde Seele senkte.
In ihm brach der Kampf gegen Verzweiflung und Wahnsinn aus, der Kampf um den eigenen Verstand. Wie konnte der Geist denn noch bestehen, wo er doch längst begriffen hatte, dass seine Existenz ohnehin bald ein Ende finden würde? Wie sollte das Gehirn weiterhin arbeiten, funktionieren und Leistung erbringen, wo es doch gerade die Hoffnungslosigkeit der Lage begriffen hatte?
Doch der Junge wehrte sich gegen eine solche Erniedrigung. Dagegen, den Verstand einzubüßen und dem Wahnsinn zu erliegen. Er wehrte sich gegen den inneren Tod, den Tod seiner Seele, noch bevor sein Körper gestorben war.
»Nein! Nein …« Die leisen Worte kamen nur noch stolpernd aus der trockenen Kehle. Sein ganzer Körper verkrampfte sich, und er versuchte, für diesen letzten Kampf seine Konzentration zurückzugewinnen.
Ursächlich stand hinter dem Kampf doch nur eines ‒ die Verleumdung der Realität, das Wunschdenken einer ehemals lebensfrohen Seele, von der nun lediglich blutende Reste übrig zu sein schienen.
Irgendwann schlug er schließlich die Augen auf und bemerkte erst da richtig, dass er auf dem Bauch am Boden lag und verwundet war. Es kostete ihn unmenschliche Kraft, sich aufzusetzen und zurück an die Wand zu lehnen. Das Blut wischte er achtlos mit dem zerrissenen Ärmel beiseite. Körperliche Wunden und Schmerzen waren nichts gegen seine inneren Schnitte, Risse und Schrammen.
Doch schon sehr bald würde er seine Meinung ändern müssen. Genau das wurde ihm klar, als sich eine Gänsehaut über seinen Körper zog, denn dieser hatte bereits etwas vernommen, was sein Verstand noch nicht realisiert hatte. Als das, was um ihn herum geschah, in seinen Geist vordrang, siegte die Resignation. Der Junge wehrte sich nicht. Sein Körper hatte sich schon in Hoffnungslosigkeit fallen lassen, als er das Knirschen von Erde und die Stimmen vernommen hatte.
»Auf dem Scheiterhaufen sollst du brennen, Diener des Teufels!«, schienen ihm die Wände zuzuflüstern.
Es war nicht menschlich. Es sollte nicht menschlich sein. Nicht existent, nicht vorhanden, nicht spürbar. Doch das war es. Es war ein Schmerz, den man mit nichts vergleichen konnte, ein Schmerz, der jeden anderen zu einer Streicheleinheit machte. Einer, dem man natürlich den Tod vorziehen würde. Lieber den Tod als weiterhin solche Qualen erleiden.
Doch das Krächzen aus der ausgetrockneten Kehle des Jungen ging in dem Zischen der Flammen, dem Knacken des morschen Holzes unter. Die orangerote Front türmte sich höher und höher, verdeckte nach und nach die Sicht auf den Sünder. Und während die Schaulustigen nicht recht wussten, welche Reaktion angebracht war, geschah, verborgen hinter der Feuerwand, etwas überaus Sonderbares …
Der gefesselte Körper des Jungen stand in Flammen, einzelne Glieder zerfielen bereits zu Asche, und plötzlich passierten zwei entscheidende Dinge unmittelbar nacheinander.
Zuerst stockte etwas in dem Jungen. Es war das Herz, das langsamer wurde, schließlich stehen blieb und den Jungen scheinbar erlöste.
Einen Wimpernschlag später war jedoch der gesamte Körper verschwunden, ebenso wie jeder einzelne Ascherest.
Etwas äußerst Seltenes war geschehen: Ein Augenschön hatte seine Erste Fahrt angetreten.
Eine der Ersten Fahrten, die gleichzeitig ein Wunder der Magie veranschaulichten: Ein bereits zerfallener Körper heilte, und längst tote Zellen bekamen eine zweite Chance auf Leben. Auf ein besseres Leben.
Als geschütztes Augenschön, das seine Vergangenheit ablegen konnte, die Schuld, den Schmerz und in diesem Fall … auch den Namen.
Er würde sich fortan nach dem Himmel nennen, den er so lange nicht zu Gesicht bekommen hatte.
Sky, ein Schleifenwesen.
Aus den Lexika der Augenschönen
(Band 4, Kapitel 16)
Eines der größten Rätsel der Natur der Augenschönen mag wohl das erste, menschliche Leben und seine Verbindung zum neuen Leben als magisches Schleifenwesen sein.
Die Gedanken und Erinnerungen aus dem ersten Leben gehen häufig durch den längeren Aufenthalt in den Inneren Schleifen verloren. Abhilfe dagegen konnte bereits die Zusammenarbeit mit den Dromeden schaffen, wodurch auch die Entwicklung des Brunnens mit dem »Wasser der Erinnerungen« möglich war. Was allerdings weiterhin unklar und rätselhaft erscheint, ist die Frage, warum manche Augenschöne ohne jegliche Hilfsmittel starke Verbindungen zu ihrem ersten Leben haben, sich nahezu einwandfrei detailreich erinnern können. Vermutungen diesbezüglich beziehen sich beispielsweise auf den Gedanken, dass besonders wichtige, einprägsame Augenblicke, Erlebnisse und Lebensabschnitte aus dem menschlichen Leben auch im Augenschönleben in den Inneren Schleifen erhalten bleiben. Wo dies doch nachvollziehbar erscheint, erklärt es immer noch nicht zur Genüge, weshalb sich manche Augenschöne an fast ihr gesamtes menschliches Leben erinnern können.
Sky Silver, der sich seinen eigenen Aussagen zufolge an beinahe jede Einzelheit seines ersten Lebens erinnern kann, meinte zu diesem Thema abschließend: »Die Erinnerungen können hilfreich und erleichternd sein, doch manchmal sind sie eine unglaublich schwere Last. Manches würde ich wirklich lieber vergessen.«
Sky Silver hat während seines ganzen Lebens in den Inneren Schleifen kein einziges Mal Wasser vom »Erinnerungsbrunnen« konsumiert, gilt aber als einer der Augenschönen mit dem besten Gedächtnis. […]
Dass Sky Silver in seinen Aussagen nicht lügt, beweisen beispielsweise seine botanischen Kenntnisse, die er sich in seinem menschlichen Leben in den Äußeren Schleifen aneignete und in den Inneren Schleifen immer noch besitzt. […]
Die anfänglichen Vermutungen bezüglich der wichtigen und einprägenden Ereignisse teilt Sky Silver, und er fügte, von seinem Leben ausgehend, den Punkt hinzu, dass das menschliche Leben eines sich erinnernden Augenschöns wohl von starken Emotionen geleitet war, die wiederum das Gedächtnis nachhaltig in den Lebensmomenten gefangen hielten.
Ob das einwandfreie Erinnern nun Segen oder Fluch ist, mag von Außenstehenden schwer zu beurteilen sein. Betroffene allerdings geben ausnahmslos an, dass es sich um etwas Negatives handelt.
Aus dem Bericht:
Das erste, menschliche Leben von M. Reed
Kapitel 1
Schwankend landete ich in weichem Gras, blieb diesmal allerdings stehen und fiel nicht hin.
Atlas materialisierte sich neben mir, ließ meinen Arm los und sah sich suchend um. »Hier müssten wir zwischen Ost- und Westwiese sein. Dort drüben ist der Hof.«
Ich wollte nicken, als mich plötzlich ungeahnte Übelkeit übermannte. Entsetzt presste ich mir gerade noch die Hand vor den Mund, als ich mich auch schon ins Gras neben mir übergab. Alles drehte sich um mich, während ich Augenblicke später keuchend dastand und nach Luft rang.
»Was ist nur mit meinem Körper los?«, fragte sich eine leise Stimme, der es jedoch nicht gelang, die Leere in mir zu übertönen.
Auf einmal tauchte eine Hand neben mir auf, die ein Tuch hielt, und eine andere strich mir die Haare aus dem Gesicht. Ich wich zurück, nahm Atlas dennoch das Tuch ab und wischte mir über den Mund. Gleichzeitig richtete ich mich auf und versuchte, seinem besorgten Blick auszuweichen. Er fragte sich bestimmt ebenso wie ich, was zum Teufel mit mir los sein mochte.
Zum Glück wurden wir in diesem Moment von lauten Stimmen abgelenkt, die verhinderten, dass Atlas seine Gedanken aussprechen konnte. Ich ging ein paar Schritte zur Seite und stellte mich leicht versetzt hinter ihm auf. Schon wieder war mir übel, diesmal jedoch nicht, weil ich mich gleich hätte übergeben müssen, sondern vor Angst. Angst davor, wie die vielen Leute, die auf uns zukamen, auf all meine Veränderungen reagieren würden.
Als sie näher kamen, erkannte ich, dass die Hälfte der Neles, bestehend aus Tatjana und Mr Starrson, vorneweg schritten, dicht gefolgt von einer großen Gruppe Augenschöner.
Meine Knie begannen zu zittern, die Erschöpfung übermannte mich, während aus dem Stimmengewirr einzelne Sätze zu uns drangen.
»Sie sind zurück! Sie sind zurück!«
»Lucy? Atlas? Verdammt, bin ich froh!«
»Ihr lebt … Zum Glück lebt ihr.«
»Was ist passiert? Wann ist der Kampf?«
»Herrgott, endlich!«
»Dort sind sie! Dort sind sie!«
Je näher die Rufe kamen, umso stärker wuchs das ungute Gefühl in mir. Würden sie enttäuscht sein ‒ sowohl von unseren Neuigkeiten als auch von uns selbst?
Die beiden Neles erreichten uns als Erste – mit erleichtertem Lächeln auf dem Gesicht. Die übrigen Augenschönen plapperten immer noch wild durcheinander, bis sie nur noch etwa zwei Meter von uns entfernt waren, als unvermittelt ein Ruck durch die Gruppe ging.
»Ihr seht furchtbar aus! Was ist passiert?«
»Verdammte Schleifensterne! Ihr seid ja schrecklich zugerichtet!«
»Wurdet ihr in einen Kampf mit den Nächtlichen Geschöpfen verstrickt?«
»Wo ist … wer ist … Lucy?«
Das war die erste Bemerkung, die meine Angst katapultartig wachsen ließ. Ihr folgte verwirrtes Flüstern. Offensichtlich hatte James ihnen nichts von meinen Veränderungen erzählt. Ich wusste nicht, ob ich das gut oder schlecht finden sollte, während ich vor mir auf den Boden starrte und mich bemühte, all die neugierigen und überraschten Blicke, die auf mich gerichtet waren, zu ignorieren.
Schließlich trat Tatjana vor. »Herzlich willkommen zurück. Zum Glück lebt ihr beide noch, obwohl euer Zustand nicht gerade erfreulich ist.«
»Danke«, antwortete Atlas für uns beide. »Aber wie es uns geht, ist nicht so wichtig. Viel entscheidender ist: Bereitet ihr euch schon auf den Kampf vor? Und wenn ja, seit wann?«
Tatjana blinzelte perplex, als Atlas sofort zum Thema kam: »James hatte ‒ wie soll ich es sagen? ‒ einen vorübergehenden Gedächtnisverlust. Er konnte sich nicht mehr so genau an eure Reise erinnern. Erst vor gut einem Monat ist ihm eingefallen, dass wir uns auf einen Kampf vorbereiten müssen. Habt ihr genauere Informationen, wann dieser Kampf sein soll?«
Mir wurde kalt. Vor einem Monat hatte man erst begonnen, Vorbereitungen zu treffen? Vor nur einem Monat hatte man angefangen, sich für den schrecklichsten Kampf in der Geschichte der Augenschönen zu wappnen? Und das würde er zweifellos werden. Ein Monat war zwar besser als nur ein paar Tage, doch würde es trotzdem ausreichen?
»Wir haben nicht mehr viel Zeit, etwa einer Woche«, brachte Atlas die anderen auf den aktuellen Stand. »Darum sollten wir so viel vorbereiten wie nur möglich.«
»Eine Woche?« Tatjanas Stirn legte sich besorgt in Falten. »Das ist … wenig.«
Mr Starrson trat vor. Sein Blick huschte zu mir, und er räusperte sich, damit man ihm die Aufmerksamkeit zuwandte. »Ich freue mich ebenfalls, dass ihr lebend zurück seid. Ähm … und auch wenn wir wenig Zeit haben, möchte ich dennoch erfahren … ähm… was mit dir geschehen ist, Lucy. Ich meine, ähm … du bist doch Lucy, oder?«
Nervös fixierte ich meine Finger, als erneutes Gemurmel aufkam, und rubbelte mir ein bisschen Blut von meinem Handrücken. War es meines? Das der Nächtlichen Geschöpfe? Von Atlas? Ich rubbelte heftiger. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Atlas Mr Starrson empört ansah und den Mund öffnete, doch ich stieß ihm gegen sein Bein. Er sollte mich nicht verteidigen.
»Lucy?«
Tatjanas Stimme war weich, vorsichtig und nicht befremdet oder angewidert. Also hob ich langsam den Kopf und erwiderte den ruhigen Blick ihrer grauen Augen mit meinem blutroten. Doch dann weiteten sich ihre, als auch sie die Veränderung bemerkte, und nun zeichnete sich doch Erschrecken in ihrem Gesicht ab.
»Oh Gott, Lucy!«
Eine Person drängte sich an der Nele vorbei, die die ganze Zeit hinter ihr gestanden hatte, und umarmte mich heftig. »Ich bin so unendlich froh, dass du wieder da bist!« Rose’ Stimme zitterte, und es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder von mir löste. Jetzt war ihr weißes Shirt blutbefleckt und ihre Hände und die Jacke ebenfalls, doch sie bemerkte es nicht einmal, oder es kümmerte sie nicht.
»Ich glaube, du brauchst erst einmal Ruhe.« Sie wechselte einen kurzen Blick mit Atlas, bevor sie sich an Tatjana, Mr Starrson und die Gruppe hinter ihnen wandte. »Lucy kommt erst einmal mit mir. Sie muss sich erholen, es geht ihr nicht gut. Später wird sie euch alles erzählen, was ihr wissen wollt.«
Mir wurde erneut bewusst, warum ich Rose so sehr vermisst hatte. Ich war unendlich dankbar für ihren Freundinneninstinkt, der erkannte, dass es mir schlecht ging. Und, wie sie sich sofort wieder um mich kümmerte. Sie legte einen Arm um mich und schob mich an den anderen vorbei. Während wir die Meute vor uns durchquerten, sah ich nicht auf und stolperte unkontrolliert neben ihr her. Niemand sollte die roten Augen sehen. Doch noch während ich mir Gedanken über die Reaktion der anderen machte, merkte ich, dass es mir eigentlich egal war. Was zählte schon, was andere über mich dachten, wenn ohnehin alles seinen Sinn verloren hatte?
Das Laufen fiel mir schwer, und meine Wunden pochten unangenehm schmerzhaft. Ich war froh, als wir uns dem Hof näherten, ihn überquerten und auf das Wohnhaus 2 zuhielten.
Rose schwieg die ganze Zeit über, stellte mir keine Fragen über die Reise oder mein Aussehen, sondern war einfach nur da. Genau das, was ich brauchte.
Das Glas der Eingangstür war beschlagen, und erst jetzt merkte ich, wie kalt es hier war. Mein Atem bildete kleine Wölkchen, und ich bibberte. Rose trug über ihrem langärmligen Shirt eine dicke, gefütterte Jacke. Allerdings hatte sie sie offen gelassen. Vielleicht, weil sie es eilig gehabt und dann vergessen hatte, sie zu schließen?
Meine Beine knickten bei der ersten Treppenstufe leicht weg, und Rose trug mich mehr hinauf, als dass ich selbst gegangen wäre. Bei meiner Wohnungstür ließ sie mich kurz los, um aufzuschließen. Ich lehnte mich gegen die Wand und presste die Stirn dagegen, in der Hoffnung, dass der Schwindel durch die Kühle verschwand.
Rose lotste mich durch die geöffnete Tür und schaltete das Licht an. Ich streifte die Schuhe ab und hängte die zerrissenen Reste meiner Jacke an einen Haken an der Wand.
»Geh unter die warme Dusche. Ich versuche inzwischen, etwas Anständiges zu essen für dich aufzutreiben. Bin gleich wieder da.« Sie drückte mich noch einmal fest, bevor sie durch die Tür verschwand.
Wie ferngesteuert tat ich, was sie mir geraten hatte. Ich schleppte mich ins Bad und stellte das Duschwasser an, damit es schon einmal aufwärmte. Dann wandte ich mich dem Spiegel zu. Eine der Haarbürsten in die Hand zu nehmen, um mir meine zerzausten Haare zu kämmen, war überflüssig. Wie üblich glänzten meine schwarzen Locken seidig. Doch ich achtete kaum darauf. Ich schaute mein Spiegelbild an und versuchte, es mit meinem alten zu vergleichen. Was war alles anders? Was war nicht anders? Doch das Einzige, was mich ansprang, waren die blutroten Augen: die größte Veränderung. Ich starrte mich so lange an, ohne zu blinzeln, bis meine Augen zu brennen begannen und ich mich abwandte.
Einen kurzen Moment betrachtete ich verwirrt die Dusche, überlegte, was ich hier eigentlich wollte, und dann fiel es mir wieder ein.
Ich stieg einfach unter den Wasserstrahl, ohne mir Hose oder Shirt auszuziehen. Das Wasser war immer noch kalt, und ich bemerkte, dass ich den falschen Knauf gedreht hatte. Es war mir egal. Ein trockenes Schluchzen stieg in meiner Kehle auf, und ich torkelte gegen die Wand. Kraftlos ließ ich mich an ihr entlang nach unten gleiten, während das eisige Wasser meine Haare und Kleider überspülte. Ich schlang die Arme um die Knie und starrte ausdruckslos vor mich hin. Immer mehr Wasser durchdrang meine Haare und ließ sie zu leicht kringeligen Wellen werden, die wie ein Vorhang um mich herumfielen und auf dem Duschboden aufkamen.
Es war das erste Mal, seitdem es passiert war, dass ich richtig weinte. Dass Tränen versuchten, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen … dass ich die Kontrolle komplett verlor. Ich bemerkte kaum, wie die Kälte in mich eindrang, wie das Bibbern stärker wurde, meine Haut eine Gänsehaut bildete und wie sich der weiße Boden rot färbte von dem Blut, das das Wasser von mir abwusch. Ich bemerkte auch kaum, wie meine Wunden ausgespült wurden und sich langsam verschlossen. Nein, ich bekam das alles nicht wirklich richtig mit, denn die Leere hatte mich verschlungen und mir sämtliche Sinne, Regungen und Gefühle, auch meinen Willen genommen.
Als die dünne Glastür der Dusche geöffnet wurde, ließ mich das Quietschen kurz zusammenzucken. Ich schaute auf, blinzelte das Wasser aus meinen Augen und sah Rose. Ich hatte wohl ihr Klopfen überhört.
Sie war mit einem Stapel sauberer Kleidung beladen, den sie auf dem kleinen Hocker ablegte, bevor sie sich durch den schmalen Spalt zu mir in die Dusche zwängte. Sie war ebenfalls komplett angezogen, und ihre Socken wurden sogleich von dem kalten Wasser durchdrungen.
»Das ist aber eisig!«, war ihr einziger Kommentar. Sie drehte sich zur Wand, um die Temperatur umzustellen.
Kurz darauf flossen die ersten Ströme von wärmerem Wasser über mich und fingen an, die Gänsehaut zu verscheuchen. Rose kam ganz in die Dusche und schloss die Tür hinter sich. Danach ging sie in die Knie und setzte sich neben mich, an die Wand gelehnt. Eine Weile saß sie nur da, sagte nichts und ließ das Wasser sie komplett durchnässen. Schließlich seufzte sie. »Willst du mir sagen, was los ist? Ich weiß, dass es nicht die Reise an sich ist …«
Ich blieb stumm, hob nur leicht den Kopf von meinen Knien und starrte, ohne wirklich etwas zu sehen, auf die roten Schlieren am Boden.
»Du kannst auch von Anfang an erzählen: wie alles losging, was ihr erlebt und herausgefunden habt, aber bitte sag mir, warum du dich so schlecht fühlst.«
Ich hob eine Hand und strich mir zitternd die Haare aus dem Gesicht und hinter die Schulter. Rose lehnte sich leicht an mich und ich spürte ihre Wärme, die durch das am Körper klebende Shirt drang. Ich hatte keine Lust zu reden, doch Rose verdiente es, über alles informiert zu werden. »Es … es fing ganz normal an, aber dann …« Ich schluckte und holte tief Luft. Dann begann ich zu erzählen.
Ich erzählte vom Anfang unserer Reise, dem merkwürdigen Skelett, das wir gefunden hatten, den Nächten im Zelt und dem immer wieder aufflammenden Streit zwischen Atlas und James. Ich schilderte ihr die verschiedenen Schleifen, wie es zur Verfärbung meiner Haare gekommen war und wie die verschiedenen Punkte von der Liste der Prophezeiungen sich immer weiter erfüllt hatten. Sie lauschte schockiert, als ich von dem zerstörten Dorf der Nuvolas berichtete, dem Ausbruch meiner Titanenkraft und dem darauffolgenden Koma, aus dem ich mit roten Augen aufgewacht war und von dem die blasse, nahezu weiße Haut durch die lange Bewusstlosigkeit geblieben war. Ich erzählte Rose von der langen Pause unserer Reise, in der ich mich hatte erholen müssen, und davon, wie ich gelernt hatte, meine Variantmagie zu nutzen. Auch dass James mich gegen meinen Willen geküsst hatte, verschwieg ich nicht, ebenso wenig die ganze darauffolgende Geschichte, die mit dem Kampf mit den Nächtlichen Geschöpfen, in dem wir von James getrennt worden waren, geendet hatte.
Meine Freundin hörte meinen Erzählungen zu, wie Atlas und ich weitergereist und schließlich zusammengekommen waren. Das darauffolgende Jahr, das ziemlich ereignislos verlaufen war, sprach ich nur kurz an. Ausführlicher berichtete ich von der unheimlichen Schleife der Ewigen Finsternis, der Schleife, in der noch Nuvolas wohnten, und besonders von der ersten Nacht, die wir dort verbracht hatten und die zweifellos mit riesigem Abstand die allerschönsten in meinem Leben gewesen war. Ich beschrieb ihr unsere Begegnung mit den Nuvolas und Gwyneth, die alles zu wissen schien und uns seltsame Anweisungen mit auf den Weg gegeben hatte. Und wie Atlas danach mit mir hatte sprechen wollen und …
Hier konnte ich nicht weiterreden und brauchte einige Minuten, um die richtigen Worte aus mir herauszuzwingen. Schließlich gelang es mir, und ich schilderte mit stockender Stimme den letzten Teil unserer Reise, die wir zusammen mit Adam in die zentrale Schleife der Nächtlichen Geschöpfe unternommen hatten und die ich nur wie durch einen Schleier wahrgenommen hatte. Ich beendete meine Geschichte mit dem Kampf und damit, wie wir es geschafft hatten, mit dem Herzen der Zeit zu entkommen.
Ich erzählte ihr alles bis auf die Sache mit meinen roten Augen, die Wunden hinterließen, die nicht verheilten und sogar tödlich sein konnten.
Das Ganze sprudelte aus mir hervor, als hätte es unterschwellig nur darauf gewartet, endlich ausgesprochen zu werden. Es tat seltsam gut, es Rose zu erzählen, jemand anderen einzuweihen. Nur bei Atlas’ Namen stockte ich und merkte wieder das Messer in meiner Brust.
Das einzige Mal, dass Rose mich unterbrach, war, als ich ihr von dem Spion, dem Verräter in unseren eigenen Reihen, erzählte, auch wenn ich dadurch gegen die Abmachung mit Atlas verstieß, niemandem die Wahrheit zu verraten. Rose konnte nicht glauben, dass es tatsächlich jemanden so Dreistes unter uns gab, der Informationen an die Nächtlichen Geschöpfe weiterreichte.
Als ich schließlich geendet hatte, hörte man eine Weile nur noch das Strömen aus dem Duschkopf, während ich auf eine Reaktion von Rose wartete. Sie blieb stumm.
Ich war gerade dabei, in mein Loch abzudriften, als meine Freundin sich endlich regte und einen Arm um mich legte. Diese kleine Geste traf mich unerwartet heftig und ließ das Messer in meiner Brust glühen und sich langsam und schmerzhaft tiefer in mein Herz bohren. Genau so hatte Atlas oft den Arm um mich gelegt, wenn wir abends ins Zelt gegangen waren, um uns für den nächsten Tag auszuruhen. Und mit einem Mal brach die hauchdünne Mauer in mir ein, und brennend fingen die Tränen an, aus meinen Augen zu strömen. Die Tränen, die nicht gekommen waren, weil in mir nichts gewesen war, was hatte weinen wollen. Tränen hätten nicht die Qual ausdrücken können, die von mir Besitz ergriffen hatte.
Doch jetzt flossen sie nur so aus mir heraus. Schluchzer stiegen in meiner Kehle auf, die mich schüttelten, mich gegen Rose drückten, die auch noch ihren anderen Arm um mich legte und mich festhielt, mich am Zerfallen hinderte. Und Rose blieb dabei noch immer stumm, ließ mich all den Schmerz weinen, meine Tränen loswerden, bis nur noch ein Zittern übrig blieb und ich meinen Kopf an ihrer Schulter vergrub. Sie streichelte mir über den Rücken, beruhigte mich und hielt die leere Hülle, die einst Lucy gewesen war, ganz fest.
Als ich nur noch ganz leicht zitterte und mein Atem normal zu werden begann, stand sie auf und zog mich mit hoch. »Also, Lucy, du bist stark und schaffst es jetzt auch, dich richtig zu duschen. Ich habe dir ein paar neue Sachen ins Bad gelegt, die du anziehst, sobald du fertig bist. Ich warte draußen in deinem Wohnzimmer, wohin ich dir wunderbares Essen gebracht habe. Und wenn du in spätestens fünfzehn Minuten nicht kommst, weil du wieder in dein trostloses Loch fällst, dann kannst du was erleben, wogegen die Kämpfe mit den Nächtlichen Geschöpfen nichts waren.« Sie stieg aus der Dusche und versuchte dabei, nicht alles vollzutropfen. Vor der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Na gut, sagen wir: zwanzig Minuten. Die wirst du bei deinen langen Haaren sicherlich brauchen. Ach ja, und vergiss nicht, deine nassen Sachen auszuziehen.« Mit einem kleinen Hüpfer verschwand sie aus dem Badezimmer, und die Tür fiel mit einem Klicken ins Schloss.