Quer über die Hängebrücke

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INHALTSVERZEICHNIS





IMPRESSUM







VORREDE







I. IN DIE TIEFE TAUCHEN







Vorübergehende Lebensphasen 5







Konstellation 9







Salziger Balaton, süße Tränen 11







Blutiger Ernst 13







Wenn die Volljährigkeit relativ ist 16







Ich habe per Zufall geheiratet 20







Familiäre Drehbühne 23







Von der Fledermaus bis zum tollwütigen Fuchs 28







Mehrmals hochgeworfener Stein 31







II. AUSBLICKE







Weiße Nacht 36







Mosaik-Effekte 39







Zinnsoldaten und echte Soldaten 42







Ein Krake namens Filatelia-Prozess 46







Das Krankenhaus von innen und darüber hinaus 49







Die Macht, Nein sagen zu können 53







Der Preis des Sonnenscheins 56







Asche und Staub über den Wolken 61







Aus der Perspektive des Anwalts 63







II. EIN VATER IM ZEICHEN DER WAAGE







Meilensteine auf dem Weg des Überlebens 66







Schatten 70







Glockenturm in unserem Garten 72







Heiße Sommerzeiten, kalte Köpfe 76







Stellungen, Sitzungen, Lagen 79







Losungswort: Erdbeermarmelade 81







Zweites Diplom, soundsovieltes Geheimnis 84







Riesiger Mond, schwindende Sterne 87







IV. ÜBERSCHRITTENE GRENZEN







Lagunenspiel 90







Maximale Veränderung 93







Zeitalter der Interviews 96







Patentochter ohne Zeremonie 99







Asperger … meinst Du wirklich? 102







Seefahrt ist notwendig (Navigare necesse est) 104







Herzen in Finnland 106







Der Magnetmann 109







Das Recht des letzten Wortes 113







IMPRESSUM



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:



Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.



Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.



Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.



© 2022 novum publishing



ISBN Printausgabe: 978-3-99131-029-7



ISBN e-book: 978-3-99131-030-3



Lektorat: Julia Heiner, Cornelia Rühlig



Umschlagfoto: Judit Cornidesz Kiss



Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh



Übersetzung aus dem Ungarischen: Klara Strompf





www.novumverlag.com







VORREDE



Kurz vor der deutschen Okkupation von Budapest wurde ich geboren. Etwa um die Jahrtausendwende hätte ich die Gelegenheit gehabt, meine Heimat in einem anderen Kontinent zu finden. Nach den politischen Schocks während meiner Kindheit hörte sich das zuerst wie eine schöne Entschädigung an … Nach dem spektakulären Feuerwerk in Sydney habe ich aber zu dieser Chance schließlich doch „nein“ gesagt. Ich habe mein Leben nach der Wende lieber in Ungarn fortgesetzt – auch wenn es hier gar nicht so leicht war, wirkliche Zufriedenheit und Harmonie zu erreichen. Inzwischen habe ich aber sehr wohl gelernt, dass unsere Lebensqualität viel mehr von unserer eigenen Persönlichkeit abhängt als von den äußeren Umständen. Doch ich will hier in diesem Buch nicht philosophieren, sondern von einer Familie erzählen, die doch recht ungewöhnlich lebte.



Wenn Du Dich schon einmal darüber geärgert hast, dass es in der Schule kein Fach namens Überlebenskünste gibt, dann solltest Du dieses Buch lesen. Und dabei zeigt es dir z. B. auch, wie man das Asperger-Syndrom oder ein allgemein überempfindliches Nervensystem unter Kontrolle halten kann. Lese das Buch bis zum Ende, selbst wenn andere Menschen Dich deswegen als Sonderling abstempeln! Manchmal ist es doch ermutigend, wie Nachteile sogar zu Vorteilen werden können. Diese Geschichte ist auch für Leser geschrieben worden, die keine Geduld haben, einen ausführlichen Familienroman zu lesen. Ich habe eher das Gefühl, dass ich in einer Art Dunkelkammer stehe und auf straff gespannte Schnürchen einzelne Bilder klammere –, Bilder, die für mich wichtig sind.





I. IN DIE TIEFE TAUCHEN



Vorübergehende Lebensphasen



Aus der Klinik am Bakáts-Platz wurde ich in ein Gebäude nach Hause gebracht, das am Anfang meines Lebens, d. h. im Jahre 1943, noch immer eine historische Atmosphäre ausstrahlte. In unserer unmittelbaren Nachbarschaft lebte der Schriftsteller Aladár Schöpflin und seine Familie. Laut der Erzählungen war auch der Dichter Endre Ady als der Taufpate von ihm öfters dort. Mein Vater scherzte 1949 mit großer Freude darüber, dass doch eigentlich unsere Etage (dank Onkel Ali) auch ein Kossuth-Preisträger wurde.



In der Mansardenwohnung und im Atelier malte Rózsa Molnár ihre Bilder, später zog dann noch István Biai Föglein bei ihr ein. Als kleines Mädchen habe ich die beiden öfters besucht. Hier lernte ich zum Beispiel, dass das Streiflicht gar nichts mit der Wohnungsreinigung zu tun hat. Täglich sah ich damals, wie seine Frau frische Blumenstrauße aus der benachbarten Markthalle für die Stilleben-Bilder holte. Unser dritter Malerkünstler im Hause war László Bencze, er war modern und gestaltete mein Leben als junge Erwachsene bunt und lebendig, so oft ich in sein Atelier eintreten durfte.



Das Leben in diesem imposanten Haus war nicht ruhig. Es gab unzählige Gästeeinladungen, sie kamen aus dem naheliegenden Károlyi-Palast und aus dem, hinter dem Museumsgarten liegenden eleganten Viertel. Ein illustrer Gast wurde immer nur „der Kärrner“ genannt, da er öfters so betrunken war, dass er nachts um 3 Uhr mit einem diskreten Transport, d. h. mit der Schubkarre nach Hause gebracht werden musste.



Im Jahre 1944 aber hat sich alles verfinstert, doch die Auswirkungen konnte ich als kleines Kind nur indirekt spüren. Mein Vater hatte meine Geburt bei meiner Mutter für die ersten zwei Jahre nach ihrer Heirat „bestellt“. Ich habe dann so gut wie zwei Väter bekommen, da mein Onkel Jenő und seine Frau Kató mit uns zusammenwohnten. Kató war selten zu Hause, sie war Schauspielerin und verschwand oft wegen ihrer Dreharbeiten. In der kriegsbedingten Stimmung kam sie einmal von ihrer letzten Theatervorführung so aufgewühlt und hektisch nach Hause, dass sie sogar noch ihre Theaterschminke, und auch auch die falschen Juwelen aus Pappmaché an hatte. Dédi, meine Urgroßmutter kommentierte dies sofort: „Ich habe es gar nicht gewusst, dass Jenci’s Frau so reich ist!“



Mein Vater wurde damals zum zivilen Luftschutzoffizier ernannt. Dadurch war er immer gut informiert und konnte vielen Menschen helfen. Er wurde immer nur mit „lieber Lajos“ angesprochen. Meine Oma arbeitete weiterhin fleißig in der Küche, aber nun ganz anders als früher: Sie träufelte kein edles Öl mehr in die Mayonnaise, sondern schmeckte jetzt nur noch einen einfachen Karottenkuchen ab. In diesen Tagen besorgte Jenő ein großes Brot, obwohl es ja eigentlich unmöglich war an einen solchen Schatz heranzukommen. Meine Mutter Valika hat die Geschichte dazu von ihm so gehört: „Ich habe einen Russen getroffen. Er hat sein Gewehr auf mich gerichtet und forderte mich auf: „Stoj!“. Anstatt stehenzubleiben, antwortete ich ihm freundlich, dass ich „stoje“. Ich ging in seine Richtung mit ausgestreckten Händen. Von ihm habe ich – oder besser: haben wir – dieses Brot bekommen.“

 



Jahre später bekamen wir eine niederschmetternde Nachricht aus Russland. Teréz, die jüngere Schwester meiner Mama ist während des „malenkij Robots“ gestorben. Sie kam irrtümlich in eine Gruppe, die verschleppt wurde. Aus ihrem Dorf, das hauptsächlich von Ungarndeutschen bewohnt war, waren viele junge Menschen mit deutschähnlichen Namen betroffen. Viele Geschwister von ihr wurden aus der Familie Bámer gnadenlos deportiert. Jancsi konnte schließlich aus dem russischen Bergwerk zurückkehren; zusammen mit ihm kam seine russische Ehefrau, die dort als Lorenschlepperin gearbeitet hatte. Nach diesen Schreckenszeiten war den Beiden nur ein kurzes gemeinsames Leben zu Hause in Ungarn vergönnt.



Ferenc hatte etwas mehr Glück. Ihn konnten wir nach der Kriegsgefangenschaft in Sewastopol in einem etwas besseren Zustand wiedersehen. Angeblich habe ich meine Eltern zu jener Zeit gefragt, was denn eigentlich an den Russen so schlimm sei. „Das wissen wir auch noch nicht genau,“ antwortete mein Vater sehr knapp. „Wir hoffen aber, dass Dir zukünftig nur die russische Musik und Literatur zuteil wird.“



Während Kató beim Abendessen ihre Paprikakartoffeln löffelte, teilte sie nebenbei mit, dass sie das Land verlassen werde. Niemand war damals überrascht. Da fallen mir gerade die Pointen ein, die ich über ihre Hochzeitsreise hörte. Im Jahre 1942 nahm Kató zwei Koffer voller Kleider und einen bildhübschen Hut zum Balaton mit. Sie träumte über Segelbootfahren und von Cocktailpartys. Ihr frisch gebackener Ehemann packte den Rucksack und das Angelgerät mit ein. Frühmorgens, an ihrem ersten gemeinsamen Tag, wachte Kató ganz allein auf. Die Begründung war sehr einfach: „Die Fische haben angebissen, mein Herzchen.“



Zuerst war es Kató, die ihren Ehering ablegte, damit sie in der Sonne angeblich keinen weißen Streifen auf ihrem Finger bekam. Später folgte Jenő ihrem Beispiel, da der Ring ihn beim Basteln wohl störte. Diese Kurzehe verging damit wie das Leben einer Eintagsfliege. Ihren Lieblingshund Flört (was „Flirt“ bedeutet) habe ich damals geerbt. Kató wurde dann von einem Schlepper über die Grenze gebracht. Sie wurde in Wien von einem Apotheker ungarischer Abstammung erwartet – und zwar mit Bananen, die sie später als großes Wunder in einem ihrer Briefe erwähnte. Wir hatten damals noch nicht einmal Orangen in Ungarn. Und als sie dann auf dem Schiff Richtung Australien unterwegs war, schickte sie mir Abziehbilder mit Segelbootfiguren. Dann verschwanden beide aus unserem Blickfeld für eine längere Zeit, aber nicht endgültig.



In den Jahren meiner Schulzeit gab es durchaus auch einige dunkle Phasen: Hausdurchsuchungen bei uns, oder auch Besuchs- und Sprechzeiten im Gefängnis … Die wirtschaftlichen Gerichtsverfahren der Gebrüder Kiss, das eine vor 1956, das andere kurz danach, sind in meiner Erinnerung dunkle Flecken. Aber nicht im Leben meiner Eltern! Sie belastete das Schicksal von Lajos und Valika schwer. Wir mussten uns mehrere Jahre ohne meinen Vater und seinen älteren Bruder Jenő im Haus in der Királyi-Pál-Straße durchkämpfen.



Konstellation



Am Abend, bevor ich auf die Welt kam, spielten sie bei uns zu Hause Karten. Erst mit meiner Ankuft wurden wir zu einer vierköpfigen Familie. Dédi, meine Uroma wohnte bei uns. Die meiste Zeit lag sie im Bett, und tagsüber musste immer jemand nach ihr schauen – mal meine elegante Großmutter, mal meine Eltern oder Jenő, manchmal auch Kató, wenn sie gerade ihre Theaterrolle zu Hause einstudierte. Dédi freute sich über den so geduldigen und zartfühlenden Lajos immer am meisten…



Die Wandpendule schlug gerade Mitternacht, als Mama eine runtergefallene Karte aufheben wollte. „Ist Dein Sodawasser umgekippt, Valika?“ – fragte einer ihrer Rommé-Partner, als er in diesem Augenblick gerade auf dem Teppich ein Wassertümpel erblickte. „Ach, das wird schon das Fruchtwasser sein“ – sagte meine Mutter lakonisch. Doch dann kam eine ziemlich heftige Reaktion von einem Familienmitglied: „Aber bitte, Du willst nicht gerade jetzt entbinden, wo ich so gute Karten habe!“



Das hat ihr aber nicht viel geholfen. Mein gestresster Vater griff schon gleich zu der bereits gepackten Sporttasche und schon ging es zu ihrem Arzt ins Krankenhaus.



Meine Eltern heirateten aus Liebe, aber mit reiflichen Überlegungen. Im Zeitalter der damals trendigen Eheverträge haben sie ohne Anwalt einfach etwas aufgeschrieben, ein paar Zeilen. Die Erwartungen von Lajos habe ich auf dem handgeschriebenen Zettel selbst gelesen: ein kleines Kopfkissen, ein eigenhändig verfertigter, handgeknüpfter Teppich vor dem Bett und ein Kind innerhalb der ersten zwei Jahre. Der Teppich soll Tappancs heißen, der Name des Kindes würde sich schon zeigen.



Die Vorbedingungen von Valika kennte ich nicht. Es gab bestimmt nicht zu viel. Ihre Schönheit katapultierte sie aus der ungarischen Tiefebene in die Pester Mittelklasse. In der hauptsächlich von Ungarndeutschen bewohnten Siedlung haben ihr so viele Geschwister Glück gewünscht, dass es fast für eine ganze Bergmannsbrigade genug gewesen wäre. Wenn ich an den Lauf ihrer Familiengeschichte denke, finde ich diesen Vergleich recht treffend, da ja während des „malenkij Robots“ auch ihr jüngerer Bruder Jancsi in einem russischen Bergwerk arbeitete.



Die Geburtswehen haben dann tatsächlich Glück gebracht: Frühmorgens um fünf Uhr fünfundfünfzig Minuten endeten sie mit dem Geburt eines Mädchen. Der Mond stand noch am Himmel und auch die Sonne konnte man sogar schon sehen. Davon konnte ich mich als 22-jährige junge Frau auf einer astrologischen Darstellung überzeugen, die ich als Geschenk bekam. Laut der Experten wird mein Schicksal durch den Mars überschattet und es gibt viele sogenannte leere Häuser. Es kam zudem noch ein trostreicher Kommentar von dem Verfasser: die Unvollständigkeit ist unwichtig, wenn die Seele nicht erdgebunden ist.



Der gewissenhafte geburtshelfende Arzt und meine Patentante mit ihrem schönen Lächeln bildeten damals ein glückliches Paar. Der Erstbenannte blieb später im Krieg verschollen, die Letztere aber hat mich viele Male mit der Liebe der kinderlosen Frauen beschenkt.



Eigentlich hatte man nicht mich, sondern einen Sohn erwartet. Der Name Peter war schon entschieden. Die Wahl war nicht zufällig, da das Wort „Fels“ oder auch „Stein“ bedeutet. Kann es möglich sein, dass die Erwartungen uns gegenüber schon im Embryonenalter anfangen? Im Haus um die Ecke der Királyi-Pál-Straße und Bástya-Straße, einige Meter von den Ziegelsteinen der einst schützenden Stadtmauer entfernt, ist damals ein Kieselsteinmädchen eingetroffen.



Salziger Balaton, süße Tränen



Meine Kindheit verbrachte ich in einer Zeit, in der bei uns im Grunde alles auf dem Kopf stand. Ich hatte kein eigenes Zimmer. Die Witwe des Hausbesitzers und Lajos hatten Angst wegen einer eventuellen Zwangsaussiedlung und zauberten aus der Sechs-Zimmer-Mietwohnung drei kleinere Einlieger-wohnungen. Alles in kurzer Zeit und aus lauter Baumaterialen, die man leicht vom Abriss oder aus Haustrümmern besorgen konnte. Für mich gab es einige Lieblingsecken in der Wohnung. Oben an der Flügeltür wurde eine Schaukel aufgehängt, auf der ich hin und her geschaukelt wurde. Später kletterte ich oft auf die dreieckige niedrige Überdachung unseres Kachelofens; er war aus bildschönen grünen Keramiken gebaut und wurde mit echten Holzscheiten gefüttert. Aus dem Wohnungsteil von Onkel Jenő konnte man gut auf die Straße hinuntergucken, weil er einen Balkon hatte.



Anstatt Kindergeburtstage zu feiern, mussten Lajos und Valika mit mir aber ständig ins Krankenhaus gehen. Sie haben sich dabei immer bemüht, ihr lächelndes Gesicht zu bewahren. Nach der Mandel-OP konnten wir im Krankensaal z. B. prima Eis essen, weil Vanille- und Schokokugeln, die zur Verfügung standen, die Wunde perfekt kühlen konnten. Einen unvergesslichen Anblick habe ich dann in der Augenklinik geboten. Die Diagnose lautete: Verstopfung des Tränenkanals. Nach dem Ärztebesuch durfte ich nicht mehr nach Hause gehen. Das heulende Kind mit dem lilafarbenen Kopf und eine Mama mit dem Madonna-Gesicht mussten ziemlich schnell bis zur Tür eines freien Behandlungsraums durchkommen. In der Verwandtschaft hieß es später nur, dass das Kind süße Tränen weinte.



Reichlich flossen die Tränen, als Valika und Lajos für eine ganze Woche zu zweit an die Adria fahren wollten. Die Spielkameraden haben mich überhaupt nicht interessiert, ich wollte nur die Beiden um mich haben. Kató hat mich inzwischen mit ihrem Spaniel zurückgelassen. Ich tröstete mich mit der Gesellschaft von Jenő, der von Kató ebenfalls zurückgelassen wurde. Ich habe mir einen Zoo aus Pappmaché aufgebaut, daneben lag ein flaches Gefäß, das als See fungieren sollte. Flört, der Hund, benutzte es aber auch als Trinknapf. Als ich schon erwachsen war, habe ich öfters über den Ursprung seines Namens nachgedacht. Da kam mir plötzlich ein Bild von Kató in Erinnerung, wie sie mit Flört auf dem Corso spazieren ging, wie sich die Hundeleine plötzlich mit der Leine eines fremden Hundes verknotete und dessen Herrchen sie laut begrüßte. Solche „Küss’die Hand!“-Bekanntschaften wurden dank Flört immer häufiger.



Meine Eltern haben Abbazia aber damals gar nicht erreicht. Ihre Papiere und Reisepässe wurden schon bei Székesfehérvár kontrolliert und weggenommen. Später bekamen sie alles mit der Begründung zurück, dass eine Person namens Lajos Kiss wegen illegaler Schweineschlachtung gesucht wurde. Dieser Name kommt ja wohl öfters vor … Da kann man das schon verstehen, nicht wahr?



Danach kehrten sie aber nicht nach Budapest zurück. In Siófok stiegen sie aus dem Zug aus, und mein Vater mietete ein Zimmer am Seeufer für drei Tage. In einem Krämerladen namens „Hangya“ kaufte er einen großen Sack voll Salz, und wie der Balaton unter ihren Füßen immer tiefer wurde, streute er das Salz vor die Füße seiner Frau, um bei ihr die Illusion eines richtigen Meeres zu erzeugen.



Früher als geplant kamen sie nach Hause und sahen, dass meine Oma mich gerade auf dem Schoß hatte und zu mir sagte: „Genosse Rákosi ist unser Vater.“ Diese beschützende Suggestion hat später leider keine Früchte getragen. Ich habe meine Oma ohne Nachzudenken aufgeklärt, dass ich doch schon zwei Väter habe und die Beiden einfach die Besten für mich sind.



Blutiger Ernst



Ich brauchte als Teenie-Mädchen keine Aufsicht der Erwachsenen, ich schrieb meine Hausaufgaben immer allein. Ich habe die Hefte in meine Schultasche gelegt, und vor dem Schlafengehen wollte ich noch schnell ein Glas Wasser aus der Küche holen. Dabei kam ich nicht aber weit; das Wasser habe ich dann lieber aus dem Badezimmer geholt. Ich habe meine Mutter in der Küche gesehen, die sich sehr konzentriert über den Tisch beugte. Sie hat einen Pyjama-Oberteil geglättet, aber ich sah nirgendwo ein Bügeleisen. Die Farbe des Pyjamas war braun und gehörte Jenő. Papa trug einen ähnlichen blauen aus Flanell. Auf einmal streckte Mama ihre Hand nach hinten. Und jetzt sah ich ein Hühnchen in voller Federpracht, aber mit durchgeschnittener Kehle. Sie hat das Blut des Huhnes sorgfältig auf die Vorderseite des Pyjamas geträufelt und das Ergebnis dann nachdenklich betrachtet. Die Szenerie schien mir absurd. Sie, die in Jenős Zimmer immer beispielhafte Ordnung hielt, ihm täglich sechs frisch gebügelte Taschentücher auf seinen Tisch legte, seine Medikamente immer sorgfältig portionierte und sogar zwei Fieberthermometer benutzte! Und jetzt machte sie den Pyjama mit diesem unappetitlich aussehenden Vieh absichtlich blutig!



Sie blickte hoch und bemerkte mich. „Geh’ bitte schlafen“, sagte sie, „wir reden morgen.“ Am nächsten Morgen war das Zimmer von Jenő leer und sein Bett unberührt. So ist es zwei Jahre lang geblieben. Er hat sein Bett für eine Pritsche im Gefängnis eingetauscht. Damals war uns noch nicht bewusst, dass dies nur seine erste Pritsche sein würde.



Jenő musste die Zeit seines Freiheitsentzugs ab dem nächsten Morgen in einem Budapester Gefängnis beginnen. Er hatte eine Strafe für illegale Briefmarkenverkäufe, für den Handel mit Silber und für den Besitz von Fremdwährungen bekommen. Und es lief ähnlich mit dem parallelen Gerichtsverfahren von Lajos. Jenő hat mehr auf sich genommen, weil Lajos Familie hatte. Doch, der zuletzt Erwähnte hat das Gleiche getan, weil die Gesundheit des älteren Bruders ziemlich angegriffen war. Damals war der initiale Lungenspitzenkatarrh ziemlich verbreitet.

 



Unser glatzköpfiger Anwalt hat sich seine nichtexistierenden Haare damals bestimmt einzeln ausgerissen, als sich herausstellte, dass mein Vater das Honorar mit einem großen Betrag für die beiden Brüder bezahlt hatte. In der Empfangsbescheinigung fand man den Betrag viel höher als gewöhnlich. Schon stand die Klage wegen Bestechung bereit…



Für das Intermezzo mit dem Hühnchenblut in der Küche gab es eine besondere Erklärung. Meiner Mutter gelang es ihren, mit einem Pyjama bekleideten Schwager noch vor Mitternacht in das Gefängniskrankenhaus einzuschleusen. Diese Tür öffnete sich auch nach innen schwer, aber das blutverschmierte Oberteil, die späte Stunde und dazu gute Beziehungen haben geholfen.



Jenő erzählte dem Doktor die Wahrheit unter vier Augen. Seitdem er das Schweizer Medikament nahm, hatte er kein Blut mehr auf seinen Taschentüchern. Jetzt wollte er eine kurze Zeit in der Nähe des Doktors verbringen. Er hatte das Gefühl, dass er in der anderen Anstalt bald sterben würde, aber man erwartete ihn doch zu Hause! Er hatte eine so liebevolle Familie. Auch so, im kranken Zustand, würde er sich hier gerne nützlich machen und etwas geistige Arbeit leisten; er konnte gut Deutsch und Englisch.



Die Wörter „eine kurze Zeit“ wurden dabei immer extra betont. Man hat den Antrag abgenickt und am nächsten Tag übersetzte er schon aus den verschiedenen Fachzeitungen, die auf dem Korridor ausgelegt waren. Und kaum hatte man ihn zu den Büchern gelassen, da ordnete er auch schon die private Sammlung des Doktors. Zuerst waren alle verwundert, dass der neue Patient sich auch noch mit Latein auskannte. Doch dann wurde bekannt, dass er studiert hatte, aber sein Studium wegen der Wirtschaftskrise von 1929 abbrechen musste. Wenn das nicht gewesen wäre, dann wäre er Chemiker und Forscher geworden und nicht ein Mensch, der seine Briefmarkensammlung verkauft und dadurch ein Ärgernis im Auge der Behörde wird. Es vergingen Monate, und aus der echten, aber zu Unrecht erlittenen Strafe ist immer weniger und weniger geblieben.



„Womit könnten wir Ihnen eine kleine Freude machen?” fragte man ihn. Er wünschte sich Blumenerde für zwei Töpfe und ein paar Paprikasetzlinge. Die Paprikas wurden reif, aber der paradiesische Zustand nahm langsam dann doch ein Ende. Das war trotzdem eine gute Nachricht, da seine Gesundheit sich inzwischen spektakulär verbessert hatte. Dort war er zu einer regelmäßigen und strengen Lebensführung gezwungen; das tat ihm gut. Inzwischen aber war es unvermeidlich geworden, dass man ihn in den kalten Knast zurückversetzte.



Wenn die Volljährigkeit relativ ist



Die schönste aller Budapester Briefmarkenhandlungen lag im Erdgeschoss eines altehrwürdigen Gebäudes im oberen Abschnitt der Váci Straße. Der Inhaber, ein alter Freund meines Vaters, spazierte von dort zu dem Blumenverkäufer und bestellte bei ihm 16 rosafarbene Nelken mit großen Blüten, auf langen, kräftigen Stängeln. Auf der Begleitkarte war folgendes zu lesen: „Von Deinem abwesenden Vater zu Deinem 16. Geburtstag.” Das dritte Wort stand für das Gefängnis. Der Bote hat Trinkgeld von mir bekommen, am dritten Tag habe ich die Stängel zurückgeschnitten, und am vierten Tag habe ich Kalmopyrin ins Blumenwasser geworfen, damit die Blumen länger halten. Das hat auch Oma gut gefallen. Sie war damals unser Familienoberhaupt.



In der sehr verwinkelten, dreigeteilten Wohnung lebten wir nicht allein. Die beiden Söhne der Mühlenbesitzer-Familie Krasznai-Vay, die wir in der ungarischen Tiefebene kennengelernt hatten, wohnten auch noch bei uns. Pista spielte Violine im Orchester des Opernhauses, sein Bruder Jancsi war Musikinspizient im Erkel Theater. Nachmittags hörte man oft Musik bei uns. Schöne Mädchen und junge Künstler besuchten unser Heim, das eine großfamiliäre Atmosphäre ausstrahlte. So haben wir auf jeden Fall der Außenwelt gegenüber getan, und manchmal haben wir es auch selbst geglaubt.



Ich wollte mich mit dem Begriff der großgeschriebenen Illusion auch weiterhin vertraut machen. Jancsi führte mich in die faszinierende Welt hinter der Bühne und ich durfte dort sogar den Schnürboden sehen. Bei einer riesigen Drahtrolle fragte er mich, ob ich raten kann, was das sein soll? „Ja klar, ein Zaun.” Er beugte sich nieder, spulte ein paar Zentimeter ab und gleich erschienen winzige Glühbirnen. „Das ist der Sternenhimmel“ sagte er lachend. Es existiert also ein Ort, an dem sich ein Drahtzaun und ein Sternenhimmel nahe sind.



Jancsi war ein geborener Künstler. Doch keiner von uns ahnte damals, wieviele Ausstellungen er noch haben würde. Dort werde ich von Zeit zu Zeit so erscheinen, als Zeugin der Anfänge seiner Karriere. Als Jancsi in der leeren kleinen Werkstatt von Jenő noch Kupferdrähte hämmerte, mir daraus Modeschmuck fabrizierte und aus Lederstücken Federmäppchen für mich bastelte, da hat niemand von uns an so etwas gedacht. In seinen Händen wurde die Künstlerwelt dann in Form von Münzen und Kleinplastiken lebendig. Später habe ich auch Büsten von ihm gesehen. Heute ist er als Bildhauer angesehen und hochgeschätzt.



Das braune Federmäppchen mit meinem winzigen Monogramm kam in den Schulranzen, als ich mich morgens „in die Lehranstalt“ schleppte. So nannte ich das Gymnasium, wo ich mich mit niemandem von meinen Klassenkameraden verbunden fühlte, nur mit meinen Lehrern. Freundeskreise sind entstanden, später auch regelrechte Cliquen. Ich redete immer gerne über interessante Themen, aber immer nur zu zweit, ich mochte keine Kränzchen. Ich ging nicht auf Partys, auch an Schülerstreichen habe ich fast nie teilgenommen; das wurde von mehreren Mitschülern bemerkt. Mir hat niemand gefehlt. Nach dem Unterricht steckte ich meine Uniformmütze, die man von Zeit zu Zeit tragen musste, in die Tasche, und rannte nach Hause, in meine wahre Welt. Ein Jahr nach dem rosafarbigen Blumenstrauß, ab 1960, habe ich schon wie eine Erwachsene gelebt.



Für Jancsi hat sich eine Wohnungsmöglichkeit mit einer potentiellen Ehefrau ergeben. Damit wurde das Wohnabteil von Onkel Jenő wieder frei und ein fremder Untermieter zog ein, der „Emjott“. Dieser Kosename kam aus seiner Initialen „M.J.“. Da er auch Jenő hieß, wollte ich die zweifache Benutzung des gleichen Vornamens vermeiden.



Emjott wohnte mit uns als ein Intellektueller voller Träume. Er lebte von Heimarbeiten und fotografierte und filmte leidenschaftlich. Auf einmal auch mich und dann immer öfter. So kam mit ihm meine erste Liebe direkt zu mir nach Hause.



In seinem Zimmer häuften sich immer mehr Papiere und Zelluloidspulen an. Einmal ging plötzlich bei der Reinigung der Filmstreifen der Kunststoff in Flammen auf, er verbreitete sich aus und so entstand bei uns ein richtiger Wohnungsbrand. Nach den Löscharbeiten gab es ein stilles Schweigen. In gegenseitigem Einvernehmen musste er nun aber ausziehen. Er hat entschieden, wirklich sehr weit weg zu gehen. Von seinen ersparten Forints kaufte er zweihundert Lottoscheine und besorgte sich Valuten. Ohne Reisepass verließ er das Land, ärmer denn je und traurig.



Nach den Strapazen des Abiturs wurde ich damit konfrontiert, dass mein Klassenlehrer die Empfehlung für die Universität für mich nicht unterschrieb. Er war der einzige, den ich von der ganzen Lehrerschaft nicht mochte, aber ich bin mir sicher, dass er das nicht aus Vergeltung tat. Er war einfach ein Überzeugter… „Ach,“ meinte er, „ein distinguiertes Mädchen aus der Innenstadt mit zwei Familienmitgliedern, die im Gefängnis sitzen… Es ist besser, wenn sie in unserem Volksstaat nicht studiert.“



Das hat er nicht nur mit mir so gemacht, sondern auch mit einigen anderen Schulkameraden, die in einer Familie erzogen wurden, wo beide Elternteile Intellektuelle waren. Sie wurden später Studenten von ausländischen Universitäten.



So hat sich für mich der Windrosen-Jahrgang abgeschlossen. Ich lernte zu Hause und verpflichtete mich zu verschiedenen Arbeitsmöglichkeiten. Am Balaton habe ich einem Landvermesser geholfen. Das war fast wie Urlaub, da auch unser Sommerhaus in Balatonakarattya stand. Meine Oma war mit mir zusammen. Sie hat ihre Ohrclips immer aufgesetzt und ihr Spitzenjabot auf ihrem Kleid geglättet, auch wenn wir nur mit dem Hund Gassi gehen wollten. Ja, dies sind die zwei Wörter, die mir einfallen, wenn ich an sie denke: Jabot und Gerbeaud und weniger der schwarze Rosenkranz. In der Staatlichen Münzprägestätte in der Üllői Straße habe ich auch Münzen emailliert. Man hat

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