Buch lesen: «Cardiff am Meer», Seite 5

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Also gut, denkt Clare. Sie hatte ihr Chance, und sie hat sie vermasselt.

Beim Abschied fühlt sich der Handschlag des Anwalts weniger hart an als bei der Begrüßung. Er hat sich für Clare erwärmt, wenigstens ein bisschen; ein paar väterliche Gefühle.

Er erinnert sie daran, dass sie mehr über den Tod ihrer Eltern erfahren kann, wenn sie die Zeitung von Cardiff in der Bibliothek einsieht – »nur die Straße runter«. Er wird auf jeden Fall einen Freund dort anrufen, damit er den entsprechenden Mikrofilm für Clare vorbereitet.

»Sie sollten öffentlich zugänglichen Unterlagen immer den Vorzug vor dem geben, was Ihnen Ihre Mitmenschen erzählen. Vertrauen Sie nur den objektiven Fakten.«

10.

Starben. Nicht mehr am Leben. Sind verstorben. Am 6. Januar 1989.

Clare wappnet sich für das, was in der öffentlichen Bibliothek von Cardiff auf sie wartet.

Es tut ihr so gut, mit welcher Zuvorkommenheit einer der Bibliothekare sie begrüßt. »Sie müssen Miss Seidel sein, richtig? Mr. Fischer hat gerade angerufen.«

»Ja! Vielen Dank.«

Er begleitet Clare in einen kleinen Raum im hinteren Teil des Gebäudes. Dort stellt man ihr eine Mikrofilm-Rolle sowie einen Projektor mit Handkurbel zur Verfügung. Der freundliche Bibliothekar zeigt ihr, wie man die Handkurbel mit Vorsicht bedient. »Bitte vergessen Sie nicht, dass dieser Mikrofilm schon älter ist.« Clare Seidel, die als Kunstgeschichtlerin normalerweise mit noch viel älteren Mikrofilmen hantiert, ist trotzdem dankbar für diese höfliche Behandlung.

Kisten mit Mikrofilmen, die die Ereignisse des Cardiff Journal von 1989 archivieren. Sie fragt sich, ob die Original-Zeitungen noch existieren oder ob man sie einfach hat vermodern und zu Staub zerfallen lassen.

Obwohl sie eigentlich auf der Suche nach Todesanzeigen ist, sticht Clare sofort eine Schlagzeile auf der Titelseite des Cardiff Journal vom 8. Januar 1989 ins Auge:

VERDACHT AUF DREIFACHEN MORD UND

SELBSTMORD

ZWEI ERWACHSENE, ZWEI KINDER IN ASHFORD

COUNTY

FAMILIE ERSCHOSSEN

Clare erstarrt vor Schreck. Überfliegt schnell den Artikel. Hat mein Vater seine Familie und sich selbst getötet?

Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Ihr wird heiß, es hämmert in ihrem Kopf.

Sie kann kaum glauben, was sie da aufspürt. Ein Buchstabenbeben vor ihren Augen. Ein Mann, der den Namen Donegal trägt, ein Mann, der angeblich ihr Vater ist, hat seine Frau, seine Tochter, seinen Sohn erschossen. In ihrem Haus im ländlichen Teil von Ashford County, in einer Straße namens Post Road.

Clare braucht einige Zeit, bis sie dies richtig lesen kann, noch einmal und dann noch einmal. Sie braucht Zeit, um das zu begreifen. Ihre Finger sind taub, sie kann kaum die Kurbel bedienen, blättert weiter, um den Rest des Artikels zu finden, verschwommene Rubriken: Nationales, Internationales, Maine, Lokales … Nach und nach entfaltet sich eine entsetzliche Geschichte vor ihren Augen, doch im Kern bleibt eine einfache – unfassbare – Tatsache: dass am 6. Januar 1989, irgendwann im Laufe des Nachmittags, ein Mann namens Conor Donegal, 34, seine Frau Kathryn, 31, ihre Tochter Emma, 6, und ihren Sohn Laird, 9, in ihrem Haus in der Post Road erschossen hat und dann die Waffe, eine Handfeuerwaffe, gegen sich selbst richtete.

Clare zwingt sich dazu, dies alles langsamer und sorgfältiger zu lesen, noch einmal zu lesen. Wischt ihre Augen, um einen klaren Blick zu bekommen. Was fehlt? Wer fehlt?

Es dauert, aber dann merkt sie es. Mein Vater hat seine Familie und sich selbst getötet? Aber mich nicht?

Die Tatsache, dass sie am Leben ist, zeigt, dass sie verschont wurde. Dieses fürchterliche Blutbad, die Frau, zwei Kinder, der blutdürstige Ehemann – alle niedergestreckt, doch das jüngste Kind, ein Mädchen, zwei Jahre, neun Monate, wurde (wie durch ein Wunder) verschont.

Verschont. Aber warum?

Schließlich erfährt Clare, dass Clare Ellen Donegal, das jüngste der Donegal Kinder, unversehrt aufgefunden wurde, und zwar nicht von den Polizeibeamten, die das Haus durchsucht hatten, sondern von Verwandten der Toten, die nach Abholung der Leichen ins Haus gekommen waren, um nach dem vermissten Kind zu suchen.

(»Unversehrt« – nur stark dehydriert, traumatisiert. Das kleine Mädchen war in einen schmalen Spalt unter das Spülbecken in der Küche gekrochen, vermutlich, um vor den Schüssen Schutz zu suchen.)

Clare blättert weiter, um im Cardiff Journal weitere Artikel über den dreifachen Mord und Selbstmord von Donegal zu finden. Schnellvorlauf durch einen Blizzard von Schlagzeilen, Nachrichten, Fotos – internationale Krisen, Kriegsschauplätze in Nahost, schwere Schneefälle an der Atlantikküste, politische Sackgasse im Kongress … Wie trivial, die Ereignisse in der großen weiten Welt! Denn was zählt schon außerhalb des eigenen Ichs, wenn dieses Ich krank ist, attackiert wird? Schließlich setzt Clare alle Einzelheiten in einem Zeitstrahl für den 6. Januar 1989 zusammen.

Am späten Nachmittag, dem vermutlichen Zeitpunkt des Massakers, hörten Nachbarn der Familie Donegal in der Post Road Schüsse vom Nebengrundstück, dachten aber, dies seien die Schüsse von Jägern, die regelmäßig in den ländlichen Gebieten von Ashford County unterwegs sind. Als die Familie am folgenden Tag nicht zu einem Treffen im Haus der älteren Donegals in Cardiff erschien und auch Telefonanrufe unbeantwortet blieben, fuhr Gerard Donegal, Conors jüngerer Bruder raus, um nachzuschauen und fand die Leichname. Gerard rief die Polizei, die augenblicklich erschien. Im Chaos dieses mörderischen Verbrechens, dessen Spuren in vielen Zimmern des unteren Stockwerks zu finden waren, versäumten die Polizeibeamten es, die vermisste Zweijährige ausfindig zu machen, die sich in der Küche unterhalb des Spülbeckens in einem engen Spalt verborgen hatte, um der Schießerei zu entgehen, weniger als zwei Meter von den Leichnamen ihrer Mutter und ihrer Geschwister entfernt.

Erst viel später, als die Leichname aus dem Haus heraus und in die Leichenhalle gebracht worden waren, war es den anderen Familienmitgliedern gestattet, nach der vermissten Clare Ellen zu suchen. Selbst zu diesem Zeitpunkt hielt sich das Kind weiterhin versteckt, zu schwach oder zu traumatisiert, um die Rufe der Angehörigen zu beantworten; kurz bevor die Suche aufgegeben wurde, hörte man das Kind wimmern »wie ein verletztes Tier« und sie fanden es eingerollt unter dem Spülbecken, hinter einem Mülleimer, in einem Spalt, wo »normalerweise noch nicht einmal eine Katze Platz gefunden hätte«.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Clare Ellen ungefähr achtzehn Stunden versteckt gehalten.

Halb ohnmächtig, stark dehydriert, in einem besorgniserregenden Schock- und Erschöpfungszustand, wurde die Zweijährige mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus von Cardiff gebracht, wo sie sich zur Zeit dieses Zeitungsberichts noch in kritischem Zustand befand …

Aber ist das – bin ich das? Wie kann ich das gewesen sein? Ich kann mich an nichts davon erinnern.

Fassungslos, gefangen, kann Clare nicht aufhören zu lesen. Blättert durch alle Zeitungsrubriken. Gab es einen Abschiedsbrief? (Ja, es scheint einen gegeben zu haben: der Inhalt wurde von der Polizei allerdings unter Verschluss gehalten.) Wurde irgendein Grund für die Bluttat mitgeteilt? (Ja, es scheint einen Grund gegeben zu haben: aber auch diese Information war den Medien nicht zugänglich.) Beim Lesen dieses fürchterlichen und viele schrecklichen Nebensächlichkeiten aufzählenden Berichts, der in Schleifen immer wieder zu den grausamen Fakten zurückkehrt, fühlt sich Clare wie auf einer teuflischen Achterbahnfahrt, erdrückt von Verzweiflung scheint sie geradezu in sich zusammenzufallen. Was für ein Schock! Warum hat niemand sie gewarnt! Lucius Fischer hatte offensichtlich gewusst, dass ihr Vater die Familie ausgelöscht hatte, war aber zu feige gewesen, es ihr zu sagen.

In einer Trance des Schreckens betrachtet sie eingehend die Fotos ihrer Eltern, die das Cardiff Journal mehrmals abgedruckt hatte.

Conor Donegal. Kathryn Donegal. So jung! Clares Alter.

Beide sind sehr attraktiv, lächeln in die Kamera. Conor blinzelt beim Lächeln, in seiner linken Wange ein Grübchen, wie ein Augenzwinkern. Ein jungenhaftes Gesicht, selbstbewusst, ein schelmisches Glitzern in den Augen. Welliges dunkles, dichtes Haar, aus dem Gesicht gekämmt, spitzer Haaransatz. (Clare stiert erstaunt auf das Bild: auch sie hat diesen spitzen Haaransatz, wenn auch nicht genau in der Mitte der Stirn und nicht so hervorstechend wie bei Conor Donegal.) Kathryn ist nicht so demonstrativ hübsch, ihr Lächeln zurückhaltender. Ein beliebtes Mädchen aus der Highschool, möchte man meinen. Die Art von Mädchen, die Clare aus der Distanz betrachtet hätte, fasziniert von ihrer Gelassenheit und Eigenständigkeit.

(Clare fühlt sich im Namen ihrer Mutter erbost. Warum in aller Welt hatten die Großtanten Kathryn als ›so gewöhnlich‹ bezeichnet?)

Zumindest weiß Clare jetzt, wie sie aussehen. Mein Vater, meine Mutter.

Sie ist erleichtert, dass es kein Foto von ihren Geschwistern in der Zeitung gibt. Emma, Laird – nur Namen. Erschütternd. Denn Clare hat keinerlei Erinnerung an diese Kinder.

Keine Erinnerung an niemanden: die verlorene Familie.

Und in dieser Ausgabe des Cardiff Journal vom 10. Januar 1989, wird ganz beiläufig berichtet, dass die »Retter« der zunächst vermissten Clare Ellen Donegal ›Elspeth und Morag Lacey‹ hießen, die Tanten des verstorbenen Conor Donegal.

Clare liest diesen knappen, prägnanten Absatz mehrere Male.

Also verdanke ich ihnen mein Leben? – den Großtanten?

Sie wischt ihre Augen, schaudert.

Erinnert sich an den Morgen im Bett mit der Rosshaarmatratze, als sie das Gespräch ihrer Großtanten unten an der Treppe mitanhörte, wie Geister in einem Traum. Verwundert, hämisch – Oh, sie erinnert sich nicht! Nicht einmal an uns – die wir sie doch gefunden haben.

II.

11.

Im gleißenden Licht der Sonne ist sie vom Weg abgekommen. Hat ihr Gleichgewicht verloren. Und dann findet sie sich auf dem Boden wieder. Schwere in allen Gliedern, ein stechender Schmerz an ihrer Schläfe.

Jemand beugt sich über sie, besorgt. »Miss? Sind Sie okay? Kann ich …«

Frische Luft erweckt sie zum Leben. Frische Luft ist das Einzige, was ihr fiebriges Gesicht verlangt.

»… Ihnen helfen? Einen Krankenwagen rufen?«

Nicht in der Lage zu antworten. Das Tosen in ihrem Kopf ist zurück, ohrenbetäubend.

Neunzig Minuten sind vergangen, seit Clare in der Bibliothek ankam. Neunzig Minuten (erinnert sie sich verblüfft) seit sie die Steinstufen hinaufgesprungen ist, begierig, das Schlimmste zu erfahren.

Erschöpft. Die Handkurbel drehen, auf den Mikrofilm starren. Schmerzen im Nacken, Schultern. Fühlt sich, als ob sie an den Haaren durch eine Gerölllandschaft gezogen worden wäre.

Unter ihren Füßen gleitet der Beton weg. Sie fällt wie ein Stein. Ein Gehweg, an der Seite wächst Gras. Geruch von feuchter Erde. Ein Fremder beugt sich über sie, zögert, sie anzufassen, ihr hochzuhelfen.

So schwer! Clare wiegt nur fünfzig Kilogramm, aber ihre Knie, ihre Beine haben keine Kraft, um sie aufrecht zu halten.

Dann setzt sie jemand hin, ein niedriger Vorsprung, sie versucht zu atmen. Ein Stahlband ist um ihre Brust gespannt.

Jemand spricht mit ihr, ein Fremder. Er ist besorgt um sie, fragt, ob er jemandem Bescheid sagen kann, aber Clare insistiert, nein – niemandem …

»Nein! Wirklich nicht, mir geht’s gut. Wirklich gut.«

»Sind Sie sicher, dass ich nicht den Krankenwagen rufen soll? Sie sehen sehr bleich aus …«

»Danke, aber nein! Nein.«

Clare schaut ihn nicht an. Wer immer es auch ist. Eine kluge Strategie: einem Fremden nicht in die Augen sehen, wenn man angreifbar ist, verwirrt. Ein Fremder würde dann merken, in welch großer Not man ist.

Nein, nein! – das Letzte, was Clare möchte, ist die Notaufnahme, in der Stadt, wo sie niemanden kennt. Ins Krankenhaus eingeliefert gegen ihren Willen – ein Albtraum. In dem wirren Augenblick eben hätte sie nicht einmal das Wort ›Cardiff‹ herausgebracht. Hätte nicht erklären können, woher sie kommt und wohin sie geht.

Kurz danach hat sie sich schon wieder erholt von der Ohnmacht. Sie zwingt sich, wieder aufzustehen. Geht weiter, festen Schrittes, damit der Fremde nicht weiterbohrt.

Aber warum gehst du weiter? Ist dies nicht der Kreuzungspunkt mit einer anderen Person? Ein anderes Leben, in dessen Netz du hineingestolpert bist.

Aber nein, keine Zeit. Muss weiter.

Schließlich findet sie ihr Auto, einen kompakten Sedan metallic-grau, sieht verbeulter aus, als sie es in Erinnerung hat. Und dann starrt sie auf das Nummernschild, als ob sie es noch nie gesehen hätte. Hat jemand die Zahlen geändert? Oder – ist dies vielleicht gar nicht ihr Auto?

(Doch, ist es. Sie schaut in den Innenraum, auf den Rücksitz, wo sie ein paar Kleidungsstücke zurückgelassen hat. Natürlich ist das ihr Auto.)

Nicht ganz sicher, ob sie wirklich fahren sollte, noch immer weiche Knie, etwas benommen im Kopf. Muss sich selbst zurechtweisen – Lächerlich. Sie sind vor solch langer Zeit gestorben. Du hast so lange ohne sie gelebt. Und du hast gar keine Erinnerung an sie.

Der Zauber ist gelüftet. Muss gelüftet sein, Blut ist zurück in Clares Gehirn, mit viel Sauerstoff, Klarheit.

Stark genug, um das Auto aufzuschließen, aus dem Parkplatz hinauszufahren.

Stark genug, um zurückzufahren – wohin?

Muss fliehen. Trinken, mich betrinken. Zu einer Kugel einrollen. Verschwinden.

So allein! Verwüstung.

Der Plan ist, zum Haus in der Acton Avenue 59 zurück, schnell die Koffer packen, gehen. Wenn die Großtanten ganz überrascht hinter dir herrufen, gekränkt dir Vorwürfe machen, dann sagst du ihnen, Danke für eure Gastfreundschaft. Aber – auf Wiedersehen! Du wirst nicht anhalten, nicht auf der untersten Treppenstufe sitzenbleiben wie ein eingeschnapptes Kind. Wenn du gezwungen wirst, dich zu erklären, brichst du nicht in Tränen aus. An der Eingangstür wirst du den Großtanten höflich sagen – Ich möchte nichts davon haben. Es war ein Fehler, hierherzukommen. Nehmt ihr das »Erbe« – es ist eures.

Wie entspannend das sein wird, nach Süden zu fahren! Raus aus dem felsigen Maine, wo dünne Nebelschwaden wie Geister über die Straße ziehen.

Du möchtest das Haus in der Post Road. Dieses Haus.

Auf dem Weg Richtung Norden nach Cardiff hat es dich gepackt. Wolltest dich nicht mit Hörbüchern oder Musik von der Aufbruchstimmung ablenken. Der Gedanke an eine Erbschaft – egal, welcher Art – hatte dich gefangen genommen. Der Gedanke an Verwandtschaft – lebende Verwandte – hatte dich gefangen genommen. Unablässig hast du daran gedacht, was das alles für dich bedeuten könnte.

In der Acton Avenue (nicht leicht zu finden: unbekannte Straßennamen, unbekannte Häuser, immer wieder ist dein Kopf leergefegt, keine Ahnung, wo du verdammt noch mal bist oder was dich denn so dringend nach vorne peitscht) parkt Clare ihr Auto direkt vor dem mächtigen alten Steinhaus. An diesem frostigen Apriltag erscheinen Haus und Grundstück völlig farblos, erinnern an ein verblichenes Foto. Clare kann fast die Knicke auf dem Foto sehen, den schmutzigen Fingerabdruck oben an der Ecke.

Sie fragt sich, ob die Großtanten sie wohl von den Fenstern im Obergeschoss belauern. Fette, knotige Spinnen lauern in ihrem Netz, warten auf ihre spindeldürre Beute.

Wie viel Zeit sie braucht, um aus ihrem Auto herauszuklettern, (vorsichtig) den Weg die Einfahrt hoch, (zittriger) Fuß auf die erste Stufe der Veranda. Sie fühlt sich kühn und mutig, kurz danach packt sie wieder die Angst. Warum bin ich überhaupt hier? Warum bin ich zurückgekommen? Ein Traum, in dem Clare einmal sie selbst und gleichzeitig verwirrte Beobachterin von außen ist.

Irgendwann zwischen dem ersten und zweiten Schritt die Stufen hoch schwinden ihr die Sinne.

Irgendwann zwischen zwei Atemzügen fühlt sie sich ausgelöscht.

… wacht aber wieder auf, benommen, verängstigt, liegt auf der harten Rosshaarmatratze, man hat sie nach oben getragen. Nur ganz schwach erinnert sie sich an den Moment, in dem jemand sie vom Boden hochnahm, an das dunkelrote Gesicht eines Mannes, mit abgewandtem Blick.

Knurrend trägt er sie. Versetzt der Tür einen Tritt, damit sie aufspringt.

Und die Großtanten schwirren um sie herum, summen und gurren wie aufgeschreckte Vögel. Wer auch immer Clare die Treppe hinaufgetragen, sie aufs Bett gelegt hat, er ist verschwunden. Nur ein aschiger Geruch bleibt zurück, und der dumpfe Schmerz, da, wo die Finger zugepackt haben.

12.

»Warum hat mir das niemand erzählt?« Scharf soll es sich anhören, doch Clares Stimme klingt wehleidig, verletzt.

Einige Stunden sind vergangen. Der Tag beginnt zu schwinden.

Unten im Salon der Großtanten. Weinrote Samt-Tapeten, abgenutzt, durchscheinend im warmen Licht der Lampe. Geruch von Staub, Spinnweben, Möbelpolitur. Auf der Marmorplatte des kleinen Kaffeetisches vor dem viktorianischen Sofa, auf dem Clare – noch immer etwas benommen – Platz nehmen sollte, hat jemand ein leicht angelaufenes Silbertablett mit angeschlagenen Wedgwood-Tellern abgestellt, auf den Tellern Weißbrot-Sandwiches ohne Krusten mit Gurken und Streichkäse, Pepperidge Farm Haferkekse und Radieschen, so groß und rot wie Rinderaugen. Ein beigefarbener Spitzenärmel, lange dünne Finger mit »polierten« Nägeln, die andächtig Tee in die drei Tassen aus feinstem Porzellan gießen, der aufsteigende Dampf umhüllt Elspeth Laceys Gesicht, verzerrt es.

Clare starrt auf die Sandwich-Häppchen. Unterdrückt ein Schaudern. Als ob sie jemals wieder irgendetwas von dem vergifteten Essen ihrer Großtanten anrühren würde!

»Aber liebe Clare, natürlich – haben wir das getan

»Ganz sicher – haben wir es dir erzählt, Clare

Clare protestiert, nein. Niemand hat ihr etwas erzählt; sie musste das alles ganz allein herausfinden. In der Bibliothek, per Mikrofilm.

»Aber nein, meine Liebe. Morag hat dir alles erzählt, ganz sicher –«

»– sagen wir, sie hat es angedeutet. Wir wollten dich ja nicht erschrecken.«

»– wollten nicht, dass du wegläufst, nachdem du gerade erst angekommen warst.«

»Nicht so direkt und unverblümt. Nicht grob. Würde ich nicht, natürlich nicht –«

»Als du angerufen hast, neulich –«

»Ein sehr überraschender Anruf –«

»Ein willkommener Anruf. Du hast dich vorgestellt als Enkeltochter von Maude Donegal –«

»Die Enkeltochter von Maude Donegal – hatte sich so angehört, als ob du wüsstest, dass du die alleinige, die einzige wärst –«

»Also ich bin mir sicher, dass ich dich darauf vorbereitet habe –«

»Auf das Schlimmste! Elspeth macht so etwas sehr gut.«

»Nicht auf das Schlimmste. Morag, hör auf damit! Du bringst dich doch damit selbst aus der Fassung und verwirrst unsere liebe Nichte, die unter großem Schock steht …«

»– Elspeth wählt ihre Worte mit großer Sorgfalt, so wie ein Scharfrichter sein schärfstes Werkzeug sorgfältig auswählt, man könnte – leicht –, wenn man nicht wüsste, worauf man genau hören sollte –«

»– Morag! Stopp! Das ist nicht lustig.«

»– man könnte so manches falsch verstehen.«

»Nein, so bin ich nicht. Überhaupt nicht. Aber was ist mit Luke Fischer? Er hat dem armen Kind den Fall sicher genau erklärt.«

»Und wenn er es nicht getan hat, dann sollte er sich schämen! Als Nachlassverwalter von Maudes Grund und Boden, bekommt Fischer Geld genug, um diese Verantwortung zu übernehmen.«

»Bekommen sowieso viel zu viel Geld, meiner Meinung nach, die Anwälte!« Elspeth schnaubt ungehalten, verbittert.

Clare kann dem schnellen Schlagabtausch von Worten, den Stimmen der Großtanten nicht mehr folgen. Wie Vogelschnäbel pick-pick-pick, an ihrem Kopf.

Trotzdem gelingt es ihr, zu protestieren: Niemand hatte sie vorbereitet. Niemand hatte sie gewarnt. Nicht einmal Lucius Fischer an dem Morgen. Er war zu feige gewesen, ihr die Umstände, die zum Tod ihrer Eltern geführt hatten, nahzubringen und hatte sie einfach die Straße runter in die Bibliothek geschickt, wo sie dann erfuhr, dass ihre Familie ermordet worden war, dass ihr Vater derjenige war – gewesen war –, der die Familie ermordet hatte.

»Oh, meine Liebe. Musst du?«

»Ja, muss ich. Nach – einem Vierteljahrhundert …«

»Aber es gibt Dinge, die muss man nicht aussprechen

Elspeth zuckt zusammen, ihre skelettartigen Finger flattern abwehrend vor ihr her. Morag grinst und zuckt mit den Schultern, von denen eine ein klein wenig krumm ist; sie beugt sich nach vorn, um Clare eine Teetasse zu reichen, doch die nimmt sie nur sehr zögerlich.

»Zucker, Liebes? Milch?« Morag beugt sich nah zu ihr hinüber, unbehaglich nah, lächelt so eindringlich, dass Clare die Furchen ihrer Wangenfältchen erkennen kann.

»Danke – nein.«

»Jag dem armen Kind doch nicht solche Angst ein, Morag. Du hast vielleicht eine Art, auf jemanden loszustürzen.«

»Du hast dafür eine Art, reinzu – stürzen.«

Elspeth lacht süffisant, die sichere Gewinnerin in diesem Schlagabtausch.

Clare möchte die Teetasse gerne unauffällig irgendwo abstellen. Sie fühlt sich benommen, unsicher. Merkt auf einmal, dass sie seit Stunden nichts gegessen hat, und nach dem Frühstück war ihr doch so schlecht geworden.

»Es ist nur – ich – ich wäre gern vorher gewarnt worden. Bevor ich – es in der Zeitung lesen musste …«

»Ja, natürlich! Was für ein Schock.«

»– zu vermeiden gewesen, könnte man meinen.« Morag schüttelt kräftig den Kopf, wie eine knurrende Bulldogge.

Seltsam, wie Clare in der Anwesenheit der Tanten ihr eigenes Selbst verliert. So als ob die einzelnen Moleküle, die ihr Nervengefüge bilden, zittern und beben, und kurz davor sind auseinanderzufallen.

Bin ich das? Was geschieht mit mir? Muss mich zusammenreißen …

In einer Ecke des Salons schlägt feierlich die große Standuhr mit dem glänzenden Glas vor dem Ziffernblatt eins, zwei, drei, vier, fünf … die Zeit!, denkt Clare. Hatte sie nicht das Haus schon längst verlassen wollen? Obwohl sie auf das Schlagen hört, kommt sie mit dem Zählen durcheinander und weiß überhaupt nicht mehr, wie spät es wirklich ist.

»Trink deinen Tee, Liebes! Bevor er kalt wird.«

»Bevor du ihn verschüttest, Liebes! Deine Hand zittert ja.«

Mit beiden Händen führt Clare die feine, leicht angeschlagene Tasse an ihre Lippen. Wohlgeruch, eine Liebkosung.

Bitterer Tee! Clare fällt das Herunterschlucken schwer.

»Darjeeling. Kann sehr stark werden. Wahrscheinlich hat Morag ihn zu lange ziehen lassen.«

Ist es eine Beruhigung, dass die Großtanten auch diesen Tee trinken? Clare hofft es.

Es ist immer leichter, das zu tun, was anderen gefällt. Clare erinnert sich, wie sie als kleines Waisenmädchen immer darauf aus war, allen zu gefallen.

Und wirklich: die Großtanten sind zufrieden. Elspeth schlägt ganz leise und vorsichtig ihre beringten Hände zusammen, so als ob sie einen Applaus für ein sehr kleines Kind simulierte.

»Gut so, Liebes! Ich hoffe, du merkst jetzt, dass es dir nicht guttut, nur vor dich hin zu brüten. Vor fünfundzwanzig Jahren haben die Donegals viel zu viel Zeit damit verbracht, darüber zu brüten – über diese Tragödie – und einige von ihnen haben sich nie davon erholt.«

»Doch sie standen es durch –«

»Oh Gott, ja! Sie standen es durch.«

»Ich glaube, du meinst wir …«

»Na ja, er war ja nicht unser Sohn. Er war Maudes Sohn.«

»Er war unser Neffe. Und seine Kinder waren –«

»Egal! Warum reitest du darauf herum! – Bitte, Morag, bitte hör einfach auf damit

»Ich erinnere doch bloß daran, dass –«

»Stopp! Hab doch bitte Anstand genug, alte Wunden nicht wieder aufzureißen, bitte! Tust du absichtlich so dumm, hast kein bisschen Taktgefühl, wo du doch weißt, dass unser lieber Gast, unsere liebe Clare, selbst eines dieser Kinder ist – war – ist

Morag starrt Clare an, erschrocken. Tatsächlich, das scheint sie vergessen zu haben. Clare war ja das Kind, das überlebte hatte.

Ein Familienmassaker, Mutter und zwei Kinder, Vater. Und das dritte Kind verborgen inmitten von Spinnennetzen unter dem Spülbecken in der Küche.

Clare war nicht dort, doch Clare erinnert sich.

Aber nein: Clare erinnert sich nicht. Doch Clare war dort.

Morag ist erregt: »Hör du damit auf, Elspeth! Du bist eine Tyrannin. Mein ganzes Leben lang hast du mich tyrannisiert, herumkommandiert. Ich lasse mich nicht ständig herumkommandieren, ich lasse mir nicht den Mund verbieten, so wie du es mein ganzes erbärmliches Leben lang gemacht hast, mich zurechtgestutzt, an mir rumgescheuert. Ich habe nur gesagt –«

»Und ich habe gesagt, die Donegal-Tragödie ist jetzt Geschichte. Längst vergangene Geschichte

Elspeths unnatürlich jugendliches, faltenloses Gesicht ist noch weißer gepudert als gewöhnlich. Ihre braunen Augenbrauen wurden offenbar mit kummervoller Hand nachgezeichnet, genauso (denkt Clare) wie fürs Schauspiel auf der Bühne; ihre Rosenblütenlippen sind ein Kussmund. Morag hingegen starrt auf den Boden, verzieht den breiten, dünnlippigen Mund zu einer Grimasse und scheint ebenso tief bewegt wie ihre Schwester.

Nach dem Frühstück hat Elspeth sich umgezogen: eine dunkle Seidenhose, eine Tunika aus beiger Spitze, hochhackige schwarze Lacklederschuhe. Ihre silbern eingefasste Brille sitzt am Ende einer schmalen, weißgepuderten Nase. Morag scheint ihre Kleider eher unachtsam übergeworfen zu haben: lockere graue Freizeithose mit sichtbarem Gummizug, ein Pullover mit Schottenmuster und V-Ausschnitt, durchgescheuerte Ellbogen, hohe Sneakers. Ihre klobige schwarze Plastikbrille hat sie auf der Knollennase hochgeschoben, die Gläser sind beschmiert.

Elspeths Haar ist luftig aufgebauscht, kräftig oranges Leuchten; Clare fragt sich, ob Elspeth als Direktorin einer Middle School auch schon so ausgesehen hat. Morags metallisch-graues, stumpf geschnittenes Haar schwingt heftig um ihr Kinn, als sie ungestüm den Kopf schüttelt.

»Ich sage dir – (bitte unterbrich mich nicht, Elspeth!) – dass die Vergangenheit niemals ganz vergangen ist. Wir können sie im Moment nur nicht sehen.«

»Oh, hör auf damit. Du bringst unsere liebe Nichte ganz durcheinander, du bist ganz und gar nicht lustig.«

»Hör du auf. Clare interessiert das, was ich sage, da bin ich mir ganz sicher.«

»Tut es nicht. Magst du ein Gurkensandwich, Liebes?« Elspeth hält Clare eine Häppchenplatte hin, doch die ist regungslos.

Schüttelt kurz und heftig mit dem Kopf, nein, nein danke.

Ein dumpfer Schmerz an ihrer linken Schläfe, da wo ihr Kopf auf den Beton aufgeschlagen sein muss.

»Du musst stark bleiben, Liebes! Du siehst ziemlich blass aus, stimmt’s Morag?«

»Am besten ist, du kommandierst sie nicht so rum, Elspeth.«

»Ich kommandiere sie doch nicht herum, ich sorge mich um sie. Du kannst ja nicht mal über das Ende deiner eigenen – sehr kurzen – Nase hinausschauen.«

Elspeth lacht herausfordernd. Morag blickt finster drein.

Clare lacht, aufgeschreckt. Genau wie in einer Familie! Schonungslose Nähe.

Wäre sie in Cardiff aufgewachsen, dann wären die Großtanten Elspeth und Morag ihre Familie gewesen. Sie hätte ihre Großmutter Maude Donegal gekannt. Oft wäre sie in dieses Haus nach Cardiff gekommen.

Und noch andere hätte sie kennengelernt – ihre engere Familie … Ihr Kopf ist ein Brummschädel, als ob sie einem surrenden Bienenstock zu nahe gekommen wäre.

Elspeth reicht noch einmal die Platte Sandwiches herum, und dieses Mal nimmt Clare eines, murmelt »Danke schön.«

Aus Höflichkeit. Verbindlichkeit. Möchte nicht unfreundlich erscheinen. Ihre Großtanten haben sich doch die Mühe gemacht, dieses Tablett für sie herzurichten.

Zögerlich beißt Clare hinein. Die Gurke ist überreif und weich, aber der Frischkäse hat zum Glück einen pfefferigen Geschmack. Das Weißbrot ist so alt, dass man es für einen Cracker halten könnte.

Clare staunt noch immer – Dies sind die Frauen, die sie gefunden haben. Das kleine Mädchen unter dem Spülbecken.

Und – ohne diese Frauen wäre das kleine Mädchen gestorben.

Aber wer war das kleine Mädchen? Und wann war das?

Eine bedeutsame Erkenntnis. Clare kann sie in ihren Fingern drehen wie einen kostbaren Edelstein.

Sie hat erfahren, dass die beiden Schwestern an jenem Nachmittag zum Haus an der Post Road gefahren sind, um nach dem vermissten Kind zu suchen. Gott hat uns geleitet – wurden die beiden zitiert.

Clare fühlt eine Welle der Dankbarkeit. So mächtig, dass sie darin ertrinken könnte.

»Tante Elspeth, Tante Morag – ich verdanke euch mein Leben, das weiß ich seit heute. Ihr beide …«

Spontan bricht es aus Clare heraus: »Danke!« Sie will noch mehr sagen, aber ihr Gehirn scheint wie leergefegt.

Die Großtanten sind überrascht. Sichtlich verdutzt. Elspeth hält ihre beringte Hand vor ihre mit Spitze besetzte Brust; Morag blickt erstaunt und blinzelt. Voller Freude leuchten ihre Gesichter, wie eine schimmernde Folie. Ganz offensichtlich schmeicheln ihnen Clares unerwartete Worte. Elspeth streckt ihre Hand aus, um Clares Handgelenk sanft zu berühren.

»Ja! Das ist sehr nett von dir, Liebes. Aber –«

»– sicher hätte jemand anderes –«

»– jemand anderes hätte sicher –«

»– irgendwann –«

»– ja ja, wenn wir nicht vorbeigekommen wären –«

»Aber wir kamen vorbei! Ja, kamen wir! Denn das war Gottes Wille.«

»– wenn wir nicht vorbeigekommen wären, in dem Moment, als wir vorbeikamen, wäre vielleicht jemand anderes vorbeigekommen, aber –«

»Aber aber aber!«

»– zu spät.«

Clare schaudert. Was soll das heißen – zu spät?

Sie fragt sich, wie nah die kleine Clare Ellen dem Tod wohl gewesen sein mag. Erschöpfung, Dehydrierung, Todesangst. Wie heikel, das Überleben des Kindes: eine Kerzenflamme, die von einem Windhauch hätte ausgeblasen werden können.

Doch Gottes Wille hatte es anders bestimmt. Diese Frauen, die ihre Großtanten sind, von deren Existenz sie bis vor ein paar Tagen noch gar nichts wusste, sind für ebendieses Leben verantwortlich.

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