Die Mystik im Christentum und in den nichtchristlichen Religionen

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Idealiter muss die mystische Begegnung mit Gott der wissenschaftlichen Theologie vorausgehen. Das ist ein Gedanke, der in früheren Jahrhunderten häufiger von bedeutenden Theologen formuliert worden ist. Das ist verständlich, wenn man sich klar macht, dass es bei der Mystik um die spirituelle Seite der Theologie und des Glaubens geht und dass man in ihr tiefere Einsichten erhält in die göttlichen Dinge als durch die wissenschaftliche Theologie. Die Theologie ist Glaubenswissenschaft, sofern sie über den Glauben reflektiert, ihn geistig durchdringt und systematisiert. Wichtiger als die Reflexion über den Glauben und als seine Darstellung ist der liebende Umgang mit ihm. Dieser Umgang mit den Wirklichkeiten des Glaubens führt zum einen über die rationale Reflexion hinaus, zum anderen führt er zu tieferen Einsichten in sie.

17. Bedeutende Autoren

Gegenstand der mystischen Theologie sind innerseelische und äußere Phänomene, »die die positive Anziehung zu Gott hin und durch Gott vorbereiten, begleiten oder ihr folgen«73. Dabei unterscheidet die mystische Theologie für gewöhnlich zwischen Phänomenen, die durch Gott hervorgerufen wurden und rein natürlichen Phänomenen sowie zwischen Phänomenen, die durch Gott hervorgerufen wurden und solchen, die auf das Tätigwerden des Teufels und der Dämonen zurückgehen74. Es gibt also, wie die mystische Theologie im Raum des Christlichen lehrt, auch dämonische Mystik. Davon spricht Joseph Görres († 1848) sehr ausführlich in seinem vierbändigen Standardwerk über die christliche Mystik. Es handelt sich bei diesem Werk um ein verdienstvolles Sammelwerk, das im Detail, in den dargebotenen Einzelheiten, jedoch zuweilen ein wenig unkritisch ist75.

Ein weiteres bedeutendes und umfassendes Werk über die christliche Mystik, das ebenfalls auch heute noch in gewisser Weise wegweisend sein kann, ist das 1901 erstmals erschienene Werk »Des grâces d’oraison« des Franzosen Auguste Poulain, die »Gnaden des Gebetes«76. In diesem Buch verficht der Autor für die wissenschaftliche Behandlung der mystischen Fragen, wie überkommen, die beschreibende und die spekulative Methode. Im ersteren Falle geht es ihm darum, die einzelnen mystischen Erlebnisse vorzustellen und zu ordnen. Dadurch will er Anhaltspunkte geben für die Vorgänge echter Mystik. Er bewegt sich dabei noch ganz auf dem Gebiet der Erfahrung und arbeitet rein als Psychologe. Allein die Aufgabe des Theologen geht weiter – so seine Überzeugung –, sofern sein Objekt in erster Linie das welttranszendente, nicht das weltimmanent Erfahrbare ist. Poulain spricht davon, dass die mystischen Vorkommnisse systematisiert werden müssen und dass ihre Beziehungen zueinander und zu jener Welt klar gelegt werden müssen, von der sie Zeugnis geben. Diese Aufgabe bezeichnet er als die spekulative, erspart sie sich jedoch in seiner Arbeit, da er der Meinung ist, dass sie durch viele einschlägige dogmatische Werke bereits gelöst ist. In der Tat ist diese Aufgabe immer wieder in Angriff genommen worden. Erinnert sei hier an die Werke der Autoren Ambroise Gardeil: La structure de l’âme et l’expérience mystique77, Réginald Garrigou-Lagrange, Mystik und christliche Vollendung78 und Ferdinand Donatien Joret: Die mystische Beschauung nach dem heiligen Thomas von Aquin79. Gardeil, Garrigou und Joret sind Dominikaner. Die Dominikaner hatten stets ein besonderes Interesse an der Mystik und an der mystischen Theologie. Immerhin ist der Dominikaner Eckhart von Hochheim, genannt Meister Eckhart († 1328 in Avignon oder in Köln), der bedeutendste christliche Mystiker gewesen ist. In neuerer Zeit ist die spekulative Aufgabe der Mystik vor allem von dem Benediktiner Anselm Stolz angegangen worden in dem Werk: Theologie der Mystik80.

Weitere wichtige einschlägige Werke, die hier genannt werden müssen, sind: Engelbert Krebs, Grundfragen der kirchlichen Mystik81, Joseph Zahn, Einführung in die christliche Mystik82, Henri Bremond, Falsche und echte Mystik83, Friedrich Heiler, Gesammelte Aufsätze und Vorträge84 und Alois Mager, Mystik als Lehre und Leben85 und Mystik als seelische Wirklichkeit86.

Dazu kommen noch viele weitere Werke über die Mystik in den Religionen, speziell im Buddhismus und im Zen–Buddhismus. Hingewiesen sei hier nur noch auf drei Werke, die sich mit unserer Thematik befasssen und die nicht wenig einschlägiges Material enthalten, auf das Buch von Josef Sudbrack über Hildegard von Bingen87, auf das Buch von Alois Maria Haas über Meister Eckhart88, und auf das Buch von Bardo Weiß über Margareta von Magdeburg89.

18. Die Mystik in der Sicht

der verschiedenen Wissenschaften

An der Mystik ist nicht nur die Theologie interessiert. Die verschiedensten Wissenschaften sind interessiert an der Mystik. Zunächst einmal ist die Theologie als solche an der Mystik interessiert, sie sollte es jedenfalls sein. Dann aber sind auch die Religionsphilosophie und die Religionspsychologie an ihr interessiert, sofern die Mystik ein wesentliches Moment aller Religionen ist. Interessiert sind an der Mystik aber auch die Medizin und die Psychologie, sofern es sich bei den mystischen Erfahrungen durchweg um extreme, zumindest um überdurchschnittliche seelische Erfahrungen handelt. Diese Gegebenheit weckt dann auch das besondere Interesse der Psychoanalyse. Interessiert ist an der Mystik auch die Philologie, sofern die Mystik immer wieder ihren Ausdruck findet in der Sprache der Poesie, interessiert an ihr sind ferner die Parapsychologie, die Ethnologie, die Verhaltensforschung, die Geschichte und die Soziologie. Selbst die Mathematik ist interessiert an der Mystik, weil die Zahl eine große Rolle spielt in der Mystik, speziell im Mystizismus, in der esoterischen Mystik. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das Buch von Carl Franz Endres: Die Zahl in Mystik und Glauben der Kulturvölker90. Heute ist auch die Physik interessiert an der Mystik, sofern sie sich nicht selten mit großer Begeisterung dem New Age zuwendet. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich heute eine große Zahl von Physikern dem New Age und seiner Mystik zuwendet und sich darin engagiert. Im Hinblick auf diese Tatsache gilt heute die Devise: Der Okkultismus oder die Mystik wird immer wissenschaftlicher und die Physik immer okkulter. Im New Age wird die Physik als Prototyp der Wissenschaft angesehen. Physiker ist Fritjof Capra, der Star-Theoretiker des New Age, der das Buch geschrieben hat »Der kosmische Reigen, Physik und östliche Mystik – ein zeitgemäßes Weltbild«91, Physiker ist auch der US-Amerikaner Michael Talbot, der das Buch geschrieben hat »Mysticism and the new physics« (»Mysticisme et physique nouvelle«)92.

Nicht zuletzt ist auch die Philosophie an der Mystik interessiert. Es gibt eine philosophische Mystik, und die Verbindungslinien von der philosophischen Mystik zur religiösen sind vielfältig. Erinnert sei hier an den Neuplatonismus im christlichen Altertum, der nicht wenige Kirchenväter und darüber hinaus das ganze Mittelalter geistig befruchtet hat. Es gibt freilich auch nicht wenige Philosophen, die sich negativ zur Mystik geäußert haben, die sie als unheimlich, verworren, antirational, hinterwäldlerisch, versponnen und krankhaft bezeichnet haben, als degeneriert oder dekadent. Hier ist vor allem zu erinnern an Immanuel Kant († 1804), an Ludwig Feuerbach († 1872), an Karl Marx († 1883) und an Friedrich Nietzsche († 1900).

Gerade die Philosophen des 19. Jahrhunderts waren der Mystik nicht sehr wohlgesonnen. Das gilt allgemein. Eine Ausnahme bildet hier Arthur Schopenhauer († 1860). Dieser bringt der Mystik – speziell im Rahmen seiner Zuwendung zum Buddhismus – eine ganz besondere Wertschätzung entgegen93. Obwohl bei Friedrich Nietzsche eine eigentliche Thematisierung der Mystik fehlt, lassen einige Aphorismen keinen Zweifel daran, dass er von der Mystik rein gar nichts hält. Wiederholt wird sie bei ihm ironisch, ja, spöttisch abqualifiziert. So lesen wir etwa bei ihm: »Wenn Skepsis und Sehnsucht sich begatten, entsteht die Mystik«, oder: »Die mystischen Erklärungen gelten für tief, die Wahrheit ist, dass sie noch nicht einmal oberflächlich sind«94. Nietzsche denkt hier wohl mehr an den Mystizismus, wenn er nicht gar der Meinung ist, dass alle Mystik Mystizismus ist.

Während die Philosophie des 19. Jahrhunderts der Mystik allgemein nicht sehr wohlgesonnen ist, bringen ihr die Philosophen des 20. Jahrhunderts schon eher Sympathien entgegen, wie das etwa bei Max Scheler († 1928), Karl Jaspers († 1969), Martin Heidegger († 1976), Ernst Bloch († 1977) und vielen anderen, vor allem auch katholischen Denkern, der Fall ist.

Wenn die verschiedenen Wissenschaften sich mit der Mystik beschäftigen, so klammern sie häufig die Wahrheitsfrage aus. Sie halten sich dann einfach an die Texte, die vorliegen, die über etwas berichten, dessen Realität angeblich nicht zugänglich ist. Dabei müssen allerdings, so heißt es dann, die begriffsgeschichtlichen, historischen, sozialen, ökonomischen und vor allem die gesamtreligiösen Gegebenheiten der Texte mit berücksichtigt werden, damit sie richtig interpretiert werden95.

19. Wertschätzung der Mystik

im Christentum und in der Kirche

Prinzipiell hat die katholische Kirche die Mystik stets hoch eingeschätzt. Einzelnen Mystikern hat sie dabei allerdings in manchen Fällen Misstrauen entgegengebracht, sie dabei teilweise aber auch missdeutet. Die grundsätzlich positive Einstellung zur Mystik ist im katholischen Raum bereits gewährleistet durch die traditionelle hohe Einschätzung des Mönchtums und des Nonnentums und der Askese. Das Mönchtum und das Nonnentum sind im katholischen Raum traditionellerweise gleichsam die Domäne der Mystik. Weniger positiv ist die Einstellung zur Mystik im reformatorischen Christentum. Es gibt hier zwar nicht wenige bedeutende Mystiker, aber bezeichnenderweise stehen diese fast ausnahmslos außerhalb des offiziellen Kirchentums, entweder notgedrungen, also »nolens volens«, oder in eigener Entscheidung aus einem spiritualistischen Unabhängigkeitsdrang heraus. Im protestantischen Raum stehen die Mystiker allerdings auch weithin unter dem Einfluss der Theosophie, das heißt: Sie neigen zur Esoterik. Die Theosophie war besonders einflussreich im 19. Jahrhundert. Aus ihr ist die Anthroposophie hervorgegangen. Bedeutende Vertreter der protestantischen Mystik sind hier Kaspar Schwenckfeld im 16. Jahrhundert († 1561), Jakob Böhme im 17. Jahrhundert († 1624) und Emmanuel Swedenborg († 1772) und Friedrich Christoph Ötinger († 1782) im 18. Jahrhundert. Auch der Begründer des Pietismus, Philipp Jakob Spener († 1705), ist hier zu erwähnen. Nicht zu vergessen ist hier schließlich der im Jahre 1769 gestorbene Gerhard Tersteegen, der nicht wenige Kirchenlieder geschaffen hat. Dieser bezeichnet die Mystik als »christliche Gottseligkeit«. Er beschreibt sie als die »wahre Frömmigkeit«, als kindliche Furcht und Hochachtung Gottes, als herzliches Vertrauen und Glauben und inniges Anhängen an der Liebe Gottes96. Ein hervorragender Vertreter der Mystik ist auf evangelischer Seite nicht zuletzt Nikolaus Graf von Zinzendorf († 1760), der Begründer der Herrnhuter Bewegung, die noch heute existiert und im evangelischen Christentum kraftvoll und segensreich wirksam ist.

 

Stark zur Mystik neigen im 20. Jahrhundert evangelische Theologen wie Rudolf Otto († 1937) und Dietrich Bonhoeffer († 1945). Beide begegnen der Mystik mit einer auffallend positiven Einstellung. Rudolf Otto ist vor allem bekannt geworden durch das Werk »Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen«, das bis in die unmittelbare Vergangenheit in immer neuen Auflagen erschienen ist97. Ein weiteres bedeutendes Werk von Rudolf Otto trägt den Titel »West-Östliche Mystik. Vergleich und Unterscheidung zur Wesensdeutung«98.

Der evangelische Theologe Gerhard Ruhbach schreibt, die Mystik sei etwas Vorkonfessionelles, sie sei etwas gemeinsam Christliches, etwas konfessionell nicht Spezifiziertes99. Das wird man nicht sagen können. Beschäftigt man sich des Näheren mit der Mystik der römischen Kirche und jener der Protestanten, so stellt man bald fest, dass es hier wesentliche Unterschiede gibt, nicht nur in der Färbung oder in der Akzentuierung, sondern auch in der Inhaltlichkeit und vor allem auch im Hinblick auf den Weg der Mystik. Dieser scheint im katholischen Raum doch irgendwie professioneller zu sein. Zudem ist die Mystik im katholischen Raum kirchlicher. Und vor allem kommt ihr in der katholischen Frömmigkeit eine zentralere Stellung zu.

20. Mystik als Medium der Ökumene

Der Satz »Mystik ist ökumenisch und sollte ökumenische Konsequenzen haben«100, der immer wieder zitiert worden ist, dürfte eher Ausdruck eines Wunschdenkens als einer Realität sein. Es gibt hier große Differenzen inhaltlich und methodisch. Etwas anderes ist es allerdings, wenn man mit dem zitierten Satz sagen will, dass die Mystik eine Brücke sein kann, auf der sich die Konfessionen treffen. In der Mystik macht sich das Individuum auf die Suche nach seinem Gott. Das gilt immer. In diesem Sinne verbindet die Mystik allerdings nicht nur die christlichen Konfessionen miteinander, sondern auch die Religionen, in denen die Mystik, wie wir gesehen haben, als solche durchweg eine vertraute Erscheinung ist.

Nicht nur in den reformatorischen Gemeinschaften ist die Mystik formal und inhaltlich anders gelagert als im katholischen Christentum. Nicht anders ist das in den orthodoxen Kirchen, wenngleich die ostkirchliche Mystik näher bei der katholischen Mystik liegt als die reformatorische. Das entscheidende Zentrum der ostkirchlichen Mystik ist der Berg Athos am Ägäischen Meer, der heilige Berg, das »hágion óros«. Eine wichtige Erscheinung der orthodoxen Mystik ist das Starzentum, dessen Devise, ähnlich wie jene der Dominikaner in der westlichen Kirche, lautet »contemplata aliis tradere«, eine Devise, die aber im Grunde für jede echte Mystik ihre Gültigkeit hat. Stets muss die Mystik nach außen wirken und sich darin als fruchtbar erweisen, andernfalls erweist sie sich als unecht. Die katholische Kirche hat den Quietismus immer wieder als ein bedeutsames Kennzeichen für die falsche Mystik angesehen.

Der Starez ist der Erfahrene, der nach klösterlicher Vorbereitung die Seelsorge in der Welt wahrnimmt. Aus der Abgeschiedenheit des Klosters geht er zu den Brüdern in der Welt, um ihnen die Botschaft von der Verklärung der Welt durch Christus auszurichten. Geschichte gemacht hat in diesem Zusammenhang die literarische Gestalt des Starez Sossima aus dem Roman »Die Brüder Karamasow« von Dostojewski († 1881).

21. Die Affinität der mystischen Erfahrungen zur Poesie

In der Regel geben die christlichen Mystiker ihre mystischen Erlebnisse in poetischer Sprache weiter, notgedrungen, so muss man sagen, denn es ist sehr schwierig, die mystischen Erlebnisse anders zu beschreiben als in der Sprache der Poesie, es ist fast nicht möglich, die mystischen Erlebnisse in einer rational überprüfbaren Sprache auszudrücken. Zudem bestehen zwischen den poetischen Erlebnissen und der mystischen Erfahrung Analogien. Denn in beiden Fällen geht es um Bilder, die in sich die Fähigkeit tragen, die Rationalität zu überschreiten, ohne sie jedoch zu negieren. Sie führen »das menschliche Erkennen von einer oberflächlichen Ja-Nein-Logik in die Tiefe der Existenz«101.

Wo immer man mystische Erfahrungen in einer rational überprüfbaren Sprache auszudrücken bemüht ist, wird die Sprache notwendigerweise extrem kompliziert. Es ist eben schwer, das Unsagbare zu sagen. »Wo immer Mystiker versuchen, die Spannweite ihrer Erfahrung nicht in Bildern, sondern in rational verantworteten Sätzen auszusprechen, fordern sie unsere Denkanstrengung in extremer Weise heraus«102. Erinnert sei hier an den Kirchenvater Augustinus († 430), der von der Mystik sagt, sie sei »difficilis perceptu ... difficilior dictu ...«103. Überdeutlich wird die Kompliziertheit der Beschreibung der mystischen Vorgänge bei Meister Eckhart († 1327) oder bei seinem Schüler Nikolaus von Kues († 1461). Eben weil die Aussage des Unsagbaren so schwierig ist, darum eignet sich bei der Beschreibung der mystischen Vorgänge noch am ehesten die Poesie. Der Dichter Novalis – Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg († 1801) – spricht die enge Beziehung der Poesie zur Mystik an, wenn er erklärt: »Poesie ist praktische Religion«. Weiter noch geht Henri Bremond († 1933) in seinem Buch »Mystik und Poesie«, wenn er feststellt, dass der Dichter nur der Schatten eines Mystikers sei, dass er ein verunglückter Mystiker sei104. Richtig ist die unbezweifelbare Affinität zwischen der Beschreibung mystischer Erfahrungen und der Poesie. Die sprachlichen Strukturen zwischen Poesie und Mystik sind schlechthin konvertibel. Darum können und müssen auch die Literaturwissenschaft und die Philologie die Mystik in den Bereich ihrer Forschung einbeziehen105.

Die Affinität der Beschreibung der mystischen Erfahrungen zur Poesie ist das eine. Ein anderes ist die Tatsache, dass die Mystik stets auch verwurzelt ist in einer gewissen künstlerischen Anlage des Mystikers. Es besteht immer eine enge Beziehung zwischen dem Mystiker und dem Künstler. Die in vielen Menschen schlummernde künstlerische Anlage ist das natürliche Substrat, die natürliche Anbaufläche für die mystischen Gnaden. Josef Zahn106 drückt das so aus: »Es ereignet sich beim Betenden (der von der Betrachtung zur Beschauung voranschreitet) Ähnliches wie beim sinnigen Kunstfreund, der einem Original gegenüberstehend lange und lange verweilt, und immer aufs Neue sich erfreut beim Anblick des Meisterwerkes, das schon lange vielleicht Gegenstand seines Studiums gewesen ist, jetzt aber wie eine Vision vor ihm sich ausbreitet und ihm scheinbar gar nicht Raum gibt für einzelne diskursive Akte, sondern ihm Auge und Sinn und Herz in willig getragene Fesseln bindet ... Der Blick zum dunkelnden Sternhimmel, auf die Riesenwelt der Alpen oder auf das weite Meer, das Bild der aufsteigenden oder hinabsinkenden Sonne, das Anhören eines Tonstücks, die Schlussarbeit bei der Konzeption eines lange vorbereiteten Kunstwerkes ... können als Analogien dienen, die auf dem höheren Gebiet des religiösen Erkennens ihr Gegenbild in der Kontemplation finden«107. Die mystische Gnade und die mystischen Erfahrungen knüpfen an die künstlerische Anlage an, die mehr oder weniger in jedem Menschen latent oder »in nuce« vorhanden ist108.

Ist die Beziehung zwischen Religion und Kunst ohnehin eng, so gilt das erst recht für die Beziehung zwischen der Kunst und der Mystik und den mystischen Erfahrungen. Geht es doch in der Mystik wesentlich um die Empfindsamkeit der Seele, um ihre Erlebnisfähigkeit und Offenheit für die reale und die ideale Wirklichkeit.

Faktisch waren die großen Mystiker zumeist auch Künstler, vor allem Meister des Wortes. Viele haben Gedichte hinterlassen, die zu den Höhepunkten der Weltliteratur gehören. Hier ist vor allem an Johannes vom Kreuz († 1591) zu erinnern. Aber auch jene Mystiker, die keine Verse hinterlassen haben, sind vielfach von außerordentlicher dichterischer Kraft in ihren Texten, wie etwa Franz von Assisi († 1226) oder Mechthild von Magdeburg († 1277) oder Theresa von Avila († 1582).. Gerade Theresa von Avila erweist sich als Meisterin des Wortes, ihre Texte sind von außergewöhnlich hoher literarischer Qualität. Ganz unbestritten ist auch die dichterische Kraft von Mystikern wie Heinrich Seuse († 1366), Johannes Tauler († 1361), Bonaventura († 1274), Bernhard von Clairvaux († 1153), auch wenn sie keine Verse hinterlassen haben109.

Eine gewisse künstlerische Fähigkeit ist die natürliche Voraussetzung für mystisches Erleben, wobei man davon ausgehen muss, dass etwas von der künstlerischen Kraft in jedem Menschen schlummert. Denn wäre es nicht so, würde der Künstler keinen Anklang und kein Verständnis finden bei den Menschen, für die er seine Kunstwerke schafft110. Das bedeutet aber auch, dass die Gnade unter Umständen eine geringere künstlerische Begabung zu hohen mystischen Erlebnissen führen kann und dass umgekehrt etwa eine hohe künstlerische Begabung, die die Gnade vernachlässigt, nur unbedeutende mystische Erlebnisse oder gar keine Erlebnisse solcher Art hervorbringen kann.

22. Das Hohelied und die nuptiale Mystik –

Bernhard von Clairvaux

Es ist bemerkenswert, dass die Kommentierung des Hohenliedes, eines bedeutenden dichterischen Werkes des Alten Testamentes, in der christlichen Mystik des Mittelalters einen zentralen Platz einnimmt. Das gilt bereits für das christliche Altertum, für die Zeit der Kirchenväter. Bei dem Hohenlied, dem Lied der Lieder, handelt es sich um eine poetische Schrift im eigentlichen Sinn, um eine Schrift des Alten Testamentes, die das Phänomen von Liebe und Ehe in einer außergewöhnlichen Weise thematisiert hat, und zwar in Analogie zu dem Verhältnis des Gottes Jahwe zu seinem Volk Israel. In der mittelalterlichen Mystik und schon in der altchristlichen Mystik sieht man in der hier angesprochenen Thematik ein Gleichnis für die mystische Begegnung der Seele mit Gott. Die Liebeslyrik des Hohenliedes hielt man für besonders geeignet, die liebende Verbundenheit und die liebende Begegnung der Seele mit Gott im Bild darzustellen.

Immer wieder ist in den Texten der christlichen Mystiker die Rede von der liebenden Einigung der Seele mit Gott oder mit Christus oder von der Vermählung der Seele mit der Gottheit. Gerade angesichts dieser Texte erweist sich die immer wieder behauptete Weltverachtung, Leibverachtung und Frauenverachtung im Christentum, speziell im christlichen Mittelalter, bereits als völlig unzutreffend. Sie zeigen, dass die Ehe im Christentum stets als etwas Großes und Wunderbares betrachtet wurde. Nichts erschien den Mystikern geeigneter für die Darstellung des Mysteriums der liebenden Begegnung der Seele mit Gott als die ideale Ehe.

Mit einer gewissen Genialität hat Bernhard von Clairvaux, der Kreuzzugsprediger und Gründer des Zisterzienser-Ordens, einer der bedeutendsten Mystiker des Christentums, diese Gestalt der Mystik, die wir auch als nuptiale Mystik oder als Brautmystik bezeichnen, entfaltet und weitergeführt. In seiner Brautmystik zeigt er, dass er »ein freies, unbefangenes Verhältnis zur Bilderwelt der Liebe zwischen Mann und Frau« hatte »und … unbeschwert eine mystische Lehre entfalten« konnte, »die nicht nur genauso poesievoll wie die Liebesträumereien und Liebesabenteuer der Troubadoure war, sondern sie (noch) überbot«111. In seiner Schilderung der Liebesgeschichte der Seele mit Gott hält er sich ganz und gar an das Grundmodell der Liebesgeschichten der höfischen Romanzendichter112: »Ein Paar wird getrennt durch Unglück, Untreue oder Missgunst anderer; die beiden leiden unter einer langen Trennung, vergehen fast vor Sehnsucht nacheinander; suchen einander auf falschen und auf richtigen Wegen und finden sich nach vielen Leiden und Prüfungen endlich und endgültig wieder«113. Dieses Modell wird bei Bernhard in all seinen Nuancen durchgespielt. Da haben wir dann die Trennung, die Sehnsucht, die Suche, die falschen und richtigen Wege, das Leiden und das Wiederfinden. Die »Liebe aus der Ferne«, wie die Troubadoure sie besungen haben, erscheint Bernhard besonders geeignet zur Verdeutlichung der Liebe des Menschen zu Gott. Wie der Ritter durch dunkle Wälder und trostlose Einöden irrt auf der Suche nach der Geliebten, so ist Gott auch der Ferne und Nahe für die liebende Seele. Dabei bewegt sich die Liebe zu Gott bei Bernhard zwischen Entzücken, Ekstase, Inspiration und Leiden nicht anders als die hohe Minne des Ritters, wie sie in der höfischen Literatur des Mittelalters beschrieben wird. Bernhard verwendet zum Teil dieselben Mittel, dieselben Bilder, dieselben Themen und gar auch dieselben Ränkespiele, die wir in der weltlichen Liebesliteratur finden: etwa Eifersucht, die geprüft wird, und selbstlose Liebe, die nichts als die Liebe selbst sucht, und den Konflikt zwischen Ehre und Liebe«114. Im Hintergrund steht dabei immer die Frage, wie bei dem großen Rangunterschied zwischen Gott und Mensch Liebe und Vermählung überhaupt möglich sind115.

 

Die mystische Ekstase, das Aus-sich-Heraustreten des Menschen in Gott hinein, die in ihrer Vollendung erst im »status gloriae« möglich ist, für kurze Augenblicke jedoch schon auf Erden als gnadenhaftes Geschenk von Gott erfahren werden kann, diese mystische Ekstase beschreibt Bernhard in seiner Brautmystik als überraschenden und unvorhersehbaren Besuch des abwesenden Bräutigams bei seiner Braut (Hoheslied 4). Dabei ist er der Meinung, dass der Mensch die Ekstase nicht erzwingen kann, dass er sich darauf aber vorbereiten kann, und zwar durch aszetisches Bemühen, durch das Denken an den Gott der Offenbarung, durch das Lesen über ihn, durch das Nachdenken über die Glaubenswirklichkeiten, durch das Gebet und durch den Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes, also durch die Praxis des geistlichen Suchens und des tätigen christlichen Lebens. Um dafür den Rahmen zu schaffen, hat Bernhard seine Klöster errichtet. 70 Klöster hat er selber gegründet. In Ableitung von dem Namen des Ausgangsklosters »Cistercium« – »Cîteaux«, nannte man die Mönche dieser Klöster Zisterzienser. Allein 70 Klöster hat Bernhard selber gegründet, bei seinem Tode aber gab es insgesamt 350, von denen manche bis zu 700 Mönchen zählten116. Dieses Faktum ist bemerkenswert, wenn man in ihm nicht gar ein Wunder Gottes erkennt. Es unterstreicht jedenfalls das gewaltige mystische Wirken der unvergleichlichen Persönlichkeit des Abtes Bernhard von Clairvaux.

Wenn Liebe und Ehe in der nuptialen Mystik, in der Brautmystik des Mittelalters, ein Gleichnis und Bild sind für die mystische Einigung der Seele mit Gott, so müssen wir uns vor Augen halten, dass diese Gleichnishaftigkeit, diese Bildhaftigkeit, uns schon im Alten und im Neuen Testament begegnet und dass sie schon von daher die ganze Geschichte des Christentums durchzieht. Bereits im Alten Testament, mehr noch dann im Neuen Testament, haben wir nicht wenige Stellen, in denen Gott jene, die ihm anhangen, als Braut bezeichnet und in denen er sich selbst als deren Bräutigam kennzeichnet. Zudem ist im Alten Testament die »Synagoge als liebende und als ungetreue Braut der Gegenstand vieler Texte«, angefangen beim Hohenlied bis hin zu den prophetischen Büchern. Und im Neuen Testament ist »der Bräutigam der Seelen und der Kirche ... in den Reden Jesu wie in den Briefen« des Paulus »eine stetig wiederkehrende Gestalt«117.

Da ist es konsequent, wenn die Liebe zwischen Mann und Frau in der christlichen Mystik immer wieder zum Symbol und zur Metapher wird für die geistliche Liebe des Menschen zu Gott. Zwar wird dabei nicht ausdrücklich thematisiert, dass die konkrete Liebe zwischen Mann und Frau als solche auch ein geistlicher Weg zu Gott sein kann, dass sie also nicht nur gleichnishaft zu verstehen ist, aber für diesen Gedanken ist durchaus auch Raum in der christlichen Mystik118.

Die nuptiale Mystik ist in der christlichen Mystik so dominant, dass sie in ihr im Grunde alle Formen mystischer Erfahrung durchzieht. In ihr stoßen wir immer wieder auf den Topos der geistlichen Vermählung, des »sacrum connubium«. Einerseits wird in der Brautmystik der personale Charakter der mystischen Begegnung zwischen Gott und dem Menschen herausgestellt, andererseits wird darin die leibliche und sinnenhafte Sphäre in die Mystik mit einbezogen 119.

23. Außergewöhnliche Fähigkeiten der Psyche

Zuweilen begegnen uns im Kontext der Mystik außergewöhnliche Fähigkeiten des Menschen oder der menschlichen Psyche. Ihre Wirklichkeit kann man nicht leugnen, wenngleich ihre Erklärung durchweg schwierig ist, wenn sie nicht gar unmöglich ist. Wenn man keine übernatürliche Erklärung für sie finden kann, wird man hier auf die junge Wissenschaft der Parapsychologie oder der Paranormologie verwiesen. Ihre Grundphänomene sind die außersinnliche Wahrnehmung, die sich als Hellsehen, Telepathie (Fernfühlen) und Präkognition manifestiert, und die Telekinese oder Fernbewegung. Beim Studium der außergewöhnlichen Fähigkeiten der menschlichen Psyche muss das weite Feld der Parapsychologie vor allem dann einbezogen werden, wenn es um die Frage geht, ob die mystischen Erfahrungen eines Mystikers echt sind bzw. ob sie übernatürlichen Ursprungs sind. Dabei müssen wir davon ausgehen, dass es auch natürliche mystische Erscheinungen gibt, die als echt angesehen werden müssen. Zudem können außerordentliche Phänomene, die man als natürlich qualifizieren muss, von Gott in Dienst genommen werden. Existentielle Bedeutung erhält die Frage nach der Echtheit und der Übernatürlichkeit der außer­ordentlichen Begleitphänomene der Mystik bei den Beatifikationen und den Kanonisationen der Kirche.

Das Interesse an dem Verhältnis von Mystik und Parapsychologie schlägt sich nieder in der heute geradezu wuchernden Literatur in diesem Kontext. Dann geht es um spiritistische Praktiken, um Tonbandstimmen, um das UFO-Phänomen und im Zusammenhang damit um die Sichtung von Göttern oder Wesen aus anderen Welten, um das Spielen mit Beweisen für die Reinkarnation und um Reinkarnations-Therapien und vieles andere mehr, kurz: um immer neue »Überweltkundgaben auf säkularistischem Boden«120. Mit Berichten über derartige Vorgänge kann man in jedem Fall große Aufmerksamkeit erregen, was als Hinweis darauf angesehen werden muss, dass die Bereitschaft zum Aberglauben und zu unkritischen phantastischen Vorstellungen heute nicht gerade gering ist121.

24. Mystik und Pathologie

Beim Studium der außerordentlichen Begleitphänomene der Mystik wird man immer wieder auch auf pathologische Erscheinungen stoßen. Zudem subsumiert man häufiger unter dem Begriff der Mystik auch pathologische und halbpathologische Phänomene wie Fanatismus, Schwarmgeisterei, Spiritismus und religiöse Wahnvorstellungen. Es gibt zuweilen pseudomystische Erfahrungen, die sich als mystische Erfahrungen ausgeben, in Wirklichkeit aber nichts weniger sind als das. Über Pathologie und Mystik, über Mystik und Geisteskrankheit, ist manches geschrieben worden. Wir müssen hier unterscheiden zwischen parapsychologischen Phänomenen und psychopathologischen. Die Ersteren haben in sich zwar nichts zu tun mit der Psychopathologie, können aber im konkreten Fall mit ihnen irgendwie im Zusammenhang stehen.