Die Mystik im Christentum und in den nichtchristlichen Religionen

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Das Verbum »myéo« wird an der genannten Philipperbrief-Stelle im übertragenen Sinn verwendet, wenn es da heißt: »... ich weiß mich einzuschränken und weiß auch mit Überfluss umzugehen. In alles bin ich eingeweiht (das heißt: mit allem bin ich vertraut), in Sättigung und Hungerleiden, in Überfluss und Entbehrung« (Phil 4,12 f). In Philippi hielt man sehr viel von Mysterien und von dem darin Eingeweihtwerden. Das ist für den Apostel ein Anlass, den Christen zu sagen, dass sie durch den Glauben an Christus in allen Situationen das rechte Wort und das rechte Verhalten finden, dass sie durch Christus in alle Geheimnisse des Lebens eingeweiht sind und von daher stets die rechte Antwort finden, sowohl in der intellektuellen Auseinandersetzung als auch in der Lebenspraxis.

Das Verbum »myéo« bedeutet also soviel wie »einweihen«. Von diesem Verbum leiten sich im Griechischen die Begriffe »mystêrion«, »mystêria«, »mystês«, »mystikós«, »mystikón« und »mystagogós« her. Die »mystêria« sind im Hellenismus, wie gesagt, die Mysterienkulte und der »mystês« ist der in die Mysterien Eingeweihte. Das »mystikón« ist »das die Mysterien Betreffende«. Der »mystagogós« ist der, der einweiht in die Mysterien, also der Priester, der diese Aufgabe intellektuell und kultisch wahrnimmt. All diese Begriffe bezeichnen das Geheimnisvolle, speziell im Kontext des Religiösen. Sie begegnen uns bereits im 5. vorchristlichen Jahrhundert, etwa bei den griechischen Dichtern Aischylos († 456 v. Chr.) und Sophokles († 406 v. Chr.) und auch bei dem griechischen Historiker Herodot († 424 v. Chr.).

Aus dem griechischen »mystêrion« wurde das lateinische »sacramentum«. Im Christentum wurde der Begriff »mystêrion« als Bezeichnung eines Mysterienkultes sowie der kultischen Mitteilung geheimnisvoller Erkenntnisse aus der vorchristlichen Antike übernommen. Mit ihm wurden auch die anderen von »myéo« abgeleiteten Begriffe übernommen.

e) Phil 4,12 : »... in alles bin ich eingeweiht ...«

Es gibt eine bedeutsame Stelle im Neuen Testament, an der das Wort »Mysterium« uns begegnet, und zwar im Epheserbrief im Rahmen einer Doxologie auf den göttlichen Heilsratschluss, von dem gesagt wird, dass er vor der Grundlegung der Welt bestand, dass er sich in der Fülle der Zeiten dadurch zu vollziehen hat, dass »alles in Christus erneuert wird.« Der göttliche Heilsratschluss wird hier als »Mysterium des Willens Gottes« gefasst. Das ist die Stelle Eph 1, 9. Das große zentrale »mystêrion« ist dabei der göttliche Logos in seiner Menschwerdung, in seinem menschlichen Leben und in seinem Erlösungswerk. In diesem Verständnis ist das Mysterium Christi ein Geheimnis, das durch die Offenbarung zum Erkenntnisinhalt geworden ist. In der Offenbarung ist es kund geworden, wenn auch nicht in letzter Adäquation. So begegnet uns der Begriff in dieser Bedeutung an einigen weiteren Stellen, und zwar viermal im Epheserbrief (Eph 3, 3; 3, 4; 3, 9; 6, 19), zweimal im Römerbrief (Rö 11, 25; 16, 25), dreimal im 1. Korintherbrief (1 Kor 4, 1; 2, 7; 15, 51), zweimal im Kolosserbrief (Kol 1, 26; 2, 2) und einmal im 1. Timotheusbrief (1 Tim 3, 9). Hinzukommt die Stelle Mt 13, 11 mit den synoptischen Parallelen Lk 8,10 und Mk 4, 11, wo von den Mysterien des Reiches der Himmel die Rede ist.

In der altchristlichen Literatur verwendet man den Begriff »mystêrion« gern auch für andere grundlegende Kultgeheimnisse, wie die Eucharistie und die Taufe. Auch hier steht der Aspekt der Erkenntnis im Vordergrund. Beim »mystêrion« geht es im Neuen Testament wie auch in der altchristlichen Literatur, anders als in den Mysterienreligionen, stets um Erkenntnis auf Grund göttlicher Erleuchtung. Diese Akzentuierung prägt auch generell die christliche Mystik, die sich stets als Erkenntnis verstanden hat, als Erkenntnis nicht durch eigenes Nachforschen, sondern durch göttliche Erleuchtung, wobei freilich auch das affektive Moment stets – ganz selbstverständlich – einen bedeutenden Platz eingenommen hat141.

f) Die antiken Mysterienreligionen

Die eigentliche Heimat der Wortfamilie »Mystik« sind die Mysterienkulte im Hellenismus, in denen geheimnisvoll-bedeutsame Zeremonien esoterisch gepflegt wurden, die geheime Erkenntnisse vermitteln sollten mit dem Ziel besonderer religiöser Erhebung und Beseligung, wobei die geheimen Erkenntnisse jedoch oft überwuchert waren vom Ritualismus und faktisch oft das religiöse Erleben im Vordergrund stand. In jedem Fall geht es hier um geheimnisvolle, nicht allen zugängliche Erkenntnisse, in die man kultisch eingeweiht wurde142.

Die Mysterienkulte gehören in den Bereich der Esoterik oder der Hermetik, die bis heute eine oft unterschätzte Wirkungsgeschichte entfaltet hat. In die Mysterien musste man eingeweiht werden. Man wurde in sie eingeweiht, nachdem man sich durch eine Zeit der Vorbereitung geläutert und als würdig erwiesen hatte. Im Mysterienkult erhoffte man sich eine besondere religiöse Erhebung und Beseligung, die weit hinausging über den normalen religiösen Kult. Damit verband sich jedoch stets die Hoffnung auf geheime Erkenntnisse. Diese geheimen tieferen Erkenntnisse, die höhere Weisheit, die man hier erwartete, tritt allerdings in den Mysterienreligionen, wie gesagt, stark zurück, überwuchert vom Ritualismus, von der religiösen Erhebung und Beseligung, umso mehr aber haben die tieferen Erkenntnisse ihren Ort später im Neuplatonismus gefunden, in der Mystik der neuplatonischen Philosophie143.

In den Mysterienreligionen wird der »mystês«, der Myste, der kultisch eingeweiht worden ist in die Mysterien, nachdem er sich durch eine längere Vorbereitung geläutert hat, zunächst zum »epóptês«, zum Augenzeugen des Heiligen, um schließlich mit dem Heiligen zu verschmelzen, um mit ihm identisch zu werden. Dieses Geschehen nannte man in vorchristlicher Zeit auch gern »ékstasis« (»Ekstase«). Darunter verstand man dann so etwas wie erfahrungsmäßige Erkenntnis der Gottheit im Innersten der Seele. Ekstase meint zunächst seinem Wortsinn gemäß das »Aus-sich-Heraustreten«, das »Außer-sich-Geraten«, die Verzückung. Durch die Mysterien wird der Myste zum »epóptês«, das heißt: Er wird zu einem, der das Heilige in objektiver Form sieht. Der »epóptês«, ist (wörtlich) der Beschauer, der Wächter, der Augenzeuge.

Der »mystês«, der Eingeweihte, ist derjenige, der in diese Erkenntnis kultisch eingeweiht ist. Das »mystikón« ist dann alles das, was mit dem Mysterium zusammenhängt. Und der »mystagogós« ist dann endlich der, der einweiht144.

In diesem Zusammenhang begegnet uns auch schon in vorchristlicher Zeit häufiger das Wort »Ekstase« in der Bedeutung von »erfahrungsmäßiger Erkenntnis Gottes im Innersten der Seele«145.

In den griechischen Mysterienfeiern erfolgt die Einweihung in einer rituellen Feier, dem eigentlichen Akt der Einweihung. Der terminus technicus lautet hier »myeîn«. Dieses Eingeweihtwerden wird von dem Einzuweihenden als ein unsagbar geheimer Vorgang erfahren, über den man unbedingt zu schweigen hat. Das, worin eingeweiht wird, sind die »mystêria«. Genau dieses Geschehen nannte man in vorchristlicher Zeit auch gern Ekstase. Dabei wird der »epóptês«, der Augenzeuge des Heiligen, der, der das Heilige schaut, schließlich mit dem Heiligen identisch.

An dieser Stelle wird bereits die Verbindung der alten Mysterienreligionen, der antiken Mysterien, mit der christlichen Mystik sichtbar.

Der entscheidende Vermittler zwischen den antiken Mysterien und der christlichen Mystik wurde indessen Platon (427–347 v. Chr.) mit seinen Dialogen »Symposion« und »Phaidros«, in denen er den Aufstieg des Geistes zur höchsten geistigen Schau in der Terminologie von Eleusis, in der Terminologie der Eleusis-Mysterien, beschreibt. »Durch die Integration der Mysterienmetaphorik in den Entwurf eines spirituellen Aufstiegs entstand ein Modell mystischen Sprechens, dem sich der Jude (der jüdisch-hellenistische Philosoph) Philo (von Alexandrien [† 40 n. Chr.]) überschwänglich anglich, dem sich auch das frühe Christentum – zunächst über die Gnosis (2. Jahrhundert n. Chr.), dann über Pseudo-Dionysius Areopagita (um 500 n. Chr.) – nicht zu entziehen vermochte«146.

Am bekanntesten sind die antiken Mysterien von Eleusis, die Mysterien des Orpheus, des Dionysos, der Attis, der Isis und des Osiris, und vor allem die Mysterien des Mithras.

Die ältesten Mysterien sind die mit der Göttin Deméter verbundenen Mysterien von Eleusis, die Eleusinischen Mysterien, die im Zusammenhang mit Platon erwähnt wurden, die aus einem Fruchtbarkeitskult entstanden sind, aus einem alten Ernte- und Familienfest, das man in der griechischen Landschaft Eleusis (ca. 30 km nordwestlich von Athen) zweimal im Jahre feierte, und zwar im Frühling und im Herbst.

In den Mysterienreligionen gibt es stets verschiedene Grade der Zugehörigkeit zu der religiösen Gemeinschaft. Je höher der Grad der Zugehörigkeit ist, umso enger ist die Verbindung mit der Gottheit. Dabei ist das Ziel in jedem Fall die Vergöttlichung des Gläubigen, wobei der Gläubige Gott wird und damit göttliche Eigenschaften gewinnt, göttliche Unsterblichkeit, göttliche Kräfte und jenseitige Seligkeit. Das Ziel ist hier also die Identifikation mit der Gottheit. Der Weg zu dieser Einigung, auf dem man stufenweise immer höher steigt, bedarf einer besonderen Belehrung durch einen Priester einerseits und der Einweihung durch besondere Weihehandlungen und Weiheriten andererseits, die wiederum durch einen Priester vollzogen werden. Unterzieht man sich dem, wird man ein »mystês«.

Nun dürfen wir nicht meinen, die alten Mysterienreligionen seien einfach Vergangenheit. Weithin sind sie noch heute präsent, idealiter und realiter, in den verschiedenen Gruppierungen der Esoterik, angefangen bei der Anthroposophie bis hin zum New Age und – heute vor allem – zu den zahllosen Formen des Satanskultes.

Wie diese Weihehandlungen und Weiheriten in den griechischen Mysterienreligionen erfolgten, wissen wir nicht, jedenfalls nicht in Einzelheiten, obwohl uns ein Bericht über eine solche Einweihung, der uns einen gewissen Einblick darin gibt, vorliegt. Dieser Bericht geht zurück auf den Nordafrikaner Apuleius, der im 2. nachchristlichen Jahrhundert lebte und aus Madaura in Numidien stammte († um 170 n. Chr.). Er war ein Philosoph und Magier. Er ließ sich in die Isis-Mysterien einweihen und wurde gar ein Isis-Priester. Sein Bericht enthält einiges an Informationen, aber die geheimnisvollen Vorgänge als solche werden nur angedeutet in ihm. Es gehört zu den Mysterienreligionen, dass sie das Entscheidende nicht preisgeben. Sie sind Geheimkulte, die Mysterienreligionen, und sie unterliegen der Arkandisziplin147.

 

Apuleius schildert seine Einweihung in die Isis-Mysterien im 11. Buch seines satirischen Romans »Der goldene Esel« oder »Die Metamorphosen.« Eine Übersetzung des Romans erschien bereits im Jahre 1783 von August Rode. Neu bearbeitet wurde diese durch Hanns Floerke und erschien in München im Jahre 1909. Zuletzt erschien das Werk in Frankfurt im Jahre 1975 in der Bearbeitung von Wilhelm Haupt. Beachtenswert ist hier in diesem Zusammenhang vielleicht auch das Buch von Wilhelm Wittmann »Das Isisbuch des Apuleius, Untersuchungen zur Geschichte des 2. Jahrhunderts«148.

Noch einige Einzelheiten zu den Mitteilungen des Apuleius: Wie wir bei ihm erfahren, ist das Erste bei der Einweihung ein Reinigungsbad, das in heiligem Wasser erfolgt. Daran schließt sich ein zehntägiges Fasten an. Dann wird der Kandidat (hier ist es Apuleius selbst) an der Hand des Oberpriesters in das so genannte Adyton, in den innersten, allerheiligsten Tempelraum geführt, den gewöhnliche Sterbliche nicht betreten dürfen. Hier erlebt er dann die eigentliche Weihe, über die sich Apuleius ausschweigt, von der er uns nur das Eine sagt, dass er hier über die Schwelle des Totenreiches gekommen sei und dann, durch alle Elemente getragen, zum Licht zurückgekehrt sei. Er erklärt, eine leuchtende Sonne habe ihm aus mitternächtlichem Dunkel gestrahlt. Er habe die Götter der Totenwelt und des Himmels geschaut und aus unmittelbarer Nähe angebetet. Sein Leib sei dann in zwölf Gewänder gehüllt worden, was wohl soviel bedeuten soll wie, dass er zwölf verschiedene Gestalten angenommen hat. Er berichtet des Weiteren, bei Tagesanbruch sei er dann mit dem Himmelsgewand umkleidet worden und, in der rechten Hand eine brennende Fackel, auf dem Haupt einen Kranz, auf einem Postament vor der Göttin als Standbild des Sonnengottes aufgestellt und von der herbeigerufenen Gemeinde als Gott verehrt worden149. Schließlich habe die Gemeinde das göttliche Geburtsfest, das göttliche Geburtsfest des Apuleius, mit einem Festmahl gefeiert und er habe es dann genießen können, für einige Tage das Abbild des Sonnengottes oder gar selber der Sonnengott zu sein. Danach habe er das Himmelskleid im Tempel zurücklassen müssen, wo es für ihn verwahrt worden sei. Er sei in die Welt zurückgekehrt mit dem Gelöbnis, das Erlebte im Herzen zu bewahren und sich stets geistig vor Augen zu halten. Weiter heißt es dann in dem Bericht, dass an ihm, Apuleius, dem Eingeweihten, das Einweihungsmysterium von Zeit zu Zeit habe erneuert werden müssen, und zwar durch das Anziehen des Himmelskleides, des Symbols für den dem Eingeweihten verliehenen himmlischen Leib, wodurch er immer wieder aufs Neue eine außergewöhnliche Verklärung erlangt habe – die Vereinigung mit der Gottheit und die Vergottung oder die Vergöttlichung.

In anderen Mysterienreligionen vollzog sich die Einweihung durch andere Vorgänge und Handlungen. Aber immer sollte auf geheimnisvolle Weise eine Vereinigung des Geweihten mit einer Gottheit erreicht werden, die für ihn selber die Vergöttlichung bedeutete150. Der Kern des Geschehens ist in den Mysterienreligionen stets die Verklärung, die Vergottung des Mysten, seine Identifikation mit der Gottheit, wie immer man sich das vorstellen mag.

In der antiken Welt gibt es zwei Grundformen der Mystik, zum einen die Mystik der Versenkung, der Abwendung von den Dingen der äußeren Welt, man kehrt dann in sich selber ein, um so mit der Gottheit vereinigt zu werden, zum anderen der Versuch der Vereinigung mit dem Unendlichen durch sinnliche Erregungen, durch Rauschtränke, durch Ausschweifungen, durch Verwundungen, durch Tänze, durch Raserei und dergleichen mehr. Im einen Fall sprechen wir von der aszetischen Mystik, im anderen von der orgiastischen Mystik. Die Letztere begegnet uns im Altertum vor allem in den Fruchtbarkeitskulten. Hier ist etwa zu erinnern an den Baals-Dienst und den Astarte-Dienst der Syrer und der Phönizier, an den Bacchos-Dienst der Thraker, an den Dionysos-Kult der Griechen und an den Kybele-Dienst der Phrygier und in gewisser Weise auch an den Isis-Dienst der Ägypter. Eine Art von Rauschmystik haben wir weithin auch in der Mystik der Sufis im Islam. Das ist ein Phänomen, das sich vor allen in Persien entfaltet hat151. Die beschriebenen zwei Grundformen der Mystik sind immer wieder hervorgetreten in der Geschichte der Esoterik bis hin zum New Age. Es gibt hier jedoch nicht unbedingt ein Entweder–Oder.

Im Christentum und in der christlichen Tradition gibt es selbstverständlich nur die zuerst genannte Gestalt der Mystik, die aszetische Mystik. Heute ist das allerdings anders geworden, heute scheint sich dank der Unterwanderung des Christentums durch das New Age auch im Christentum, im protestantischen Christentum schon länger, im katholischen seit einiger Zeit, mehr und mehr die zweite Form der Mystik zu etablieren. Das New Age breitet sich aus gemäß »der sanften Verschwörung des Wassermannes«. Die »sanfte Verschwörung des Wassermanns« ist übrigens auch der Schlüssel zum Verständnis für die öffentliche Demoralisierung, speziell auch im Blick auf die Sexualmoral. Im Programm des New Age heißt das die »Umwertung aller Werte«, die de facto die Zerstörung aller Werte bedeutet.

g) Die Weiterbildung der Mystik im Neuplatonismus

In der neuplatonischen Philosophie und im Gnostizismus152 verändert sich die Mystik vom Rituellen zum Intellektuellen. Die zur Wortfamilie »Mystik« gehörenden Termini erfahren nun, entsprechend dem neuen Verständnis der Mysterien, einen bemerkenswerten Bedeutungswandel. Nun versteht man unter Mysterien dunkle, »die Seele zur Einigung mit dem Göttlichen emporführende (Erlösungs-) Lehren«153. Nun denkt man bei der Mystik, bei den Mysterien also, nicht mehr an den kultischen Umgang mit der Gottheit, sondern an den »in Riten, Mythen und Symbolen verborgenen und durch sie verhüllten göttlichen Seinsgrund der Welt, der nur den zur Erkenntnis Fähigen, von der großen Menge Abgeschiedenen und sittlich Vorbereiteten zugänglich ist«154. Die Mystik verändert sich nun vom Rituellen zum Intellektuellen.

Es erfolgt so im Neuplatonismus und im Gnostizismus im Erleben der Mystik eine Transposition von der kultischen oder von der rituellen zur gnoseologischen Ebene, eine Metamorphose, die allerdings schon, wie bereits betont wurde, bei Platon vorbereitet ist. Der Hauptvertreter des Neuplatonismus ist Plotin († 269 n. Chr.).

Die Mystik oder die mystische Erfahrung wird so zur »höchste(n) Erkenntnis«, zur »mystische(n) Rede«, zur symbolhaft-verhüllende(n) Aussage einer letzten, ins Geheimnis gehüllten Wahrheit, die, weil über alles Sinnenhafte und Rationale erhaben, von ihrem Wesen her unaussprechbar ist«155. Sie wird so zur Erkenntnis, die mystische Erfahrung, zur höchsten Erkenntnis, die gleichwohl dunkel bleibt. Das Moment der Erkenntnis begegnet uns zwar auch schon in den Mysterienreligionen, aber dort eben nur sehr schwach, wie wir gesehen haben.

In diesem Sinne, im Sinne des neuplatonischen Bedeutungswandels, gelangte das Wort »mystisch« über die alexandrinische Theologie eines Origenes († 254) in den christlichen Sprachgebrauch, wo es dann eine dreifache Bedeutung erhält, nämlich eine kultische, eine kerygmatische und eine theologische oder eine liturgische, eine biblische und eine spirituelle, wie bereits festgestellt wurde156. Nun nennt man mystisch die Kultgegenstände und liturgischen Riten, sofern sie die göttlichen Geheimnisse symbolisieren, nennt man mystisch auch den verborgenen geistlichen Sinn der Heiligen Schrift und vor allem die in der Taufe grundgelegte geheimnisvolle Gemeinschaft des Christen mit Christus, die im Alltag im Glauben und in der Liebe erfahren wird. Man spricht dabei gern von Logosmystik, um anzudeuten, dass es hier um die Gemeinschaft mit Christus geht und dass diese Gemeinschaft mit Christus das Wesen des christlichen Lebens zum Ausdruck bringt.

Die eigentliche Brücke, welche die antike Mystik bzw. die ihr entsprechende Terminologie mit dem Christentum verbindet, ist mithin die alexandrinische exegetische Schule des christlichen Altertums, deren Exponent der zitierte Kirchenvater Origenes ist.

h) Grundlegende Differenzen im Christentum

Die hellenistischen Mysterienreligionen erstreben als Ziel die Vergottung des Mysten. Diese wird erreicht durch die unmittelbare Schau der Gottheit oder besser: Die Schau ist die Vorstufe der Vergöttlichung oder der Vergottung des Mysten. Es handelt sich hier um eine »Wesensverwandlung«, die dann von Zeit zu Zeit immer wieder aufs Neue zelebriert und aktualisiert wird, wie wir gesehen haben, und als Vorwegnahme des endgültigen Geschicks, als Antizipation des künftigen Äons verstanden wird157.

Alles Sehnen des Mysten geht dahin, zur Schau des göttlichen Elementes zu gelangen. Dadurch kann und soll ihm die »Wesensverwandlung« zuteil werden. Das ist dann eine Vorwegnahme des endgültigen Geschicks, eine Antizipation des künftigen Äons in dieser Zeitlichkeit. Um zu dieser vergottenden Schau zu gelangen, muss der Myste höchste Kraftentfaltung leisten, jedenfalls in der aszetischen Gestalt der Mystik, obwohl immer die Gnade das Szepter führt. Aber die Gnade hat die Natur zur Voraussetzung. Darum muss der Myste sich anstrengen, muss er alles, was mit dem leiblichen Leben zusammenhängt, zum Schweigen bringen oder übertönen. Die vergottende Schau, zu der er dadurch geführt wird, ist allerdings nur jeweils für kurze Zeitabschnitte möglich. Immer wieder folgt auf die beglückende Ekstase die ernüchternde Rückkehr in den Alltag, wobei der Myste jedoch seine »Wesensverwandlung«, die an ihm vollzogene Weihe, durch welche ihm eine bleibende Sonderstellung innerhalb der menschlichen Gemeinschaft zuteil geworden ist, im Glauben festhält158. So die Überzeugung. Der Myste wird dann, wie wir bei Apuleius gesehen haben, immer wieder einmal an das Einweihungsmysterium erinnert, wenn und indem er zu seinem rituellen Höhepunkt zurückkehrt, was von Zeit zu Zeit zu geschehen hat.

In der christlichen Mystik gibt es demgegenüber keine Vergottung des Menschen in dem Sinne, dass die eigene Persönlichkeit aufgegeben werden müsste. Im Christentum bleibt der unendliche Abstand zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf im mystischen Erleben. Das ist der eine wichtige Unterschied zwischen antiker Mystik und christlicher, der andere ist der, dass es in ihr nicht die Rauschmystik gibt, jedenfalls nicht legitim, dass die Rauschmystik in der christlichen Mystik geradezu als absurd erscheint. Gerade dieses Faktum aber stellen die moderne charismatische Bewegung und die pfingstlichen Gemeinschaften innerhalb des Christentums in Frage.

2. Worum es in der Mystik geht?

a) Mystik und Mystizismus

Von der Worterklärung gehen wir nun zur Sacherklärung über. Wenn moderne Religionspsychologen das Mystische gern aus dem Unterbewusstsein, aus verborgenen psychischen Fähigkeiten, aus Erotik und aus Hysterie, also aus psychischen und medialen Anlagen oder Verbiegungen des Menschen erklären wollen, aus Psychologie, Psychopathologie und Parapsychologie, so gehen sie fehl, sofern es sich wirklich um echte Mystik handelt. Auf diesem Weg können sie lediglich Formen des Mystizismus erklären, Formen der unechten Mystik, Fehlformen, negative Formen der Mystik. Die echte Mystik ist in ihrer ganzen Komplexität erklärbar allein aus dem natürlichen Wirken des Menschen und seinen Möglichkeiten bzw. dem Gnadenwirken Gottes und der Eigenart der menschlichen Seele. Dabei wirkt die Gnade immer mit in je spezifischer Weise, bei der natürlichen wie auch bei der übernatürlich zu qualifizierenden Mystik159. Von unechter Mystik sprechen wir, wenn es sich um bewussten Betrug handelt oder wenn die Phänomene sich rein aus der Psychologie, der Psychopathologie und der Parapsychologie erklären160.

b) Natürliche und übernatürliche Mystik.

Wir sprechen in der mystischen Theologie von natürlicher und übernatürlicher Mystik. Damit ist eine weitere Unterscheidung getroffen. Im ersteren Fall geht es um geistig-seelisches Erfassen des natürlichen Wirkens Gottes in der Seele, was freilich immer auch irgendwie von der Gnade mitgetragen ist, in der übernatürlichen Mystik geht es um geistig-seelisches Erfassen der übernatürlichen Wirksamkeit Gottes in der begnadeten Seele. Der Oberbegriff ist dann das »geistig-seelische Gotterleben«, das sich einmal in der natürlichen Ordnung vollzieht, dann wiederum in der übernatürlichen Ordnung161. Mit anderen Worten: Die natürliche Mystik steht im Kontext der Naturordnung, die übernatürliche steht im Kontext der übernatürlichen Heils- und Erlösungsordnung.

 

Auf Grund der entsprechenden religions- und geistesgeschichtlichen Tatsachen, von denen uns in den Religionen berichtet wird, müssen wir sagen, dass es zumindest wahrscheinlich ist, dass es in den Religionen so etwas gibt wie eine natürliche Mystik. Das gilt in gleicher Weise von den philosophischen Schulen. Es ist dabei an eine »von der Phantasie unabhängige, rein geistige Erkenntnisweise (Beschauung, Kontemplation)« zu denken, »in der die Geistseele entweder eine besondere Einwirkung Gottes (z. B. eine eingegossene Idee) (erfährt) oder sich selbst intuitiv in ihrer unmittelbaren Gottbezogenheit erkennt (z. B. in ihrem Von-Gott-Gewirktsein oder in der Offenheit des Geistes zum Unendlichen hin)«162. Das kann freilich in besonderen Fällen auch auf der übernatürlichen Ebene liegen. Warum sollte das nicht der Fall sein, so muss man fragen, angesichts der Tatsache, dass Gott das übernatürliche Heil aller will und den Menschen dieses zwar nicht durch die Religionen, aber doch gegebenenfalls in den Religionen zuwendet oder besser: anbietet oder ermöglicht?

Wenn es sich um übernatürliche Mystik handelt, setzt diese eine übernatürliche Ansprache des Menschen durch Gott voraus, die dann in den Religionen oder in der Philosophie ad hoc erfolgt oder »modo privato«.

Die mystische Art der Erkenntnis ist »zwar dem Zustand der Leibverbundenheit der Seele nicht angemessen (und insofern einer besonderen göttlichen Einwirkung bedürftig)«, sie übersteigt »jedoch die Natur der Geistseele nicht schlechthin« und ist insofern von ihrem Wesen her zunächst »natürlich«163. Auf jeden Fall muss man, von der Offenbarungstheologie her betrachtet, einen wesentlichen Unterschied sehen zwischen der natürlichen und der übernatürlichen Mystik, wenn man denn mit natürlichen mystischen Erfahrungen rechnet, woran man kaum vorbeikommt164.

Festzuhalten ist, dass es sich bei den mystischen Erfahrungen um eine rein geistige Erkenntnisweise handelt, unabhängig von der Phantasie, intuitiv, kraft einer besonderen Einwirkung Gottes, die im Rahmen der Naturordnung stehen kann oder im Rahmen der übernatürlichen Heils- und Erlösungsordnung.

c) Einige Definitionen

Die Mystik oder besser: das mystische Erleben bezeichnet seinem Wesen nach ein tief inneres geheimnisvolles Erleben auf religiösem Gebiet, eine innere Vereinigung mit Gott oder mit dem Göttlichen, die sich grundlegend von der alltäglichen Gottvereinigung im Gebet unterscheidet. Letztere fassen wir unter dem Begriff der Spiritualität oder auch der Frömmigkeit. Das mystische Erleben ist demgegenüber eine Steigerung dessen, was wir als Spiritualität oder als Frömmigkeit zu bezeichnen pflegen, eine Intensivierung der Spiritualität oder der Frömmigkeit.

Man kann es auch so sagen: Benutzt man das Wort »Mystik« in einem weiten Sinn, so versteht man darunter jede Art der inneren Gottbegegnung, wie sie uns in jedem Gebet zuteil werden kann, benutzt man es in einem engen Sinn, so versteht man darunter eine außergewöhnliche Gottbegegnung bzw. die ekstatische Gottvereinigung165. Immer ist das mystische Erleben ein tief inneres, geheimnisvolles Erleben auf religiösem Gebiet, eine innere Vereinigung mit Gott oder mit dem Göttlichen, eine innere Vereinigung mit Gott oder mit dem Göttlichen im Zenit, wobei wir vornehmlich nicht an die alltägliche Gottbegegnung oder Gottvereinigung im Gebet denken, die wir gewöhnlich unter dem Begriff der Spiritualität fassen.

Die mystische Erfahrung ist »ein am Mysterium orientiertes, nicht leicht mitteilbares, letztlich unsagbares Erkenntnis- und (oder) Liebesgeschehen zwischen Mensch und Gott, das vom Menschen als (Geschenk, als) gnadenhafte, ohne Anstrengung empfangene Einigung mit Gott erfahren wird ...«166. Dabei kann durchaus die Erfahrung der Gottesferne, die Erfahrung der, wie man im Mittelalter sagte, »regio dissimilitudinis« als Begleitphänomen hinzutreten167, the »region of unlikeness«, sagt man im Englischen.

Es handelt sich beim mystischen Erleben um ein nicht alltägliches Erkenntnis- und Liebesgeschehen, das in jedem Fall von Gott geschenkt wird, das also immer irgendwie gnadenhaft ist. Im Falle der übernatürlichen Mystik ist es dann in einem spezifischen Sinn gnadenhaft, ist es dann gnadenhaft im Sinne der übernatürlichen Erhebung des Menschen. Wir denken bei »gnadenhaft« zwar für gewöhnlich an übernatürliche Geschenke, wir können jedoch auch bei natürlichen Geschenken das Adjektiv gnadenhaft hinzufügen.

Im mystischen Erleben wird das Göttliche erlebt und geistig geschaut, ohne dass damit eine genauere Vorstellung von dem Erlebten und Geschauten verbunden ist. In seinem Kern wird das mystische Erleben als Einssein der Menschenseele mit dem Göttlichen erfahren. Die Trennung zwischen irdisch und überirdisch, zwischen zeitlich und ewig wird dabei gewissermaßen überwunden, gewissermaßen, so muss man sagen, da der Mystiker in Wirklichkeit in dieser zeitlichen, in dieser immanenten Welt verbleibt. Theologisch ausgedrückt: Der »status viae« wird im mystischen Erleben nicht verlassen, im mystischen Erleben wird er nicht mit dem »status gloriae« vertauscht.

Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher († 1834) erklärt im 19. Jahrhundert in seinen »Reden über die Religion an die Gebildeten unter den Verächtern« – so der Titel168 – die mystische Erfahrung als »Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in jedem Augenblick«169. Jakob Amstutz bestimmt die Mystik in seinem Buch »Zweifel und Mystik besonders bei Augustin. Eine philosophiegeschichtliche Studie« als den »Inbegriff aller Mittel und Wege zur Vereinigung des Menschen mit Gott und der Erlebnisse dieser Vereinigung selbst«170.

Edward Lehmann († 1930) nennt in seiner Schrift »Mystik in Heidentum und Christentum«171 das mystische Erleben »... das Einssein der Menschenseele mit dem Göttlichen«.

Das Charakteristische der Mystik ist, dass in ihr das Erleben und Schauen des Göttlichen angestrebt wird. Die Seele erlebt und schaut das Göttliche in geistiger Weise, ohne dass damit eine genauere Vorstellung verbunden ist von dem, was da geschaut wird. Oft jedenfalls hat der Mystiker keine genauere Vorstellung von dem Göttlichen oder von der Gottheit, das oder die er schaut. Zuweilen ist das Göttliche oder die Gottheit nicht einmal als ein persönliches Wesen gedacht.

Albert Schweitzer († 1965), der, bevor er Urwaldarzt wurde, Theologe in Straßburg war, versucht angesichts der Komplexität der Mystik in seinem Buch »Die Mystik des Apostels Paulus«172 eine noch allgemeinere Definition von dieser Gegebenheit, also von der Mystik, wenn er erklärt: »Mystik liegt überall da vor, wo ein Menschenwesen die Trennung zwischen irdisch und überirdisch, zeitlich und ewig als überwunden ansieht und sich selber, noch in dem Irdischen und Zeitlichen stehend, als zum Überirdischen und Ewigen eingegangen erlebt«.