Buch lesen: «Nacht und Hoffnungslichter»

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Joseph Roth

NACHT UND
HOFFNUNGSLICHTER

Herausgegeben von Alexander Kluy

Mit einem Vorwort von

Wolfgang Müller-Funk


GELEITWORT

VON ALEXANDER KLUY

Joseph Roth, der Romancier, ist Teil der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, ja der Weltliteratur.

Joseph Roth, der heilige unheilige Trinker, der Freund, der magisch-berückende charmante Unterhalter von größeren Runden in Kaffeehäusern und Bistros, ist Zentrum der um ihn gerankten privaten und privatwissenschaftlichen Mythen.

Aber Joseph Roth, der Zeitgenosse bewegter Zeiten, der Journalist, der Reporter, kein rasender, aber ein enorm schnell schreibender, ein höchst produktiver, doch nie schludrig formulierender, was ist mit diesem, umtriebig zwischen Wien und Berlin pendelnd?

Wien und Berlin waren Städte, die nach dem Ersten Weltkrieg für mehrere Jahre auf unterschiedliche Weise glänzend aufschienen, die eine – Wien – illuminiert von der erloschenen kalten Sonne der Habsburger, die andere – Berlin – von Lichtarchitektur, Kinowerbung, Reklame, von Jazz, Moderne und Boxen, Lebensgier und Sehnsucht. Beide beschrieb Roth, beide boten ihm Material in Fülle, von beiden war er auf unterschiedliche Art fasziniert.

Als Erzähler bannte Joseph Roth »bittere Märchen über die Vergänglichkeit« aufs Papier, »raunende Beschwörungen einer vergangenen Welt, in der auch noch in den kleinsten Dörfern römisch-katholische Polen, griechisch-orthodoxe oder unierte Ruthenen, protestantische Deutsche und Juden zusammenlebten«, so Arno Widmann, der zudem anmerkte: »Er war – in seinen Reportagen – auch einer der Buchhalter dieses Verlusts. Er war der seltene Fall eines Menschen, dessen Empfindungen seiner Beobachtungsgabe nicht im Wege standen. Er schärfte seinen Blick durch Zärtlichkeit.«

Jozef Wittlin, Roths Freund und späterer Übersetzer, hatte dies bereits 1949, zehn Jahre nach dessen Tod, in zauberische Worte voller Anmut und Bewunderung gefasst: »Er war ein feuilletonistischer Artist der Grazie, ein Zauberkünstler der leichten Form, ein Wortmaler poetischer Bilder, ein erbarmungsloser Fanatiker, wenn es notwendig war, die Wahrheit auszusagen, anzuprangern. […] Joseph Roth war nicht nur ein Zauberer der Sprache, der oft Flauberts Schönheit erreichte, er war nicht nur ein geistvoller, realistischer Lebensschilderer, der die Erkenntnis der Wahrheit mit der Kunst der Form auf höchstem Niveau zu vereinen verstand, er war nicht nur ein Aktivist der Intelligenz – in ihm schlug auch ein großes Herz

Joseph Roths Reportagen, Feuilletons, journalistische Miniaturen und Porträts sind aber weit über den Tag hinaus lesenswert geblieben – weil sie journalistische Literatur sind, und oft überzeitliche Literatur von Rang. Der vorliegende Band versammelt ausgesuchte Texte über Wien, wo er von April 1919 bis April 1920 Redakteur und Kolumnist der neu gegründeten, programmatisch »Der Neue Tag« benannten Zeitung war, und über Berlin, in der Roth, der spätere »Legitimist« und nostalgische Verklärer des Habsburgerreiches, 1925 »Der blinde Spiegel« in dem der deutschen Sozialdemokratie sehr nahestehenden Verlag J. H. W. Dietz publizierte. Dieser »kleine Roman« spielt im Wien zwischen 1916 und 1920, jenen Jahren, die er bewusst erlebt und beschrieben und sich erschrieben hatte.

In die deutsche Hauptstadt war Joseph Roth nach der Schließung des »Neuen Tags« übersiedelt, wie so viele andere österreichische Journalisten, Feuilletonisten und Kritiker auch, und schrieb für zahlreiche namhafte Zeitungen, Journale und Periodika mit staunenswerter Produktivität, mit überbordender Neugier aufs Urbane und mit einer beeindruckenden intellektuellen Flexibilität.

Flankiert wird Roths Prosa von Arbeiten, Texten und Aphorismen Wiener und Berliner Journalisten, Reporter und Feuilletonisten – von Karl Kraus bis Kurt Tucholsky, von Anton Kuh bis Stefan Großmann, von Arnold Höllriegel bis Victor Auburtin und Sling –: als Ergänzung, als Konterpart, als Gegenüberstellung wie als deckungsgleicher Kontrast, als erstaunlich lebendige Texte der Zwanzigerjahre. Und sichtbar wird, auch in der gleichen/ungleichen Behandlung derselben Themen, vom Verkehrswesen bis zu nächtlichen Vergnügungen, von Kaffeehausgästen und Beobachtungen während Gängen durch die Städte und Promenaden durch deren Mentalitäten, vom Hotel Sacher bis zum Café Kranzler, solcherart eine Ära zwischen Nachkrieg und Vorkrieg, zwischen untergegangenen monarchischen Systemen und bedrohlich aufziehenden mörderischen Diktaturen.

VORWORT

VON WOLFGANG MÜLLER-FUNK

Joseph Roth ist ein bis heute literarisch und intellektuell unterschätzter Autor. Eine solche Aussage mag angesichts der ungebrochenen Beliebtheit und Verbreitung eines Autors, der die Welt, die er auf seiner endlosen Reise, die sein Leben war, aus der ungläubigen Perspektive eines Fremden beschrieb, der in der Welt, vor allem in deren Zentren, nie angekommen ist (ob dieses Zentrum nun Berlin oder Wien, Paris oder, höchst imaginär, New York hieß), überraschen.

Noch die heutigen Auflagen seiner beliebtesten Werke könnten so manche Gegenwartsautoren und -autorinnen neidisch machen. Was aber so viel bedeutet, dass sein literarisches wie auch sein feuilletonistisch-journalistisches Werk noch immer eine Dimension von Aktualität besitzt, die in philologischer Traditionspflege nicht aufgeht. Bis heute wird an Roth das unterschätzt, was ich als Prägungskraft seines Werkes bezeichnen möchte, eine gewisse Zentralität der kleinen Form. Joseph Roth ist weder ein Autor der deutschen Neuen Sachlichkeit noch ein regionales österreichisches Phänomen, etwas für den sentimentalen Hausgebrauch Post-Kakaniens und seiner identitätsstiftenden Erzählkomplexe. Sein Œuvre ist Produkt und Produzent dessen, was man einigermaßen verschliffen und paradox als »klassische Moderne« bezeichnet hat. Joseph Roth gehört im doppelten Sinn in diesen Kanon, als Meister einer kleinteiligen, lyrisch-märchenhaften Prosa ebenso wie als scharfsinniger und pointierter Zeitzeuge der großen Krisen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Seine sichere Hand, anschauliche Tableaus zu Papier zu bringen, die er in heute vergessenen feuilletonistischen Formaten eingeübt hat (etwa in seinen Glossen und Miniaturen in Der neue Tag), sind viel hintergründiger, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Diese Schilderungen aus dem Alltagsleben etwa der Wiener und Berliner Nachkriegszeit sind Türöffner, die uns Auskunft geben über die Verschiebungen, Brüche, Kränkungen und Absurditäten, die sich aus dem ungleichen Verhältnis von großen Ereignissen und kleinen Menschen, von unsichtbaren, aber bedeutsamen Veränderungen und ihrem Widerhall in Lebensverhältnissen ergeben, in denen diese nicht zu Bewusstsein kommen, aber, wie in dem beinahe vergessenen Roman Der blinde Spiegel, gleichwohl wirksam werden.

Der vorliegende Band versammelt Texte aus den ersten zehn Jahren des literarischen und journalistischen Schaffens von Joseph Roth. Seit den Publikationen von Ingeborg Sültemeyer und Hartmut Scheible in den 1970er-Jahren ist es üblich geworden, Roths Werk in mindestens zwei Perioden aufzuspalten: hier der Linksrepublikaner, der seine Artikel häufig mit der »rote Joseph« signiert, dort der konservative Monarchist und ›heilige Trinker‹, der mit der Welt im Hader ist. Es ist an dieser Stelle nicht der Ort, diese Wende zu kommentieren und zu analysieren. Viel wichtiger erscheint es mir indes, darauf hinzuweisen, dass es ungeachtet dieser politischen Wende, die zweifelsohne mit Roths Reise in das vorstalinistische Sowjetrussland und seiner zunehmenden Enttäuschung der politischen Entwicklung in Deutschland zusammenhängt, auch so etwas wie eine Kontinuität der Schreibweise, des literarischen Gestus, des hohen Maßes an Empathie und der damit verbundenen narrativen Techniken gibt. Ein Satz wie »Es regnete wirklich und der Vater kam, mit ergrauten Schläfen« (»Der blinde Spiegel« 1925), könnte sich auch in vielen späteren literarischen Texten finden, die auf eigentümliche Weise die Opposition von Roman und Erzählung neutralisieren. Das hängt ganz offenkundig mit jenen einsamen lyrischen Sätzen zusammen, die nicht selten ein Tableau vor dem Lesepublikum entfalten. Der höchst amüsante und merkwürdige Zusatz, dass es wirklich regnet, wenn der Vater von Fini aus dem Krieg nach Hause kommt, ist ein Indiz für jene ironische Märchenhaftigkeit, die in der Joseph-Roth-Welt obwaltet, übrigens nicht nur in der literarischen Prosa, sondern auch in den fast immer poetisch durchsetzten Feuilletons, jenen Gebrauchstexten, von denen der Autor leben musste und mehr und mehr leben konnte.

»Manchmal ist die Welt kleinwinzig wie ein Ameisenhaufen, so daß man ordentlich den Respekt vor ihr verliert«, heißt es in einem frühen Feuilleton-Text. Es spricht sich hier eine Weltfremdheit aus, die generell ist und aus der das poetische Schaffen Roths erwächst. Die Fremdheit des jungen Gefühlssozialisten und später ebenso romantischen »Monarchisten« ist eine vielfache, es gibt da, Kafka durchaus nicht unähnlich, eine Fremdheit, die mit der jüdischen Herkunft einhergeht. Es gibt ferner, weniger oft vermerkt, die Fragilität männlicher Identität. Weltverlorenheit stellt sich historisch zwiefach ein, als Ergebnis des Ersten Weltkriegs, der den Staat hinwegspült, in dem Roth höchst peripher geboren wurde, und als Folge des sich ankündigenden Scheiterns des sozialistischen Experiments in Russland. Fremd bleiben Roth zudem lebenslang jene urbanen Zentren, von denen er sich zugleich angezogen fühlt, so sehr, dass er lange vor dem Ende der Weimarer Republik Paris zum provisorischen Lebensmittelpunkt erkoren hat. Roth befindet sich, lange vor dem inneren Bruch mit dem marxistischen Sozialismus, auf einer permanenten Suche nach einer politischen Heimat. Er möchte sich so gerne mit etwas und jemand identifizieren, mit Friedrich Ebert oder mit Kaiser Franz Joseph, und vermag es doch eigentlich nie, weder als Linksrepublikaner noch als Über-Monarchist, in dem doch insgeheim sehr viel von seiner unbestimmten Linksorientierung der Jugendzeit bleibt, etwa seine Gegnerschaft zu Deutschnationalismus, Militarismus, völkischem Denken und schlussendlich zum Nationalsozialismus – politische Phänomene, mit denen sich Roth schon sehr früh beschäftigt hat, als Berichterstatter des Hitler-Ludendorff-Prozesses, aber auch in seinem frühen Roman Das Spinnennetz.

Der Raum des Literarischen erlaubt Roth eine Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit zu etablieren, aus der vor allem das literarische Werk seine innere wie äußere Spannung des Wortes bezieht. In literarischen Texten, aber auch an den heute nicht mehr existenten, an Kraus und Polgar geschulten Formaten des Feuilletons müssen nicht endgültige Urteile gesprochen werden – was Anteilnahme für die einen oder Spott für die anderen nicht ausschließt, so etwa, wenn ein »neugegründeter Sicherheitskörper« in der Custozzagasse einen »italiänischen« Revolver erbeutet und ganz kurz am Horizont jene Schlacht aufscheint, die nicht in der Custozzagasse, wohl aber zu Custozza stattgefunden hat. Dieser »Sicherheitskörper« sieht dem heutigen übrigens zum Verwechseln ähnlich.

RUDOLF OLDEN:
NACHRUF AUF EINEN FREUND

»In der Redaktion des Neuen Tag war ich zusammen mit Alfred Polgar, R. A. Bermann, – bekannter als Arnold Höllriegel –, mit Karl Tschuppik, Egon Erwin Kisch, dem Zeichner Carl Josef, Karl Otten. Oft kam spät abends ein sehr magerer und sehr stolzer junger Mensch, dessen kurze Manuskripte Tschuppik mit zur Schau getragenem Respekt übernahm. Auch er war ein eben abgerüsteter Offizier. Man wußte nichts von ihm, als daß er auf eine besondere Art sah und Joseph Roth hieß. […]

Ich zweifle, ob wir wirklich eine gute Zeitung gemacht haben. Die Arbeiter-Zeitung hieß die erste Nummer des Neuen Tags mit einer freundschaftlichen Notiz willkommen. Aber eine Woche später hatte Friedrich Austerlitz, der große Journalist, der ein grausamer Polemiker sein konnte, uns en gruppe genommen, und wir sind das ganze Jahr nicht mehr aus der Polemik herausgekommen. Eigentlich sollte sie doch die Bürger mit den neuen Dingen versöhnen und, oh oft geträumter Traum, die böse alte Neue Freie Presse entthronen. Nun war stattdessen der tägliche Bruderkrieg. Darunter wird die Qualität der Zeitung wohl gelitten haben, und ich zweifle, ob sie war, was sie hätte sein können. Aber ich weiß, daß es die einzige Redaktion gewesen ist, die mir jemals Spaß gemacht hat, und das bißchen, was ich journalistisch kann, habe ich dort von Karpeles [Benno Karpeles, Gründer und Herausgeber des »Neuen Tags«] und Bermann gelernt. Ein Jahr lang, wie gesagt, dauerte das Vergnügen. Eine Zeitschrift und eine Zeitung, das ist teurer als ein Rennstall, und außerdem fraß inzwischen hinterrücks die Inflation Karpeles’ Vermögen auf. Wir wurden tückisch verkauft. Karpeles ging beleidigt weg, als seine souveräne Unabhängigkeit in Frage gestellt war. Eine Woche später gab der Kreis, den ich genannt habe, dem neuen Eigentümer den Rat, die Sache aufzugeben. Sie wollten nicht mehr mitmachen. Ungewöhnliches Ende einer Zeitung, von den eigenen Redakteuren gesprengt zu werden!«

Das Neue Tage-Buch, Jg. 6, Heft 6, 5.2.1938

JOSEPH ROTH: WIENER SYMPTOME

WIENER SYMPTOME

Mai und Mais

Fast hätte ich geglaubt, es wäre ein fataler Druckfehler im himmlischen Verordnungsblatt. Als der Mai trotz Abschaffung der Sommerzeit noch über die Welt kam und das Maisbrot noch auf den Tisch, kostete ich noch einmal das erhabene Gefühl des Durchhaltens in vollen Zügen und würzenden Bissen, schwamm ich in goldgelben Reminiszenzen aus der Zeit, in der man Gold für Maisbrot gab, das schwer verdaulich war wie ein Kriegsbericht und zwerchfellblähend wie ein A-Befund …

Es kommt just zur rechten Zeit: Dieweil Paris Kriegsschlüsse diktiert, erinnert sich das Wiener Volksernährungsamt nicht mit Unrecht des Mai, der jahrelang »Offensive«, und des Maises, der »Volksnahrungsmittel« hieß, und unternimmt mit dem letzteren die erstere gegen die Wiener Bevölkerung. Keiner weiß, woher er kam, der Mais. Name und Art nur kennen wir zur Genüge. Stammt er etwa noch aus den Vorratskammern des ukrainischen Brotfriedens? Drischt man ihn aus den Ähren jener Felder, deren Ähren man zerstampft? Oder ist er eigens zurückbelassen aus jenen Jahren straffster Drosselungen als sinniges Maisgeschenk zum Zeichen des Friedensschlusses? Oder als Abschiedsgruß einer aus der Kommune scheidenden Partei? Etwa: im Weltkrieg habe ich dein, o Wiener, gedacht. Drum hab’ ich dir zum Frieden dies dargebracht?! …

Es ist jedenfalls ein kunstvoll dramatischer Aufbau in der Wiener Brotversorgung der letzten Wochen zu sehen. Nach dem Höhepunkt des Weißbrotes die Peripetie des Maisbrotes. Allen dramatischen Regeln zum Trotz unterbleibt hoffentlich die Katastrophe. Denn dieses goldgelbe Verhängnis ist an und für sich schon sinniger Abschluß einer gastrischen Tragödie, auf gefallenem Vorhang ein Fragezeichen, an Paris, ernste Mahnung an übermütig gewordene Zwölffingerdärme, Schlußakkord der 42-Zentimeter-Haubitzensymphonie, Punkt und Pause hinter der ganz ungenügend ausgefallenen Hausarbeit über die große Zeit … Alles in allem: ein Wiener Symptom …

Schokolade

Ich sah eine Rippe um zwei Kronen vierzig in der Auslage. Ein blondes Mäderl, barfuß, Hunger in den blauen Kinderaugen, stand davor. Im Anblick der schwarzbraun glänzenden Schokoladerippen wurde Fames vulgaris (gemeiner Hunger) zu beflügelter Sehnsucht, gierig-körperliches Verlangen zu beschwingtem Himmelanstreben, animalische Angelegenheit zur rein seelischen. So etwa sieht der Himmel dieses Kindes aus: braun und mit Schokolade tapeziert. Und diese kleine Rippe um 2 Kronen 40 ist die Schwelle, über die man ins Himmelreich tritt …

Schokolade! Sie trägt eine Zürcher Marke und ist sicher durch den Schleichhandel in die Anlage geschmuggelt worden. Ich aber vergebe und vergesse in diesem Augenblick allen Schleichhändlern der Welt ihr Preistreiben für bloßen Anblick. Dem Feinde neben mir ist die Rippe die Schwelle zum Himmelreich. Mir – Schwelle am Tor der Zukunft. Durch wie viele Länder mit Grenzen, Verzollungen, Repetitionen, Vidierungen, Visitationen mußte diese Rippe wandern, ehe sie ins Schaufenster des Zuckerbäckers Thomas Helferding gelangte! Und nun ist sie da: Aller Völkerfeindschaft, Seelenverhetzung zum Trotze, ein schwarzbraun glänzendes Zeichen ewiger Völkergemeinschaft!

Still standen wir da und schmeckten die Herrlichkeiten schlaraffenländischer Zukunft. Unsere Augen schimmerten in Liebe, Sehnsucht und Verehrung. Unser Blick ward Gebet.

Dann ging ich in den Laden und kaufte eine Rippe. Brach sie sorgfältig und gab dem barfüßigen Mädchen die Hälfte. Und aß die andere selbst. Und wetteiferte mit dem Kinde im Kindsein …

Josephus

Der Neue Tag, 18.5.1919

KAFFEEHAUSFRÜHLING

Er offenbarte sich bisher bloß darin, daß die Kaffeesieder Preise trieben, die tägliche Ausgabe für Frühstück und Jause in die Höhe schoß, im »Schwarzen« lenzlichgeheime Säfte goren, die Ausbeutung des Publikums ungeahnte Blüten trieb und das Geschäft überhaupt florierte. So sieht der Wiener Kaffeehausfrühling aus. In der letzten Woche kam noch ein Neues hinzu: Schani trug den Garten hinaus. Der »Garten« besteht aus ein paar Latten und Dielenbrettern, die wohlverwahrt auf dem Dachboden Winterschlaf hielten, und einem Gitter aus Drahtgeflecht oder Eisen. Ein besonderes Zuvorkommen dem Mai und den Gästen gegenüber bedeuten noch einige Blumentöpfe und jene grünen Zweige, auf die in diesem abnorm kalten Frühjahr nur die Kaffeesieder kamen. Und somit ist alles für die Sonne gerüstet, die leider »infolge Ausbleibens wichtiger meteorologischer Nachrichten« von der Sternwarte nicht angekündigt werden kann und sich ohne zuverlässige Prognosen nicht recht aus den Wolken hervortraut …

Sieht man diese gottverlassenen Caféveranden an, so drängt sich einem fast unwillkürlich der Vergleich mit nie erfüllten Friedensträumen, verregneten Aussichten und verschnupften Weltlagen. Diese umgekehrten Tische mit den umgestülpten Korbstühlen, die vor Nässe weinen, sehen einer verkehrten Welt verzweifelt ähnlich, in der alles auf dem Kopf stünde, wenn auch nur etwas einen Kopf hätte. Die Luft, die man eigentlich von Rechts wegen hier draußen genießen sollte, ist erfüllt mit Kriegsberichten, die von den Friedenskonferenzen kommen, und das Eis, das in normalen Zeiten hier geschluckt werden würde, hält leider noch immer die Herzen der Menschen krampfhaft umschlossen. So wird, was dereinst Fortsetzung gemächlichen Familienlebens und gemütlicher Tarockpartien auf die Straße war, heute eine recht ungemütliche Verquickung einer ungemütlichen Öffentlichkeit mit privaten Familiensorgen. Die Kaffeehausterrasse ist heute nur mehr ein überflüssiges Requisit aus besseren Zeiten und obendrein noch ein Verkehrshindernis wie Straßenbahn, Post, Telephon und andere »Verbindungsmittel«. Für Kaffeesieder hat sie allerdings einen Vorteil: Sie ermöglicht ihnen, unangenehme Stammgäste, die über die Preiserhöhung schimpfen, auf glatte Weise und im wahrsten Sinne des Wortes – an die Luft zu setzen …

Nachtleben

Nacht für Nacht gehe ich denselben Weg. Nacht für Nacht sehe ich dieselben Bilder. Vor dem Versorgungshause fährt der Leichenwagen vor, unerbittlich, nüchtern, geschäftsmäßig, um diejenigen zu versargen, die ehemals versorgt waren. Man weiß wirklich nicht, was vorteilhafter ist. Es könnte auch ein boshafter Druckfehler sein …

Ein paar Häuser weiter, vor dem anatomischen Institut, steht wieder der Tod. Diesmal in modernerem Gewande. Ein Straßenbahnwagen, dessen rückwärtige Wand ein weithin leuchtendes Kreuz trägt. Die Tore des anatomischen Instituts stehen weit offen. In plumpen glattgehobelten Holzkästen, die eine verschwommene Ähnlichkeit mit Holzsärgen haben, liegen die sezierten, geprüften, durchstudierten Leichname. Kasten um Kasten wird in den Straßenbahnwagen geschoben. Vollbeladen mit zu wissenschaftlichen Zwecken hinaufavancierten Leichen fährt die Straßenbahn mit dem weithin leuchtenden Kreuz schließlich davon. Es ist die einzige Wiener Elektrische, deren Gäste sich in stummer Liebenswürdigkeit nicht auf die längst sezierten Hühneraugen treten …

Was ist das dort vor dem Votivplatz? Wieder der Tod? Werden Gräber geschaufelt? Geheimnisvoll vermummte Männer um ein flackerndes Windlicht gruppiert. Sie hacken mit Spaten und Krampen in der Straßenmitte, zwischen den Schienen der Straßenbahn, krempeln das ganze Pflaster auf. Schatzgräber etwa? Symbol wären sie dann, Repräsentanz des deutschösterreichischen Volkes, das, arm an Beutel, krank am Herzen, nach Schätzen gräbt und froh ist, wenn es Regenwürmer findet, um sie zu verspeisen …

Es sind weder Toten- noch Schatzgräber, sondern Arbeiter aus der Reparaturwerkstätte der städtischen Elektrizitätszentrale, und ihr musterloses nächtliches Hantieren dient der Aufrechterhaltung der Straßenbahnverbindungen. Sie schaufeln sozusagen das Grab des Wiener Verkehrs ab, um diesem seine Auferstehung zu erleichtern …

Auf dem Hof steht seit einiger Zeit ein Mann mit einem Sodawasserkarren. Täglich um die Stunde, zu der, den Lichtsparmaßnahmen zufolge, die Nacht unerbittlich eintreten muß, besetzt der Mann seinen Posten. Er ist eine Kombination von Salamutschl- und Würstelmann, eine Neubildung ungefähr, den geänderten Umständen angepaßt. Er verkauft Speck, Sodawasser und Backwerk und ist die einzige Erscheinung im Wiener Nachtleben, die mit ihrem flackernden Gasolinlicht in eine frohe Zukunft weist.

Denn so ist unser »Nachtleben«: Unsere Mitbürger sterben und werden eingesargt wie unsere Vergangenheit, ihre Leichen seziert wie unser Vaterland, die Auferstehung unseres Straßenverkehrs sieht einem Begräbnis verzweifelt ähnlich, und das Licht unserer Hoffnung ist ein irrlichterndes Gasolinflämmchen, das über gesalzenem Amerikaspeck und unerschwinglichen Ersatzmehlspeisen im Nachtwinde taumelt …

Josephus

Der Neue Tag, 23.5.1919

€9,99

Genres und Tags

Altersbeschränkung:
18+
Umfang:
265 S. 10 Illustrationen
ISBN:
9783903005884
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
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