Medienwandel

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Alle Fallstudien dieses Buchs basieren auf einem umfangreichen Quellenstudium. Kapitel 9, 12 und 17 sind Beispiele dafür, wie ein tradiertes Wissen durch ein systematisches Quellenstudium revidiert werden kann. Kapitel 9 widerlegt die Annahme, Charles Chaplins Filme seien universell populär gewesen. Kapitel 12 widerlegt die Auffassung, Leni Riefenstahl transportiere mit ihrem Film OLYMPIA primär die nationalsozialistische Ideologie. In Kapitel 17 wird das international favorisierte Modell über die Rolle Hollywoods auf den Auslandsmärkten widerlegt, demzufolge der US-Film seit Mitte der 1910er-Jahre weltweit dominant gewesen sei. Alle Fallstudien bringen die Vorurteile nicht nur zu Fall, sondern setzen überzeugendere Aussagen an ihre Stelle.

Erforscht man ein Medium im Wandel, ist es erforderlich, es nicht zu isolieren, sondern in seiner Interaktion mit anderen Medien zu sehen. Mediengeschichte wurde über Jahrzehnte als Einzelmediengeschichte geschrieben, also ohne andere Medien systematisch mit in die Analyse eines Mediums einzubeziehen. Heute findet man oft das Gegenteil: Eine Mediengeschichtsschreibung, die von Medien handelt, aber Einzelmedien kaum zur Kenntnis nimmt. Ein Ausweg aus dem Dilemma ist, Mediengeschichte in Bezug auf einzelne Medien wie Film und Fernsehen zu schreiben (denn nur so können Quellen wirklich ausgewertet werden), dabei aber andere Medien mit in die Analyse einzubeziehen, weil diese Funktion und Profil des untersuchenden Mediums mit bestimmen.

Kapitel 15 und 16 zeigen, wie Film und Fernsehen von den 1950er- zu den 1990er-Jahren miteinander interagieren. Zeigt Kapitel 15, wie sich die Mediennutzungsform TAGESSCHAU des Fernsehens in der Auseinandersetzung mit der Kinowochenschau und der Nachrichtensendung des Hörfunks gewandelt hat, so stellt Kapitel 16 dar, wie sich die Institution Kino (neben anderen Faktoren) unter den Bedingungen des immer erfolgreicher werdenden Fernsehens verändert hat.

Darüber hinaus ist es sinnvoll, die kulturellen Referenzsysteme zu reflektieren, indem man eine Medienkultur mit einer anderen vergleicht. Referenzsysteme können unterschiedlicher Art sein: Kultur kann die Kultur einer sozialen Gruppe, einer Generation, einer Stadt, einer Region, eines Landes/einer Nation oder auch die der Welt insgesamt sein.

Oft wählt die Forschung ein Land als Referenzsystem der Kultur, weil dort überwiegend Menschen der gleichen Sprach- und Kulturgemeinschaft leben, die[47] ähnliche kulturelle Praktiken teilen. Am Beispiel von Ländern, in denen die Zusammensetzung der Bevölkerung in einem größeren Maß aus Menschen verschiedener Sprach- und Kulturgemeinschaften bestand, lässt sich ablesen, dass es durchaus aber nicht immer Länder sind, die sich durch eine relative kulturelle Homogenität auszeichnen. Das Beispiel der Tschechoslowakei in den 1930er-Jahren zeigt sehr deutlich, dass die Sprach- und Kulturgemeinschaften der Tschechen, Slowaken, Deutschen usf. starke gemeinsame kulturelle Vorlieben hatten, die sich deutlich voneinander unterschieden. Die Filmpräferenzen der deutschsprachigen Bevölkerung in der Tschechoslowakei etwa waren den Vorlieben der Deutschen in Deutschland ähnlicher als denen der Tschechen.19

Über Jahrzehnte schien das eigene Land als ein selbstverständlicher Bezugspunkt der Medienforschung; Forscher blickten kaum über die jeweiligen nationalen Grenzen hinaus. Heute ist das Pendel beinahe ins andere Extrem ausgeschlagen. Mediengeschichte wird heute oft geschrieben, ohne sie zu lokalisieren; es wird quasi von vornherein unterstellt, dass Medien globale Phänomene seien (was die Fallstudien im zweiten Teil dieses Buchs widerlegen). Man kann diese Fallstricke vermeiden, indem man sich auf ein Land konzentriert (eine Beschränkung des Quellenkontingents ist ein Gebot der Machbarkeit) und dabei die Ergebnisse der Forschung mit der Situation anderer Länder vergleicht (auf der Basis der Forschungsliteratur bzw. einer selektiven Nutzung von Quellen). Auf diese komparatistische Weise lässt sich beurteilen, ob die Medienentwicklung für das eigene Land spezifisch bzw. ob sie in mehreren Ländern ähnlich verlaufen ist. Stellt man kulturelle Varianzen zwischen verschiedenen Ländern fest, so sind diese erklärungsbedürftig.

In jüngster Zeit haben sich Medienhistoriker verstärkt mit der Frage des Kulturtransfers beschäftigt. Die Medienlandschaften zweier Länder – ob es sich dabei um Nachbarländer oder um Länder auf verschiedenen Kontinenten handelt – müssen sich nicht unabhängig voneinander entwickelt haben. In Europa etwa war im 20. Jahrhundert ein intensiver Austausch von Medienprodukten üblich. Sicherlich wurden viele Filme nur für die einheimischen Märkte produziert. Andererseits gab es eine gezielte Produktion für den europäischen Markt (siehe Kapitel 11), also einen Austausch von Filmen über Ländergrenzen hinweg. Deutsche Filme wurden in französischen Kinos gezeigt und französische Filme in deutschen Kinos. Historiker fragen oft danach, wie sich das jeweilige Zielland durch den Kulturaustausch verändert hat. Bei Unterhaltungsprodukten kann man jedoch auch fragen, welchen Unterhaltungswert die Filme eines Landes für das Publikum eines anderen Landes hatten. Sind die ausländischen Filme kulturell zu fremd, sind sie beim Publikum oft chancenlos, da ihnen der bewährte Unterhaltungswert fehlt. Das Publikum wirkt in diesem Fall wie ein Filter, der verhindert, dass der Kulturtransfer die Kultur des Ziellandes nachhaltig verändert.

[48]Kapitel 10, das sich mit unterschiedlichen Übersetzungsverfahren fremdsprachiger Filme beschäftigt, ist ein Beispiel für ein komparatistisches Vorgehen. Erst im Ländervergleich wird deutlich, dass sich in unterschiedlichen Ländern spezifische Übersetzungsverfahren etabliert haben. So lässt sich zeigen, dass die Synchronisation eines fremdsprachigen Films in der eigenen Sprache nur in Deutschland, Italien und Spanien zur dominanten Übersetzungspraxis wurde.

Kapitel 9, 12 und 14 sind Beispiele für Kulturtransfer. In Kapitel 9 wird untersucht, wie erfolgreich Charles Chaplins Filme beim deutschen Publikum der 1920er- und 1930er-Jahre waren. Kapitel 12 analysiert, wie Leni Riefenstahl ihren Film OLYMPIA in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre so gestaltet hat, dass er eine Chance hatte, international erfolgreich zu werden. Kapitel 14 untersucht, warum für das deutsche Publikum der 1950er-Jahre die Nazis aus dem Film CASABLANCA herausgeschnitten wurden.

Da das Angebot an Medientechnologien und -nutzungsformen in aller Regel sehr vielfältig ist und die privaten Mediennutzer daraus eine Auswahl treffen, ist es sinnvoll, die Dynamik von Angebot und Nachfrage zu analysieren. Eine Vielzahl angebotener Filme bilden Angebotsmuster, etwa hinsichtlich ihrer nationalen Herkunft oder ihrer Genres. Filme, die vom Publikum favorisiert werden, bilden miteinander Erfolgsmuster in dem Sinn, dass bestimmte Filmtypen stärker als andere vertreten sind. Um die Filmvorlieben diverser Kinopublika historisch zu untersuchen, gibt es eine Fülle von bisher nicht ausgeschöpften Möglichkeiten. Das wichtigste – aber nicht das einzige – Forschungsinstrument, um Aussagen über die Präferenzen bestimmter Kinopublika machen zu können, ist die Filmerfolgsrangliste – also eine Liste, die die Filme nach ihrem Erfolg bei einem bestimmten Publikum in einem bestimmten Zeitraum (also etwa einer Spielzeit oder einem Kalenderjahr in einem bestimmten Land oder einer Region) hierarchisiert. Die auf dieser Basis beruhenden Erfolgsranglisten zeigen, wie das Publikum die große Zahl der angebotenen Filme tatsächlich genutzt hat. Da Anbieter keineswegs nur das anbieten, was das Publikum favorisiert, unterscheiden sich die Erfolgs- von den Angebotsmustern mitunter erheblich. Die Differenz zwischen beiden Mustern kann für ein Verständnis der Medienkultur sehr aufschlussreich sein.

Die Fallstudien dieses Buchs, die mit einem empirisch-vergleichenden Begriff von Popularität arbeiten, nutzen Daten über den Erfolg von Filmen beim Publikum ebenso wie Daten über das Angebot, auf deren Basis sich der Erfolg erst interpretieren lässt. Kapitel 11 zeigt an einem Beispiel aus den 1920er- und 1930-Jahren, wie Filmproduzenten sich auf die Produktion eines bestimmten Filmtyps spezialisiert haben. Kapitel 8 macht deutlich, wie die europäischen[49] Kinopublika in den 1930er-Jahren die Fülle der angebotenen Filme hoch selektiv genutzt haben.

Die medialen Produkte, die der Mediennutzer selektiert, können sich in unterschiedlicher Art und Weise aufeinander beziehen. Als intermedial bezeichnet man die ästhetische Beziehung zwischen zwei Produkten unterschiedlicher Medien, als intertextuell die Beziehung zwischen zwei Produkten des gleichen Mediums. Fälle von Intermedialität liegen etwa vor, wenn sich frühe Filme der Ästhetik des magischen Illusionstheaters bedienen oder wenn sich die TAGESSCHAU des Deutschen Fernsehens in den 1950er-Jahren am Modell der Kino-Wochenschau orientiert. Wenn sich dagegen z. B. die frühen Filme von Roland Emmerich am US-amerikanischen Science-Fiction-Film orientieren oder wenn mit CASINO ROYALE (GB/USA 1967) eine filmische Parodie auf die James-Bond-Filme realisiert wird, dann sind dies Beispiele für Intertextualität.

Beide begrifflichen Konzepte stehen in der Tradition der Literaturwissenschaft, die sich im Wesentlichen für Texte und ihre Beziehung zueinander interessiert. Der Autor dieses Buchs hat für ein erweitertes Konzept der Intermedialität plädiert, das über die Texte hinaus auch die Kontexte einbezieht (wie Aufführungs- und Programmformen, Produktions- und Vertriebsformen).20

Kapitel 6 und 15 geben Beispiele für eine intermediale Analyse im hier definierten Sinn. Kapitel 6 zeigt u. a., dass sich das Kino der Jahrmärkte sowohl hinsichtlich der Filminhalte als auch hinsichtlich der Programmform an der erfolgreichen Unterhaltungsinstitution des Varietés orientierte. Kapitel 15 macht anschaulich, dass die TAGESSSCHAU des Deutschen Fernsehens ihr Modell in den 1950er-Jahren an der Kino-Wochenschau fand, während sich das Gesamtprogramm des Fernsehens an dem des Kinos orientierte.

 

Sinngemäß lässt sich das Konzept der Intertextualität auch auf Kontexte erweitern – man müsste dann sinnvollerweise einen anderen Begriff prägen, wie zum Beispiel den der Intramedialität (der teilweise auch synonym mit Intertextualität verwendet wird), der nicht nur die Beziehungen auf Text-, sondern auch auf Kontextebene erfasst. Ein Beispiel dafür ist etwa, dass sich die ersten ortsfesten Kinos hinsichtlich ihrer gezeigten Filme an den Programmangeboten der Jahrmarktkinos orientiert haben, worauf Kapitel 7 eingeht.

Zur Wahrnehmung des Medienwandels

Die Analyse des Medienwandels wird nur dann gelingen, wenn wir in die Analyse nicht nur eine Vielzahl von Fakten einbeziehen, sondern darüber hinaus auch bedenken,[50] dass unsere Wahrnehmung der Fakten die Art und Weise mitbestimmt, wie wir den Medienwandel beschreiben. Dies lässt sich klar daran zeigen, ob wir Mediengeschichte als evolutionären Prozess der kleinen Schritte oder als revolutionären Prozess in der Form von Umbrüchen begreifen. Mit dem Wort Umbruch wird allgemein eine plötzliche, radikale Veränderung eines bis dahin kontinuierlich verlaufenden Prozesses bezeichnet. Als Medienumbruch kann somit eine besondere Form des Medienwandels gelten, nämlich ein Wandel, der sich nicht evolutionär, sondern revolutionär vollzieht. Man kann den Begriff sowohl für die Struktur des Medienwandels als auch für seine Auswirkungen verwenden. Im ersten Fall geht man davon aus, dass sich die Etablierung neuer Medien als radikale Abkehr des Tradierten vollzieht. Verwendet man den Begriff zur Bezeichnung der Folgen des Medienwandels, dann behauptet man, seine kulturellen Auswirkungen seien so tief greifend, dass sich in der Folge der Etablierung neuer Medien die Kultur und die Gesellschaft radikal gewandelt haben.

Vier Faktoren spielen dabei eine Rolle, wie Forscher einen Medienwandel wahrnehmen:

Ob ein Medienwandel als Medienumbruch wahrgenommen wird, hängt erstens vom kulturgeografischen Bezugsrahmen ab, von dem aus der Medienwandel beurteilt wird. Die Wahrnehmung ändert sich je nachdem, ob die Weltkultur, die Kultur eines Landes oder die einer sozialen Schicht als Bezugsrahmen für die Wahrnehmung des jeweiligen Medienwandels gewählt wird.

Man kann zum Beispiel argumentieren, dass das lange Kinodrama (mehr dazu in Kapitel 7) um 1910 keine Innovation darstellt, da es Dramen bereits seit der Antike gibt. Verändert man dagegen den Bezugsrahmen, dann lässt sich die Etablierung des Kinodramas als Umbruch deuten. Zum einen kann man argumentieren, die Einführung langer Dramen sei ein intramedialer Umbruch gewesen, da es zuvor im Kino keine vergleichbaren Dramen gegeben hat. Zum anderen lässt sich argumentieren, dass die Etablierung des Kinodramas deshalb ein Medienumbruch war, weil der größte Teil der Zuschauer, die ins Kino gingen, keine Dramen auf dem Theater gesehen hatte, weil das Theater in Deutschland um 1900 im Unterschied zum Kino im Wesentlichen eine Angelegenheit der oberen sozialen Schichten war.

Ob ein Medienwandel als Medienumbruch wahrgenommen wird, hängt zweitens von der zeitlichen Perspektive ab, die der Forscher wählt: Je näher er am Objekt ist, desto wahrscheinlicher erscheint ein Medienwandel als »evolutionär«; je größer die zeitliche Distanz jedoch ist, desto grundlegender oder »revolutionärer« wird ein Medienwandel erscheinen. Verfolgt man in chronologischer Reihenfolge die Etablierung eines neuen Mediums, so erscheint dieser Prozess mit großer Wahrscheinlichkeit als ein Prozess der kleinen Schritte. Macht man jedoch zwei Zeitschnitte – den ersten in dem Moment, in dem ein neues Medium in den Markt[51] eingeführt wird, und den zweiten dann, wenn es sich etabliert hat, wird man den Wandel eher als Umbruch wahrnehmen.

Vergleicht man zum Beispiel die Zeit um 1895 zur Einführung des Films in den Markt mit dem Jahr 1914, dann erscheint dieser Medienwandel als plötzlicher Bruch einer kontinuierlichen Entwicklung. 1896 war die Reichweite des neuen Mediums Film noch relativ gering: Artisten und Schausteller präsentierten Programme »bewegter Bilder«, die kaum länger als 15 Minuten dauerten, überwiegend in Großstädten. 1914, also weniger als zwei Jahrzehnte später, gab es knapp 2.500 ortsfeste Kinos in deutschen Groß-, Mittel- und Kleinstädten, die abendfüllende Filmprogramme boten und bis zu 250 Millionen Eintrittskarten pro Jahr verkauften. Betrachtet man diesen Medienwandel jedoch, indem man der Chronologie der Ereignisse von 1895 bis 1914 sukzessive folgt, dann zeigt sich die Etablierung des Films als ein komplexer Prozess mit vielen Zwischenstufen. Der Prozess scheint aus dieser Binnenperspektive betrachtet als evolutionär, aus der Außenperspektive dagegen als revolutionär.

Ob ein Medienwandel als Medienumbruch wahrgenommen wird, hängt drittens von der Persönlichkeit des Forschers ab: Je aufgeschlossener für Neuerungen jemand ist, desto weniger radikal wird ihm eine Veränderung erscheinen. Je konservativer jemand ist, desto stärker wird er eine Veränderung als Umbruch wahrnehmen. Man kann auch sagen: Je stärker jemand für Veränderungen aufgeschlossen ist, desto weniger abrupt erscheint ihm ein Medienwandel, weil er mehr erwartet hat. Je stärker jemand an der Tradition festhält, desto mehr wird er einen Medienwandel als Medienumbruch wahrnehmen, da er jeglichem Wandel gegenüber skeptisch ist.

Viertens hängt die Art, wie ein Medienwandel wahrgenommen wird, von dem Forschungskontext ab, in dem der jeweilige Medienhistoriker steht. An einem Institut, an dem ein chronologisches Vorgehen in kleinen Schritten für verbindlich gehalten wird, werden Mitarbeiter einen Medienwandel kaum als Umbruch wahrnehmen. In einem Sonderforschungsbereich zum Thema Medienumbrüche ist es dagegen außerordentlich schwierig, den Medienwandel nicht als revolutionären Prozess zu interpretieren.

Unabhängig von der Art des Wandels selbst hängt die Frage, ob ein Medienwandel als Evolution oder als Revolution wahrgenommen wird, also auch von Faktoren ab, die mit dem Wandel selbst nichts zu tun haben, sondern »im Auge des Betrachters« liegen. Die Analyse des Medienwandels ist also ein relativ komplexer Prozess, da es notwendig ist, eine Fülle von Fakten unter Benutzung klarer begrifflicher Konzepte zur Kenntnis zu nehmen und zugleich das Referenzsystem der eigenen Wahrnehmung zu reflektieren.

[52][53]4. Was treibt den Medienwandel voran?

Will man den Medienwandel erklären, muss man sich den Medienproduzenten und den Mediennutzern zuwenden. Medien werden von privaten Nutzern, den Konsumenten, und von professionellen Nutzern wie Wissenschaftlern, Journalisten, Börsenhändlern oder Immobilienmaklern verwendet. Mediennutzer lesen Bücher, Tageszeitungen, telefonieren, schauen fern, gehen ins Kino oder nutzen das Internet. Es gibt natürlich auch Medientechnologien, die ausschließlich von Medienproduzenten genutzt werden, wie zum Beispiel die professionelle Filmkamera oder Scanner zur Digitalisierung und Software zur Restaurierung von analogem Filmmaterial. Auch diese Medientechnologien dienen jedoch in letzter Instanz dem Mediennutzer: Ohne sie könnte er sich im Kino nicht unterhalten lassen und alte Filme nicht in herausragender Qualität genießen.

Beide Gruppen sind aufeinander angewiesen: Ohne Medienproduzenten gibt es kein Angebot, das private oder professionelle User nutzen könnten. Und ohne Mediennutzer kann kein Produzent seine Medien »unter die Leute bringen«. Wie unterschiedlich ihre Interessen auch sein mögen, erst das Zusammenspiel beider Gruppen, der Medienmacher und -nutzer, ermöglicht, dass Medien etabliert, verbreitet und differenziert werden.

Attraktivität der Medienangebote

Medienproduzenten können unterschiedliche Handlungsmotive haben: Sie können von ideellen oder von finanziellen Motiven angetrieben werden. Zu den ideellen Motiven zähle ich zum Beispiel die Schaffung von Webseiten mit hoch spezialisiertem Wissen (wie z. B. zu den deutschen Synchronfassungen von Walt-Disney-Filmen) oder auch Webseiten, die der Selbstdarstellung dienen (wie z. B. Homepages von Privatpersonen). Da Medienproduzenten in der Regel von ihrer Arbeit leben müssen, werden sie meistens versuchen, mit ihrer Arbeit Gewinne zu erzielen. Bei der Suche nach Möglichkeiten der Gewinnmaximierung werden oft neue Medien eingesetzt – Kapitel 6 zeigt dies am Beispiel des Films. Grundsätzlich können Gewinne maximiert werden, indem man Einsparungen vornimmt (z. B. Verringerung des Personalbestands, Einsatz von Maschinen bei der Fertigung von medientechnischen Geräten, Senkung der Vertriebs- und Werbekosten usf.) oder die Einnahmen steigert (u. a. Verteuerung des Medienangebots; Qualitätsverbesserung, um den Absatz zu erhöhen). Will man sehr viele Menschen unterhalten, ist die Medientechnologie Film ein Mittel einer derartigen Kostenreduktion. Die technische Reproduzierbarkeit von Schauspielen macht sie zu deutlich geringeren[54] Kosten einsetzbar. Müssen Schauspieler am Theater für jede Vorstellung bezahlt werden, so müssen Schauspieler beim Film nur einmal entlohnt werden.

Medienmacher erreichen eine Steigerung der Nachfrage dadurch, dass sie den Nutzern bieten, was für sie von Vorteil ist. Eine weit verbreitete Überzeugung ist, dass der Medienproduzent den privaten Nutzer durch Werbung manipulieren kann. Der Autor dieses Buchs ist der Auffassung, dass dies nur sehr bedingt möglich ist. Nach allen bekannten Umfragen ist die Mund-zu-Mund-Propaganda für den Erfolg von Filmen wichtiger als die Werbung. Die US-Filmwirtschaft zum Beispiel weiß das und startet neue Blockbuster heute mit einem riesigen Werbeaufwand und einer extrem hohen Kopienzahl, um bereits am ersten Wochenende einen möglichst großen Umsatz zu erzielen. Hat sich erst herumgesprochen, dass ein Film nicht hält, was er verspricht, geht die Nachfrage an der Kinokasse deutlich zurück. Aber auch wenn Sie der Überzeugung sind, dass Konsumenten manipulierbar sind – selbst dann bleibt die Aussage richtig, dass in letzter Instanz immer der Konsument über den Erfolg einer Medientechnologie oder -nutzungsform entscheidet (nur dass in diesem Fall sein Wille nicht »frei« ist).

Kapitel 8, 9 und 17 zeigen Fälle, in denen Medienangebote von den Mediennutzern nur bedingt genutzt werden. Auch wenn ein Großteil der US-amerikanischen Filmproduktion – darunter auch die Filme von Charles Chaplin – in deutschen Kinos gezeigt wurden, so wurden sie von den deutschen Zuschauern von den 1920er- bis zu den 1960er-Jahren nur selektiv genutzt (von bestimmten Segmenten des Publikums bzw. vom großen Publikum nur bestimmte Filme).

Folgende Überlegungen zum Verhalten der Mediennutzer gehen davon aus, dass sie sich in der Regel für ein Medium entscheiden, das für sie von Vorteil ist. Der Verbraucher entscheidet sich möglicherweise für einen bestimmten DVD-Rekorder, weil er preiswerter ist. Ein Journalist benutzt die Suchmaschine von Google, weil sie ein geeignetes Instrument ist, um Informationen für einen Artikel zu finden. Ein Autor schickt seinem Lektor ein Manuskript per E-Mail, weil diese Form der Kommunikation schneller als der traditionelle Postweg ist.

Natürlich können sich Mediennutzer auch deshalb für ein Medium entscheiden, weil sich bereits viele andere dafür entschieden haben oder weil Menschen, die mit Autorität ausgestattet sind, dies empfehlen. Ein Kind kann seine Eltern deshalb um ein Smartphone bitten, weil seine Klassenkameraden in der Schule auch eines haben. Der Professor empfiehlt seinen Studenten mit Nachdruck, sich für das Studium einen Computer anzuschaffen. Der Student wird seinen Computer und das Kind sein Smartphone aber auf Dauer nur nutzen, wenn diese Medien für sie einen wie auch immer gearteten Nutzwert haben.

[55]Grundsätzlich sind drei Faktoren zu unterscheiden, die Medienangebote für Nutzer attraktiv machen. Alle Faktoren können mit unterschiedlicher Gewichtung für die Wahl, die Mediennutzer treffen, relevant sein; für ihre Wahl kann auch ein einzelner Faktor ausschlaggebend sein.


1.Das Medienangebot als solches kann in mehrfacher (u. a. technischer, kultureller, ethischer, ökologischer) Hinsicht als attraktiver bewertet werden. Mit anderen Worten formuliert: Ein bestimmtes Medienangebot (eine Medientechnologie oder -nutzungsform) kann für den privaten Mediennutzer einen höheren Wert (oft, aber nicht immer, einen größeren Nutzwert) als ein anderes haben.
2.Der Zugang zum Medienangebot kann als attraktiver bewertet werden. Mit anderen Worten: Das Angebot kann verfügbarer oder besser erreichbar sein.
3.Der Preis für das Medienangebot kann als attraktiver gelten. Anders ausgedrückt: Das Medienangebot kann preiswerter (oft sogar kostenlos) oder – in einigen Fällen – auch kostspieliger sein.

Zu 1.: Neue Medien können für ihre Nutzer in mehrfacher (u. a. technischer, kultureller, ethischer, ökologischer) Hinsicht als qualitativ attraktiver bewertet werden. Jede Erfindung einer Medientechnologie will das Defizit einer älteren beheben und wird diesbezüglich interpretiert und bewertet. Oft wird eine neue Medientechnologie als Optimierung einer älteren gesehen. Der Film gilt als eine Verbesserung der Fotografie, da er die Darstellung von fotografischen Bewegtbildern erlaubt. Das Fernsehen wird als Optimierung der Filmtechnologie verstanden, da es die Wiedergabe von Bewegtbildern ohne Zeitverzögerung ermöglicht. Das Kopieren von Bildern oder Texten wird digital perfektioniert. Bei jedem analogen Kopiervorgang gibt es einen Qualitätsverlust – häufig kopierte Videobänder oder Filme verlieren zunehmend an Qualität, bis sie nur noch Geisterbilder zeigen; erst die digitale Kopie kann grundsätzlich verlustfrei hergestellt werden.

 

Attraktiv kann ein Medienangebot aber nicht nur in technischer Hinsicht sein: Neue Mediennutzungsformen bieten den Zuschauern ebenso eine neue Qualität. Die Wochenschau der Kinos zeigte ab den 1910er-Jahren erstmals breiten Bevölkerungsschichten regelmäßig wochenaktuelle Bilder, die die Berichterstattung der Tageszeitungen über aktuelle Ereignisse illustrierten. Die TAGESSCHAU des Deutschen Fernsehens war in den 1960er-Jahren ein innovatives Format, das Bilder zu den gesprochenen Nachrichten ergänzte und damit einen klaren Mehrwert gegenüber den Hörfunknachrichten (keine Bilder) und der Kino-Wochenschau (keine Nachrichten) hatte.

Ein Medienangebot kann auch deshalb als attraktiver angesehen werden, weil es ethisch oder ökologisch vertretbarer ist. Ein Käufer mag sich gegen ein iPhone[56] entscheiden, weil es unter menschenunwürdigen Bedingungen produziert wurde.21Ein anderer Käufer mag sich für ein bestimmtes Fernsehgerät entscheiden, weil es weniger Strom verbraucht als ein anderes oder weil es bestimmte Schadstoffe (wie Cadmium) nicht enthält.

Die Frage, was attraktiver ist, entscheidet der Nutzer: Die Präferenzen der Nutzer unterscheiden sich zwischen Ländern, sozialen Schichten, den Generationen, den Geschlechtern, hinsichtlich verschiedener Persönlichkeitsprofile und hinsichtlich des Lebensalters.

Die Attraktivität von Medientechnologien kann für Mediennutzer verschiede- ner Länder unterschiedlich stark sein. Hierfür bietet das hochauflösende Fernsehen (HDTV) ein Beispiel. HDTV wird in zwei verschiedenen Auflö- sungen produziert, als 720p bzw. als 1080i (1280 × 720 bzw. 1920 × 1080 Bildpunkte, s. Abb.). Während das Standard-Fernse- hen in Japan und den USA beim Format 16:9 mit 853 × 480 Pixeln arbeitet, funktioniert das Standard-Fernsehen in Europa mit 1024 × 576 Pixeln. Im Vergleich zum Standard-Fernsehen (SDTV) ist das hochauflösende Fernsehen für Japaner und US-Amerikaner attraktiver als für Europäer, da die Standardauflösung des in Ja- pan und den USA verbreiteten NTSC geringer und damit der Qualitätssprung zum HDTV offensichtlicher ist. Da zudem Fernsehsender wie ARD und ZDF mit einer Auflösung von 720p statt mit 1080i senden, wird deutlich, um wie viel kleiner der Attraktivitätsgewinn des hochauflösenden Fernsehens für deutsche Fernsehzuschauer ist. Die aktuelle Entwicklung hin zum ultrahochauflösenden Fernsehen (UHDTV) zeigt sich dagegen als deutlicher Qualitätssprung, da die Auflösung von 3840 × 2160 Bildpunkten das Vierfache des Full-HD beträgt – bisher gibt es allerdings kaum ein entsprechendes Angebot an medialen Inhalten.


Vergleich der Auflösung international gebräuchlicher TV-Normen

(Sjr und Andreas Hornig, Wikipedia)

Die Attraktivität eines Medienangebots kann sich auch hinsichtlich des Alters der Mediennutzer unterscheiden. Während Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender wie NACHTCAFÉ oder MENSCHEN BEI MAISCHBERGER bevorzugt von älteren Zuschauern gesehen werden, so finden die Dokusoaps bzw. Pseudo-Dokusoaps (Scripted Reality) der privaten Sender – von der Schönheits-OP über die Supernanny zur Schuldnerberatung – eher ein jüngeres Publikum. In der Wahrnehmung[57] der Wochenzeitung Die Zeit gelten die vorzugsweise nachmittags ausgestrahlten Pseudo-Dokusoaps als negativ besetzte Unterhaltung von Hartz-IV-Empfängern: »Wer gerne die stille Verwahrlosung einsamer, sozial inkompetenter Menschen beobachtet oder gerade andersherum die rasende Verzweiflung verschuldeter Spielsüchtiger oder die gewaltsame Eskalation von Eifersuchtsdramen präferiert, wird hier fündig.«22

U. a. in den Kapiteln 8, 9 und 14 wird gezeigt, wie Nutzer über die Attraktivität von Medienangeboten entscheiden. Kapitel 8 macht deutlich, dass das deutsche Publikum der 1930er-Jahre US-amerikanische Filme weit weniger unterhaltsam fand als deutsche. Kapitel 9 zeigt, dass Chaplins Filme für die deutsche Mittelschicht keinen Unterhaltungswert hatten, wohl aber für deutsche Intellektuelle und Arbeiter. Kapitel 14 erklärt, warum das deutsche Kinopublikum der 1950er-Jahre keine Nazis in US-Filmen sehen wollte.

Zu 2.: Der Zugang zum Medienangebot kann von Nutzern als besser bewertet werden. Verfügbarkeit bezieht sich nicht nur auf die Erreichbarkeit von Technologien (wie Smartphones oder Fernseher), sondern auch auf die Verfügbarkeit von Mediennutzungsformen (wie Fernsehserien oder Filmen) und, noch weiter gefasst, auch auf die Verfügbarkeit von Bildern oder Informationen.

Gegenüber gedruckten Enzyklopädien ist das Wissen über Online-Enzyklopädien nicht nur besser verfügbar, sondern darüber hinaus auch aktueller. Die Wikipedia zum Beispiel ist leichter verfügbar als der Brockhaus. In der Regel wird der Nutzer eine öffentliche Bibliothek zu den üblichen Öffnungszeiten aufsuchen müssen, um die 30-bändige Brockhaus-Enzyklopädie nutzen zu können. Die Wikipedia kann zu jeder Zeit von (beinahe) jedem Punkt der Welt aus benutzt werden – vorausgesetzt der Nutzer hat Zugriff auf ein entsprechendes Endgerät mit einem Onlinezugang (wie u. a. einen PC oder ein Smartphone).

Während das Wissen einer gedruckten Enzyklopädie nur über die alphabetisch sortierten Artikel zugänglich ist, kann die Online-Enzyklopädie zudem auf Wörter durchsucht werden, zu denen es keinen eigenen Eintrag gibt. Die Informationen, die die Wikipedia enthält, sind zudem aktueller als die der gedruckten Enzyklopädien. In der 21. Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie, die in den Jahren 2005 und 2006 erschienen ist, ist der Tod von Udo Jürgens am 21. Dezember 2014 naturgemäß nicht verzeichnet. In der Wikipedia stand das Todesdatum bereits kurz nach dem Bekanntwerden am selben Tag.23

Ist die schnellere Information gesellschaftlich von Bedeutung, dann sind die Medientechnologien klar im Vorteil, die Informationen so übertragen können, dass sie in dem Moment, in dem sie verbreitet werden, beim Empfänger eintreffen. Im Vergleich zur Tagespresse etwa haben neue Medientechnologien wie der[58] Rundfunk bzw. das Internet den Zugang zu Nachrichten beschleunigt. Im Vergleich zur traditionellen Post hat die E-Mail das Tempo des schriftlichen Austauschs von Informationen in einem erheblichen Maß gesteigert.

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