Medienwandel

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Kapitel 15 gibt ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich die Mediennutzungsform einer neuen Medieninstitution an der erfolgreichen Mediennutzungsform einer bereits etablierten Medieninstitution orientiert. Die TAGESSCHAU des Deutschen Fernsehens fand ihr Vorbild in den 1950er-Jahren zunächst in der Wochenschau der Kinos. Wie diese bot sie eine unterhaltende Bilderschau ohne den Anspruch, Nachrichten zu vermitteln. Als in den 1960er-Jahren der Anspruch erhoben wurde, die TAGESSCHAU solle Nachrichten vermitteln, wurden die Hörfunknachrichten zu einem neuen Modell für diese Sendung.

Welche Rolle spielen die Grundfunktionen der Medien heute? Kommunikation und Orientierung via Wissenserwerb sind überlebenswichtige Funktionen von Gesellschaften, Unterhaltung ist dagegen eher ein Luxus. Stellen Sie sich vor, dass in unserer Gesellschaft von einem auf den anderen Tag die mediale Kommunikation jedweder Art unmöglich wird. Handwerk, Einzelhandel, Warenproduktion und -distribution – alles käme zum Erliegen. Und stellen Sie sich vor, dass es keine mediale Wissensaneignung mehr gäbe. Auch hier käme die Gesellschaft zum Erliegen – nicht so schnell wie bei der Unterbindung jedweder Kommunikation, aber doch zumindest in der folgenden Generation, da Wissen immer wieder neu erlernt werden muss. Bei Unterhaltung verhält es sich anders: Die Gesellschaft würde ärmer; Menschen langweilten sich, hätten weniger Freude am Leben, das Klima zwischen ihnen würde vielleicht schroffer und sicherlich bräche die Unterhaltungsindustrie ein und es käme damit zu einer wirtschaftlichen Krise. Die Gesellschaft selbst wäre aber kaum in ihrem Überleben gefährdet. Auch wenn mediale Unterhaltung also ohne Zweifel wichtige Funktionen für eine Gesellschaft erfüllt, so ist sie doch im Unterschied zu medialer Kommunikation und[32] zum medialen Wissenserwerb nicht in vergleichbarem Maß überlebenswichtig. Da sie eher ein Luxus ist, wächst die Unterhaltungsbranche in Gesellschaften umso stärker, je größer ihr Wohlstand ist – je reicher die Bevölkerung ist und je mehr Freizeit sie hat.

[33]2. Was bedeutet Wandel?

Grundsätzlich lässt sich eine Geschichte der Medien oder eine Geschichte der Diskurse über die Medien schreiben. Eine Geschichte der Medien handelt von der Erfindung, Etablierung, Verbreitung und Differenzierung neuer Medien. Sie stellt die Etablierung von Medieninstitutionen und neuen Nutzungsformen dar, sie analysiert die Rolle von Marketingmaßnahmen bei der Verwertung und erörtert die Rolle des Publikums bei der Durchsetzung des jeweils neuen Mediums.

Technische Verbreitungsmittel von Informationen zwischen Menschen wandeln sich ebenso wie ihre Nutzungsformen sowie die Institutionen, die sie verwenden bzw. hervorbringen. So hat sich mit der Verbreitung des Mobiltelefons die Kommunikationstechnologie grundlegend verändert, die Etablierung der Nachrichtensendung im Fernsehen hat zu einer grundlegenden Neuerung der Fernsehformate geführt, und die Etablierung der privaten Fernsehsender hat die Medienlandschaft aufgemischt.

Die Geschichte der Medientechnologien, -nutzungsformen und -institutionen ist vielfach miteinander verknüpft. Die Medienhistoriografie interessiert sich jedoch nicht für Medientechnologien an sich, sondern nur, soweit sie für kommunikative, bildende oder unterhaltende Zwecke genutzt werden. Eine Medientechnologie wird also erst dann für die Medienhistoriografie interessant, wenn sie von Institutionen für die Informationsübermittlung genutzt wird und diese zu diesem Zweck bestimmte Nutzungsformen ausbilden. Geht man von den drei genannten Grundfunktionen der Medien aus, dann ist Mediengeschichte Bestandteil einer Kommunikations-, Wissens- und Unterhaltungsgeschichte.

Eine Geschichte der Mediendiskurse zeigt dagegen, wie über die neuen Medien gesprochen bzw. geschrieben wurde. Wie werden neue Medien wie der Film in älteren wie der Presse repräsentiert? Und welche Rolle spielten Diskurse für die Etablierung neuer Medien? Welche Rolle spielte etwa der Diskurs der Kinoreformer im deutschsprachigen Bereich, der das Kino um 1910 äußerst kritisch begleitet hat, für die Etablierung des Films als Kino? In der Regel wird die Etablierung neuer Medien von einem kulturkritischen Diskurs begleitet – so war es bei der Durchsetzung des Films in den 1910er-Jahren, der Etablierung des Fernsehens in den 1950er-Jahren oder der Durchsetzung des Internets in den 1990er-Jahren.

Alle Fallstudien im zweiten Teil dieses Buchs beziehen sich auf die Medien selbst und beziehen den Diskurs über die Medien, wenn überhaupt, nur mittelbar ein (wie zum Beispiel Kapitel 9 und 14).

[34]Der Begriff des Wandels

Als Geschichte wird oft bezeichnet, was endgültig vorbei ist (»Der analoge Fernsehempfang wird bald Geschichte sein.«) oder was als bedeutend gilt (»Barack Obama hat als erster schwarzer Präsident der USA Geschichte geschrieben.«). In diesem Buch werden vergangene Zeitverläufe, mit denen wir uns beschäftigen, um uns heute besser orientieren zu können, mit dem Begriff Geschichte bzw. dem des Wandels bezeichnet.

Während Historiker den Begriff der Geschichte verwenden, bevorzugen Sozialwissenschaftler den Begriff des Wandels. Mit dem Begriff Geschichte wird stärker die Beschreibung einer Veränderung erfasst, während mit dem Begriff des Wandels in einem größeren Maß die Erklärung in den Blick gerät. Wenn ich den Begriff des Wandels bevorzuge, so gerade deshalb, weil es mir darum geht, eine Veränderung nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären.

Die Beschäftigung mit historischen Prozessen findet immer von heute aus statt, auch wenn man einen Zeitverlauf in chronologischer Reihenfolge nachvollzieht. Die Historiografie artikuliert dabei ein bestimmtes Interesse an der Vergangenheit und öffnet damit den Blick zurück in einer stark gerichteten Form. Nicht alles, was war, gerät in das Blickfeld, sondern nur das, was heute interessiert. Dies bedeutet nicht, dass Geschichtsschreibung nur Ausdruck unterschiedlicher Interessen ist. Es bedeutet nur, dass die Auswahl des Untersuchungsgegenstands interessengeleitet ist. Die Ergebnisse der Forschung können und sollten frei von Bewertungen der Forscher sein.

Historische Veränderungen können sich über ganz unterschiedliche Zeiträume erstrecken. Die Etablierung der Institution Kino hat sich zum Beispiel innerhalb von weniger als 20 Jahren vollzogen, während der Prozess der kulturellen Differenzierung des Mediums Film seit Ende des 19. Jahrhunderts bis heute nicht abgeschlossen ist.

Zeitabläufe haben weder einen Anfang noch ein Ende. Für die Erforschung des Wandels ist es allerdings grundsätzlich sinnvoll, Eckdaten zu setzen. Wird die Erfindung des Films auf das Jahr 1895 datiert, so gibt es bisher [2015] kein Enddatum, da es immer noch Filme gibt. Die Festsetzung des Jahres 1895 als »Geburtsjahr« des Films ist jedoch – wie ich in Kapitel 5 zeigen werde – durchaus problematisch und kann mit guten Gründen bezweifelt werden. Auch wenn Ereignisse wie die Erfindung des Films datiert werden können, so sind sie nie voraussetzungslos. Bereits vor 1895 gab es eine Tradition des Bewegtbildes, von utopischen bzw. dystopischen Visionen, die textlich und bildlich fixiert wurden, über mit der Laterna Magica projizierte Bilder bis hin zu den von Thomas Alva Edison Anfang der 1890er-Jahre aufgenommenen Filmen, die in Guckkästen, den Kinetoscopen, vorgeführt wurden.

[35]Strukturen und Richtung des Wandels

Es ist eine zentrale Aufgabe jeder historisch orientierten Wissenschaft, die Strukturen eines Wandlungsprozesses ebenso zu analysieren wie seine Richtung.17 Geschichte ist nicht chaotisch. Jeder geschichtliche Prozess weist ein grundlegendes Charakteristikum auf, das man meist als Struktur bezeichnet (aber auch Muster oder Pattern genannt werden kann). Unter Struktur versteht man das Muster, das sich ergibt, wenn mehrere Elemente miteinander interagieren. In der Geschichtsschreibung geht es nicht um die Momentaufnahme einer Struktur, sondern gewissermaßen um Reihenbilder der Strukturen des Wandels.

Warum weist das, was wir Geschichte nennen, eine analysierbare Struktur auf? Man kann zu der Auffassung kommen, Geschichte sei das Produkt von höheren Kräften, die – entsprechend dem eigenen Glauben – als Gott, Schicksal, Natur, Kultur oder System bezeichnet werden. Mediengeschichte wie Geschichte überhaupt wird jedoch nicht von überpersönlichen Kräften, sondern von Menschen gemacht – Menschen als sozialen Wesen, charakterisiert über ihre Funktion als Produzenten, Autoren, als Kritiker, als Redakteure und als Konsumenten.

Keine Person – wie stark auch immer ihre Position in Wirtschaft und Gesellschaft sein mag – kann den Prozess der Etablierung und Verbreitung eines neuen Mediums allein kontrollieren und gestalten. Medienwandel ist immer von einer Vielzahl von Menschen abhängig, die Medienangebote machen und diese wahrnehmen. Alle diese Menschen denken sich etwas bei ihrem Handeln, alle verfolgen bestimmte Ziele (der eine will Geld verdienen, der andere sich vergnügen), viele treffen dabei konträre Entscheidungen (der eine wechselt von einem Festnetzanschluss zu einem Mobiltelefon, der andere nicht). Auch wenn die Entscheidungen einzelner Mediennutzer oft bewusst und planvoll sind, so wird der Gesamtprozess als solcher von niemand geplant. Die Struktur des Wandels entsteht dadurch, dass viele verschiedene Menschen in unterschiedlichen Funktionen, z. B. Medienproduzenten und Mediennutzer, an einem solchen Prozess teilnehmen. Entscheiden sich Millionen Menschen an der Kinokasse für Filme des eigenen Landes, dann entsteht ein Präferenzmuster, das in Kapitel 8 exemplarisch für das Europa der 1930er-Jahre analysiert wird. Entscheiden sich Milliarden Menschen für ein Smartphone, dann setzt sich diese neue Medientechnologie weltweit am Markt durch.

 

Ungeplante Prozesse sind Ergebnisse von Handlungen, deren Folgen (also die Struktur und Richtung des Prozesses) selbst niemand geplant hat. So entstehen Strukturen des Wandels, die dem Einzelnen leicht als Systeme erscheinen, als von menschlichen Handlungen unabhängig, die jedoch auf nichts anderes als menschliche Handlungen zurückgehen.

[36]Stellen Sie sich zur besseren Verständlichkeit ein Spiel vor (etwa Fußball oder Schach):18 Je ausgewogener die Machtbalance zweier Spielpartner, desto unvorhersehbarer ist der Spielverlauf. Der Spielverlauf wurde in diesem Fall von keinem einzelnen Spieler geplant, bestimmt oder vorhergesehen. Ein Fußballspiel mit zwei gleich starken Mannschaften ist kaum vorhersehbar; ein Spiel der Nationalmannschaft gegen die Mannschaft einer Bezirksliga gewinnt dagegen wahrscheinlich die Nationalmannschaft.

Je mehr Gruppen beteiligt sind und je größer die Gruppenstärke wird, desto unkontrollierbarer wird der Prozess für den Einzelnen. Stellen Sie sich vor, eine Fußballmannschaft hätte nicht elf, sondern 33 Spieler, dann hätte der stärkste Spieler nicht mehr die gleiche Kontrolle über den Spielverlauf. Reduzierte man die Gruppenstärke auf drei Spieler, so wäre der stärkste Spieler dagegen mit Sicherheit spielbestimmender als in einem Spiel mit elf Spielern.

Je mehr Ebenen ein Spiel hat (die Gruppen spielen nicht mehr direkt gegeneinander), desto weniger können einzelne Gruppen den Spielverlauf kontrollieren. Bei einer Fußball-Europameisterschaft spielen nicht alle Mannschaften gegeneinander; durch Los werden die Mannschaften einer Gruppe bestimmt, die in der Vorrunde gegeneinander antreten. Eine Mannschaft mag noch eine relative Kontrolle über die Spiele der eigenen Gruppe haben, über die Spiele einer anderen Gruppe fehlt dagegen jede Kontrollmöglichkeit. So hat die Mannschaft der Gruppe A keinerlei Einfluss darauf, auf welche Mannschaft der Gruppe B sie stoßen wird, falls sie sich in der Vorrunde behauptet.

Um komplexe historische Prozesse verstehen und erklären zu können, muss man analysieren, wie die Handlungen der »Mannschaften« (also etwa der Medienmacher und -nutzer) miteinander verzahnt sind und sich gegenseitig bedingen. Wie erklärt man ein Tor in einem Fußballspiel? Ohne Zweifel kann man als Ursache den Torschützen nennen und sagen, der Spieler Müller habe das Tor geschossen. Das reicht jedoch nicht aus. Man muss zudem den Spielverlauf rekonstruieren und zeigen, wie die Chance Müllers, ein Tor zu schießen, aus der sich wandelnden Spielfiguration entstanden ist. Man muss sich also zumindest die letzten Spielzüge beider gegeneinander spielenden Mannschaften vor dem Torschuss ansehen, um zu verstehen, wie und warum Müller das Tor geschossen hat.

In diesem Buch gibt es mehrere Fallstudien, die Strukturen eines ungeplanten Medienwandels herausarbeiten.

Kapitel 6 macht deutlich, dass Filme zunächst in transportablen Kinos ausgewertet wurden, die auf Jahrmärkten aufgebaut wurden. Wie in anderen Schaubuden (z. B. mobilen Varietés, Illusionsbuden) wurde das über den Jahrmarkt flanierende Publikum mit Kurzfilmprogrammen angelockt, die den Zuschauer mit besonderen visuellen Reizen in Erstaunen versetzten. Wie Kapitel 7 zeigt,[37] etablierten sich etwa zehn Jahre nach der Einführung der Medientechnologie Film in den Markt ortsfeste Kinos, die zunächst ein vergleichbares Filmprogramm boten, dann jedoch mit erzählenden Filmen, den sogenannten Kinodramen, erfolgreich wurden. Die ortsfesten Kinos, die täglich spielten, verdrängten die Jahrmarktkinos innerhalb eines Jahrzehntes vom Markt.

Kapitel 17 zeigt Strukturen des Wandels in Bezug auf die populären Kinofilme. Die beim deutschen Publikum populären Kinofilme lassen sich in drei Phasen einteilen, je nachdem welches Land die meisten Filmerfolge stellt: Zwischen 1925 – dem Beginn der Erhebung über den Filmerfolg – und 1963 waren deutschsprachige Filme unangefochten erfolgreich: Der ganz überwiegende Teil aller erfolgreichen Filme kam in dieser ersten Phase aus deutscher bzw. österreichischer Produktion. In der zweiten Phase, 1964 bis 1979, wurden Filme der westeuropäischen Nachbarländer vom deutschen Kinopublikum favorisiert (weshalb ich sie auch als Europaphase bezeichne). Seit Beginn der 1970er-Jahre gewinnen jedoch US-Filme zunehmend an Popularität. In der dritten Phase, die 1980 beginnt, sind US-Filme beim deutschen Kinopublikum dann so populär wie in der ersten Phase die deutschen.

Die genannten Kapitel beschreiben die Strukturen des Wandels nicht nur, sondern erklären, warum sie sich in eine ganz bestimmte Richtung entwickeln.

Wandlungsprozesse, die eine klare Struktur aufweisen, entwickeln sich immer in eine bestimmte, analysierbare Richtung. Diese kann in einer zunehmenden Vereinheitlichung oder Differenzierung, in einer zunehmenden Integration oder Desintegration und in einer zunehmenden Konvergenz oder Divergenz bestehen. Solche Prozesse sind also grundsätzlich bipolar.

Ich greife als Beispiel einen konvergenten Prozess heraus. Konvergenz bezeichnet in allen Wissenschaften – von der Mathematik über die Physik bis zur Meteorologie – immer einen Prozess, in dessen Verlauf zwei gleiche oder vergleichbare Ereignisse zusammenlaufen – seien es Linien, Lichtstrahlen oder Meeresströmungen. Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Formen der Konvergenz unterschieden: eine Angleichung, die von beiden Seiten, und eine, die nur von einer Seite ausgeht (was auch als beiderseitige bzw. einseitige Konvergenz bezeichnet wird).

Konvergenz kann es im Medienbereich auf ganz unterschiedlicher Ebene geben. Bekannt und viel diskutiert sind dabei 1. die Konvergenz im medientechnologischen Bereich und 2. die Konvergenz von Fernsehprogrammen. In den letzten Jahren haben technische Endgeräte Karriere gemacht, die Nutzungsmöglichkeiten, die bisher auf verschiedene Geräte verteilt waren, in einem einzigen Gerät integrieren. Das Smartphone, das u. a. als Telefon, Computer und MP3-Player genutzt werden kann, ist dafür ein gutes Beispiel. In Deutschland gibt es zudem[38] einen Prozess der Angleichung der Fernsehprogramme öffentlich-rechtlicher und privater Sender. Betrachtet man die Entwicklung der Programme der öffentlichrechtlichen und der privaten Sender seit Mitte der 1980er-Jahre aus der Distanz, so kann man einen beiderseitigen Konvergenzprozess beobachten. Die öffentlich-rechtlichen Sender haben ihren Schwerpunkt in der vom Gesetzgeber für Vollprogramme vorgeschriebenen Grundversorgung mit Nachrichten, während sich die privaten Fernsehsender stärker um die Unterhaltung ihrer Zuschauer bemühen. Die privaten Sender haben die Nachrichtenformate der öffentlich-rechtlichen übernommen und weiterentwickelt (»Infotainment«). Die öffentlichrechtlichen Sender haben ihrerseits von den privaten Sendern entwickelte Mediennutzungsformen wie die Dokusoap und die Pseudo-Dokusoap adaptiert. Von daher muss man von einem beiderseitigen Konvergenzprozess öffentlich-rechtlicher und privater Fernsehprogramme sprechen, der sich seit Mitte der 1980er-Jahre vollzogen hat.

Kapitel 17 zeigt einen Konvergenzprozess, die Angleichung der Filmpräferenzen in Europa. Die Kinopublika von Deutschland, Frankreich und Italien haben in den 1950er-Jahren im Wesentlichen die Filme des eigenen Landes favorisiert. Es gab nur sehr wenige Titel, die in allen drei Ländern in die Top Ten kamen. Seit den 1980er-Jahren vollzog sich ein Angleichungsprozess derart, dass die Zahl der in allen drei Ländern sehr erfolgreichen Filme signifikant größer wurde. Zugleich bietet dieses Kapitel ein Beispiel für einen einseitigen Konvergenzprozess: Die Präferenzen des europäischen Publikums wurden denen des US-amerikanischen ähnlicher, was umgekehrt eben nicht der Fall war.

Wandlungsprozesse sind zudem grundsätzlich umkehrbar. Sie müssen also nicht dauerhaft in eine Richtung laufen, sondern können sich durchaus auch wieder in die gegenteilige Richtung entwickeln. So muss sich ein medialer Konvergenzprozess, wie er in Kapitel 17 für Europa beschrieben wird, nicht immer weiter fortsetzen, bis er die ganze Welt umfasst. Zunehmende Gemeinsamkeiten der Filmpräferenzen in verschiedenen europäischen Ländern können durchaus wieder von stärkeren nationalen Vorlieben abgelöst werden.

Die Struktur und Richtung eines Wandlungsprozesses vollzieht sich immer in konkreten kulturgeografischen Kontexten. Dies können Regionen, Länder, Kontinente oder auch die Welt insgesamt sein. Nationen waren im 20. Jahrhundert die primären Überlebenseinheiten, in denen sich überwiegend Menschen der gleichen Sprach- und Kulturgemeinschaft organisiert hatten. So bildeten Kinozuschauer eines Landes über Jahrzehnte – ich gehe u. a. in Kapitel 8 darauf ein – starke gemeinsame Präferenzen aus, die sie von Kinozuschauern anderer Länder unterschieden. Da es diese Präferenzunterschiede gab, stehen auf den Listen der erfolgreichsten[39] Filme verschiedener Länder von den 1920er- zu den 1950er-Jahren überwiegend andere Filmtitel. Solche kulturgeografischen Referenzsysteme können sich jedoch verändern, weil sich zum Beispiel die Präferenzen der Kinozuschauer verschiedener Länder wie beschrieben angleichen. Das Referenzsystem sind dann nicht mehr einzelne Länder, sondern supranationale Regionen wie zum Beispiel Europa.

[40][41]3. Wie lässt sich Medienwandel beschreiben?

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Frage der Methodologie der Medienhistoriografie. Wie Mediengeschichte geschrieben wird, ist von Disziplinen abhängig. Disziplinen sind Einzelfächer, die man an Universitäten studieren kann. In Deutschland beschäftigen sich viele Disziplinen mit Medien, allen voran die Medienwissenschaft (auch Medienkulturwissenschaft genannt) und die Kommunikationswissenschaft. Literaturwissenschaftler neigen aufgrund ihrer Ausbildung zum Umgang mit Texten; sie interessieren sich in einem besonderen Maß für Mediengeschichte als Diskursgeschichte. Kommunikationswissenschaftler legen dagegen mehr Wert auf eine Analyse der Medien selbst und interessieren sich für den Diskurs oft nur, insofern dieser einen Einfluss auf die Medienentwicklung hatte. Da die kulturwissenschaftliche Medienwissenschaft in Deutschland von den Literaturwissenschaften dominiert wird, konzentrierte sich zum Beispiel die Analyse des frühen Kinos zunächst in einem erheblichen Maß auf die Diskurse der Kinoreformer bzw. der Schriftsteller, während die Frage, wie das Medium Film als Kino etabliert wurde, weniger Aufmerksamkeit fand.

Disziplinen sind nicht neutral, sondern schaffen und verteidigen bestimmte Fragestellungen und Analysemethoden. So ist die Medienwissenschaft, die aus der Literatur- und Theaterwissenschaft entstanden ist, in einem besonderen Maß an den medialen Produkten, den Mediennutzungsformen, interessiert und bedient sich hermeneutischer Methoden. Die Kommunikationswissenschaft stellt dagegen stärker die Frage der Mediennutzung und -wirkung in den Vordergrund und bedient sich vor allem empirischer Methoden. Disziplinen konstruieren ihren Gegenstand auf je besondere Art und Weise und weisen, oft vehement, analytische Instrumente von sich, die ihrer Meinung nach fachfremd sind.

Der Autor dieses Buchs ist der Überzeugung, dass sich die Forschung von solchen akademischen Zwängen stärker freischwimmen sollte. Anstatt den Untersuchungsgegenstand auf fachspezifische Weise zu konstruieren, ist es sinnvoller, von Fragen und Problemen auszugehen, die gelöst werden müssen. Wie und warum wandeln sich Medien, sind solche Fragen, die kaum von einer akademischen Disziplin allein beantwortet werden können.

Der wissenschaftliche Tunnelblick ist der akademischen Forschung durchaus bewusst. Traditionell wird das Problem dadurch gelöst, dass eine Zusammenarbeit von Forschern unterschiedlicher Disziplinen gefordert wird. Sonderforschungsbereiche, an denen Wissenschaftler mehrerer Disziplinen beteiligt sind, bieten hier eine geeignete Möglichkeit. De facto findet ein solches interdisziplinäres Arbeiten jedoch nicht in einem wünschenswerten Maß statt. Eine Alternative dazu,[42] die der Autor dieses Buchs favorisiert, ist, sich selbst weniger von Disziplinen als von Fragestellungen antreiben zu lassen und sich dabei, was die Beantwortung der Fragen angeht, unterschiedlicher Methoden verschiedener Disziplinen zu bedienen. Dieses transdisziplinäre Verfahren ist wissenschaftlich gesehen von Vorteil, hilft der akademischen Karriere jedoch nicht, da diese von Disziplinen mit ihren Grenzen und Verteidigungslinien bestimmt wird.

Kapitel 8 und 9 sind sozialwissenschaftliche Studien, die nach der Kultur- bzw. Schichtenspezifik von Filmpräferenzen fragen. Kapitel 10 ist ein Beispiel für eine transdisziplinäre Analyse, die sich kultur-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Methoden bedient.

 

Im Folgenden werden zum einen begriffliche Konzepte vorgestellt, die nützlich sind, um den Wandel der Medien zu erforschen, zum anderen wird die Rolle der eigenen Wahrnehmung thematisiert, die unsere Sicht auf den Medienwandel mit bestimmt.

Begriffliche Konzepte

Aufgabe einer Medienhistoriografie ist nicht allein, ein neues Wissen über den Medienwandel zu schaffen, sondern dabei zugleich das tradierte Wissen zu korrigieren. Ein Medienhistoriker, der dies leistet, ist also immer auch ein Mythenjäger, der Legenden als solche erkennt und durch ein adäquateres Wissen ersetzt. Aber wie ist das möglich?

Grob gesprochen gibt es zwei Typen von Medienhistorikern. Die Vertreter der einen Gruppe sind Verfechter von Konzepten, die sie selbst in der Regel als Theorien bezeichnen, während die Vertreter der anderen Gruppe ein theoriegeleitetes Forschen für einen Irrweg halten. Die Vertreter der ersten Gruppe lassen sich zudem danach unterscheiden, welchem Theoriegebäude sie sich verpflichtet fühlen (also etwa der Systemtheorie, den Cultural Studies, der Kritischen Theorie). Die Möglichkeiten, medienhistorisch Innovatives zu leisten, sind bei Vertretern dieser Schule beschränkt, da ihre Sicht auf die Mediengeschichte in einem erheblichen Maß durch das jeweilige Theoriegebäude präjudiziert wird. Interessanterweise arbeiten die Vertreter der zweiten Gruppe, deren Blick auf den Wandel der Medien offener ist, keineswegs ohne begriffliche Konzepte – sie explizieren sie nur nicht.

Der Autor dieses Buchs ist der Überzeugung, dass man begriffliche Konzepte, aber keine Ideologien oder Großtheorien braucht, um Mediengeschichte zu schreiben. Ein wissenschaftliches Konzept funktioniert im Grunde wie ein begrifflicher Rahmen, der unseren Blick so auf den Forschungsgegenstand richtet, dass neue[43] Erkenntnisse möglich werden. Konzepte sollten alle für die jeweilige Forschung relevanten Faktoren berücksichtigen, jedoch so offen sein, dass sie Forschungsergebnisse nicht vorwegnehmen. In diesem Sinn sind Medienhistoriografie und Konzeptualisierungen interdependente Prozesse. Ohne Reflexion auf die Konzepte bleibt das Verständnis des Medienwandels verschwommen und belastet durch Vorurteile der Forschenden. Die bloße Arbeit an Konzepten, ohne den ständigen Bezug auf den Wandel der Medien, ist dagegen ein intellektuelles Spiel, das wenig Sinn ergibt.

Alle Fallstudien dieses Buchs arbeiten mit begrifflichen Konzepten. Die meisten Fallstudien arbeiten mit einem empirisch-vergleichenden Begriff von Popularität. Im kulturwissenschaftlichen Kontext ist es üblich, Popularität als eine Eigenschaft des Produktes zu definieren (populär im Sinn von »bloß unterhaltsam«) und nicht als Resultat der Mediennutzung. Definiert man den Popularitätsbegriff dagegen empirisch-vergleichend, ändert sich die Sicht auf die Mediengeschichte grundlegend, da der Mediennutzer in den Blick gerät. Ein Medienprodukt ist dann populärer als ein anderes, wenn es von mehr Menschen genutzt wird.

Um ein neues Wissen über den Medienwandel zu schaffen und dabei zugleich das tradierte Wissen zu korrigieren, muss man nicht nur wissenschaftliche Konzepte reflektieren, sondern auch Primärquellen recherchieren und auswerten. Diese sind für neue Einsichten fast immer unverzichtbar.

Oft wird Mediengeschichte ausschließlich auf der Basis von Sekundärliteratur geschrieben. Die Qualität solcher Arbeiten steht und fällt mit der Qualität der Sekundärliteratur selbst. Hält die Sekundärliteratur einer kritischen Prüfung stand, ist gegen dieses Verfahren nichts einzuwenden. Vielfach werden in der Sekundärliteratur jedoch Vorurteile weitergegeben, da sie sich oft nur auf Sekundärliteratur bezieht, ohne dass diese zuvor einer kritischen Überprüfung unterzogen worden wäre. Nur ein systematisches Quellenstudium kann zu einer nachhaltigen Korrektur tradierter Vorurteile führen.

Als Quellen werden alle Zeugnisse verstanden, die eine möglichst zeitnahe Auskunft über ein vergangenes Ereignis geben können. Im Unterschied zur Forschungsliteratur liefern Quellen selbst keinen substanziellen Beitrag zur Interpretation der Geschichte. Forschungsliteratur leistet dagegen genau dies; hier werden Ereignisse der Geschichte gedeutet bzw. erklärt. Quellen sind jedoch keineswegs gleichbedeutend mit Fakten – auch Quellen können »lügen«. Jede Quelle bedarf der sorgfältigen Interpretation, wobei zu berücksichtigen ist, wer das Dokument mit welchem Interesse verfasst hat.

Ob ein Dokument als Quelle oder als Forschungsliteratur gilt, kann von der Fragestellung des Forschenden abhängen. Ein Text eines Schriftstellers zum Kinodrama[44] der frühen 1910er-Jahre liefert zweifelsohne eine Interpretationsleistung. Fragt man jedoch diskursgeschichtlich nach der Art, wie das Kino dieser Zeit von Schriftstellern wahrgenommen wurde, so hat ein solcher Text in diesem Zusammenhang den Status einer Quelle.

Es gibt eine große Bandbreite unterschiedlicher Quellen: Unveröffentlichte Quellen wie z. B. Bauakten zu Kinos, Zensurunterlagen jedweder Art, Protokolle von Entscheidungsgremien der Rundfunkanstalten, Geschäftsunterlagen, Nachlässe von Firmen, Einzelpersonen; veröffentlichte Quellen wie zum Beispiel Branchen- oder Fanzeitschriften, Jahresberichte von Firmen oder Werbematerial. In Deutschland finden sich solche Quellen in einer Vielzahl öffentlicher Archive wie zum Beispiel:

 Bundesarchiv, Berlin (Akten des Propagandaministeriums, der Ufa u. a.)

 Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main (Akten der öffentlichrechtlichen Sender)

 Hochschule für Bildende Künste, Berlin (eine Vielzahl von Nachlässen einzelner Künstler)

 Deutsches Filminstitut, Frankfurt am Main, und Filmmuseum Berlin (Branchenzeitschriften, diverse Nachlässe u. a. von Paul Kohner, Artur Brauner)

Sie finden viele Quellen – aber längst nicht alle – mittlerweile auch im World Wide Web. Bitte informieren Sie sich über die Präsenz von Quellen etwa auf den Seiten des Deutschen Rundfunkarchivs (www.dra.de) sowie auf den Seiten des Deutschen Filminstituts (www.deutsches-filminstitut.de).

Neben nationalen Archiven sind lokale Archive für die Mediengeschichte von großer Bedeutung. In Stadtarchiven befindet sich oft eine Vielzahl interessanter veröffentlichter und unveröffentlichter Quellen zur lokalen Mediengeschichte wie zum Beispiel:

 Lokale Tageszeitungen mit Anzeigen und Berichten

 Dokumente zur lokalen Zensurgeschichte

 Bauakten zu Kinos, Varietés usf.

 Quellen zur Vergnügungssteuer

Kapitel 6 verwendet diverse Quellen aus lokalen Archiven, um das Phänomen des mobilen Kinos der Jahrmärkte in Deutschland um 1900 darzustellen.

[45]Kapitel 13 wertet die Sammlung Paul Kohner aus dem Filmmuseum Berlin systematisch aus, während Kapitel 15 auf allen für die dort behandelte Thematik relevanten Dokumenten aus dem Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main basiert.


Schreiben von Fritz Keller an Ludwig Stössel vom 4. August 1938

(Stiftung Deutsche Kinemathek, Berlin, Sammlung Paul Kohner)


Auszug aus dem Protokoll der Kölner Sitzung der ständigen Programmkonferenz am 13. September 1957

(Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main, ARD-Reg. 6-58)

Für die Frage, in welchem Maß in Deutschland im 20. Jahrhundert Primärquellen zum Film überliefert sind, spielen kulturelle Mentalitäten ebenso eine Rolle wie politische Entwicklungen. Im Unterschied zu den USA, wo große Filmfirmen ihre Aktenbestände Universitäten übergeben haben, gilt in Deutschland die Firmengeschichte als ein zu bewahrendes Geheimnis. Deutsche Filmfirmen haben ihre Akten nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist, die heute zehn Jahre beträgt, daher in aller Regel nicht an öffentliche Archive gegeben. Stattdessen haben die Unternehmen die Akten in der Regel vernichtet, weil sie für die aktuellen Geschäfte keinen Wert mehr hatten und ihre Archivierung daher nur unnötige Kosten verursacht hätte. Die politische Katastrophe des Dritten Reichs stellt sich vor dem Hintergrund dieser Mentalität überlieferungsgeschichtlich als ein »Glücksfall« dar, weil durch die Verstaatlichung von Medienfirmen viele Firmenakten erhalten geblieben sind, die ansonsten – wie viele Akten aus der Nachkriegszeit – mit großer Wahrscheinlichkeit vernichtet worden wären. Die im Besitz des nationalsozialistischen Staates befindlichen Firmenakten gingen nach dem Zweiten Weltkrieg in den Besitz der Bundesrepublik Deutschland bzw. der Deutschen[46] Demokratischen Republik über und sind heute im Wesentlichen über das Bundesarchiv zugänglich.