Österreich im Jahre 2020

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Österreich im Jahre 2020
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Am 13. Juli 2020 begeben sich zwei Amerikaner auf eine Reise durch ein exotisches und rätselhaftes Land in der Staatenunion Europas: Österreich. Das Land hat keine Armee und in Wien stehen nur noch drei Kirchen. Es gibt kein Geld und keinen Privatbesitz mehr, es herrscht Wohlstand. Die Gütergemeinschaft ist friedlich und sanft. Kaiser und Adel sind glitzernde Statisten einer klassenlosen Gesellschaft. In Österreich herrscht utopischer Kommunismus mit Monarchie. Die beiden Amerikaner kommen aus dem Staunen nicht heraus.

Die Reisenden, ihre wechselnden Reiseleiter und Urlaubsbekanntschaften machen Ausflüge in der Umgebung Wiens, durchstreifen Stadt und Natur, besuchen Feste, Kultur- und Sportereignisse, und lassen sich Schritt für Schritt Österreich erklären. Wir erhalten Einblicke in eine datumsgenau jetzige und völlig fremde Welt. Die Rolle der Frau, die Aufgabe des Künstlers, das Leben und der Wert der Menschen überhaupt – das Panorama, das sich entfaltet, ist so skurril, umständlich und schrullig, wie sonst nur die Wirklichkeit selbst. Und eine plüschig-schmalzige Liebesgeschichte fehlt in diesem Buch natürlich auch nicht. Josef von Neupauers Roman Österreich im Jahre 2020 erschien 1893 im Verlag E. Pierson, Dresden und Leipzig. Eine bizarre Entdeckung, die an der Zeit ist.

JOSEF VON NEUPAUER wurde zur Mitte des 19. Jahrhunderts geboren und wirkte als Anwalt in Wien. Sein Roman Österreich im Jahre 2020 erschien 1893 im Verlag von E. Pierson, Leipzig und Dresden. Dieser Ausgabe folgt das vorliegende Buch; lediglich die Orthographie des Textes wurde behutsam modernisiert, aber die Schrulle nach Möglichkeit beibehalten.

Josef von Neupauer starb 1914 in Innsbruck.

TOBIAS ROTH, * 1985 in München, nach Studien in Freiburg und Berlin lebt er wieder in seiner Heimatstadt. Er debütierte 2013 mit dem Gedichtband Aus Waben (Verlagshaus Berlin) und legte seither über zwei Dutzend eigene Titel, Herausgaben und Übersetzungen vor. Er ist Gründungsgesellschafter des Verlags Das Kulturelle Gedächtnis, dessen erstes Programm 2017 erschien und der 2020 mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet wurde.

daskulturellegedaechtnis.de

Josef von Neupauer

Österreich im Jahre 2020

Roman

Herausgegeben von Tobias Roth



© Luftschacht Verlag – Wien

luftschacht.com

Alle Rechte an der Ausgabe vorbehalten

1. Auflage Juli 2020

Der Verlag dankt:

Tobias Roth für die Entdeckung dieses Textes zur rechten Zeit und seine kompetente, begeisterte und begeisternde Herausgebertätigkeit;

Moritz Müller-Schwefe für die Kontaktherstellung zwischen Herausgeber und Verlag und sein generell großes Wohlwollen uns gegenüber;

Tim Johannsen für seine Recherchen, Textadaptierungen und Korrekturen, die den Text ein Stück weiter nach Österreich im Jahre 2020 gebracht haben.

Umschlaggestaltung: Matthias Kronfuß – matthiaskronfuss.at

Coverfoto: @loravisuals/Unsplash

Satz: Luftschacht

gesetzt aus der Metric, der Noe, der Diversa und der Zapf Dingbats

Druck und Herstellung: Finidr s.r.o.

Papier: Munken Print Cream 100 g/m2, Surbalin glatt 115 g/m2,

f.color glatt 125 g/m2

Portraitphoto Josef von Neupauer: Verlag Richard Lincke.

ISBN: 978-3-903081-50-5

ISBN E-Book: 978-3-903081-79-6


Motto: It is better to fight for the good, than to rail at the ill.

Inhalt

VORWORT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

NACHWORT

VORWORT

Österreich im Jahre 2020 ist eine klassenlose, kommunistische Gesellschaft, in der es kein Geld und keine Armee gibt, aber dafür einen Habsburger Kaiser, der nicht unangenehm auffällt. Das Land ist eingebettet in einen europäischen Staatenbund, an dem England nicht teilnimmt, und organisiert von einem perfekten, allgegenwärtigen, interesselosen Verwaltungsapparat. Europa bildet einen gemeinsamen Sanitätsbezirk, was die Einschleppung von Krankheiten unmöglich macht. Österreich im Jahre 2020 ist eine Reise in eine längst vergangene Zukunft.

Österreich im Jahre 2020 ist eine Erfindung des späten 19. Jahrhunderts. Das Buch kommt 1893 im Verlag Edgar Pierson, Dresden und Leipzig, heraus. Dort ist 1889 mit Bertha von Suttners Roman Die Waffen nieder! ein österreichischer Klassiker der pazifistischen Literatur erschienen. Auf den Jahreswechsel 1888/89, genau in den Tagen, als Friedrich Nietzsche in Turin ein Pferd umarmt, findet der Einigungsparteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs in Hainfeld statt.

Wer Österreich im Jahre 2020 hervorgebracht hat, ist gar nicht so einfach zu sagen. Josef Ritter von Neupauer, Doktor der Rechte, hat kaum Spuren in der Überlieferung hinterlassen. Sein Geburtsdatum ist nicht zu ermitteln, aber die Portraitphotographie, die auch dieses Buch ziert und seinem Großwerk Der Kollektivismus und die soziale Monarchie (ausdrücklich die technisch detaillierte, komplettierende Abhandlung zu seinem Roman) von 1909 entnommen ist, lässt an einen Jahrgang der 1840er-Jahre denken. Ab 1906, bereits im Ruhestand, ist Neupauer in Innsbruck belegt, wohnhaft Universitätsstraße Nr. 3/11. Dort vermutlich ist er auch gestorben, zwischen dem 1. Dezember 1913 und dem 1. Dezember 1914. (Ein herzlicher Dank an Thomas Bach von der Universität Jena und Nikolaus Bliem von der Bibliothek des Ferdinandeum, Innsbruck!)

Österreich im Jahre 2020 aber kommt nicht aus dem Nichts. Seinerzeit in Wien erfreut sich Doktor von Neupauer einiger Notorietät. Ein namentlich nicht genannter Autor schreibt in seiner Rezension zu Österreich im Jahre 2020 im Neuen Wiener Tagblatt am 3. Juli 1893: „Der Verfasser dieses Buches, Hof- und Gerichtsadvokat Dr. von Neupauer, ist eine in weiten Kreisen Wiens bekannte Persönlichkeit. Mit aufrichtiger Begeisterung für alles Gute, Edle, Schöne, allerdings in seiner Art, ausgestattet, versäumt er es nicht, sobald irgend eine neue Vereinsgründung in Sicht ist, dem werdenden Unternehmen seine Kraft zur Verfügung zu stellen, wobei es ihm auf tiefgehende Unterschiede von Parteien und Prinzipien nicht sehr ankommt. Das wäre ja sehr löblich, denn neben den Interessen der Menschheit verschwinden ja die Fraktionen und Grundsätze, aber man kommt da oft in Widerspruch mit gewissen hergebrachten Anschauungen und Begriffen, und das passiert Herrn Doktor Neupauer umso häufiger, als seine sehr positiv gemeinten Vorschläge der mehr oder minder nüchternen Auffassung seiner Zuhörer meistens nicht recht verständlich sind. So stellte sich der genannte Herr einer eben in Gründung begriffenen Gesellschaft, welche ein hohes, humanitäres Ziel verfolgt, zur Verfügung, indem er sich ohneweiters zur Herbeischaffung von zehn Millionen Mitgliedern anheischig machte. Als die Gründer der Gesellschaft sich behufs eingehender Beratung dieses sehr verlockenden, aber scheinbar schwer zu verwirklichenden Vorschlages eine dreitägige Bedenkzeit erbaten, entzog der Tiefgekränkte der guten Sache seine Mitwirkung für immer.“

Österreich im Jahre 2020 konfrontiert uns mit der Frage nach der Gegenwart und nach der Zukunft. Wie stellen wir uns die Zukunft vor, wie wollen wir sie haben? Was wird sich verändert haben, bis sie Gegenwart geworden ist? Ohne ein Dokument wie diesen Roman wären diese Fragen ununterscheidbar. Unbeantwortbar sowieso. Josef von Neupauer spricht mit sich selbst, aber er meint uns. Uns im allerweitesten Sinne der Zeitgenossenschaft. Österreich im Jahre 2020 spricht mit dir: Es redet exakt über dich und es redet so sehr an dir vorbei, wie es nur geht. Alles könnte anders sein.

 

Österreich im Jahre 2020 ist in gewisser Weise die Fortsetzung einer anderen Utopie: Edward Bellamys Roman Looking Backward: 2000–1887 aus dem Jahr 1888. Bellamys Protagonist Julian West, ein junger Mann aus Boston, Massachusetts, ist 1887 in einen überlangen Schlaf gefallen, aus dem er erst im Jahr 2000 erwacht. So berichtet er seinen vergangenen Zeitgenossen aus einer besseren, sozialistischen Zukunft. Bellamys Roman löst eine Flut von Antworten, Gegenentwürfen, Sequels, Prequels, Satiren, Bekräftigungen und Polemiken aus: Es entbrennt ein Romankampf, der in den Zukünften des 21. Jahrhunderts ausgetragen wird. In dieser Legion findet sich auch der Roman Looking Further Forward: An Answer toLooking Backward“ by Edward Bellamy von Richard C. Michaelis aus dem Jahr 1890. Die Zukunft ist nun Dystopie, ist sozialistischer Horror geworden. An die Seite von Julian West, inzwischen konsequenterweise Historiker von Beruf, tritt die Figur des Mr. Forest, des Antikommunisten. Die beiden bleiben ihrem Format als Beobachterfiguren treu. Unvermittelt werden wir, heute, in diese mit Romanen geführte Debatte um eine bessere Welt und Gesellschaftsform hineingezogen: Mr. West und Mr. Forest erhalten eine Einladung aus Europa und treten am 13. Juli 2020 ihre Reise durch Österreich an. In Österreich liegen auch die Bücher von Bellamy und Michaelis vor und werden mit den zwei Amerikanern diskutiert.

In Österreich im Jahre 2020 herrscht utopischer Kommunismus, die zentralisierte Verwaltung durchdringt alles, entspannt alles, lässt alles zu allen kommen. Der Klassenkampf hat sich in seinem Wärmetod gelöst. Die Gütergemeinschaft ist friedlich und sanft wie bei Platon oder Morus. Der Mangel hat aufgehört und mit ihm sind Wettbewerb, Verteilungskampf, Geltungssucht und ähnliche Gewalt verschwunden. Dennoch gibt es Adel und Kaiser, dessen Juwelen, Allgemeineigentum versteht sich, gerne zu besonderen Anlässen getragen werden.

In Österreich im Jahre 2020 sind die Städte geschrumpft. Wien ist eine Hauptstadt ohne Türme, in der nur drei Kirchen aus Sentimentalität stehengeblieben sind; die Bevölkerung indes ist stupend bibelfest. Die pneumatische Tram gleitet durch die Gärten, die überall angelegt sind. Fahrrad und Pferd, Garten und Handwerk. Dem Pfarrer und Arbeiterseelsorger Rudolf Eichhorn, der über Die weißen Sklaven der Wiener Tramway-Gesellschaft (1885) und Die Sklavennot der Fabriksarbeiterschaft von Floridsdorf (1886) geschrieben hat, sind Denkmäler errichtet. Karl Lueger taucht auf, denn sein Urenkel, der statt eines Vornamens den Titel Professor führt, ist eine Nebenfigur. In diesem 2020 weiß man aber nichts mehr vom alten Lueger und seinen Kollegen, auch ist er nie Bürgermeister von Wien geworden und nurmehr „Chroniken und Spottlieder seiner Gegner“ erinnern an ihn. Im Zentrum der Hauptstadt steht eine Säule aus Gold, die die Wertlosigkeit dieses Metalls und der alten Ordnung demonstriert.

In Österreich im Jahre 2020 herrscht eine groteske Sittlichkeit und Sexualmoral, begleitet von eugenischen Wahnvorstellungen, restriktiver Familien- und Bevölkerungspolitik und Paragraph gewordener Neurose. In einem flüchtigen Nebensatz, als wäre es ein Versehen, wird plötzlich eine Nebenfigur interniert. Dennoch blüht Österreich im Jahre 2020 auf, wenn es um schmalzige Liebesgeschichten, strenggeregelten Hochzeitskitsch und Körperkult geht. Die Welt dieser Zukunft ist nicht aus Glas und Stahl, sondern aus Bronze und Plüsch.

Österreich im Jahre 2020 hat seine eigene Vergangenheit. Daten, die für uns etwas ganz Bestimmtes bedeuten, bedeuten hier etwas anderes. Als 1943 das Denkmal über die Wertlosigkeit des Goldes aufgestellt wird, herrscht kein Krieg, und 1985 ist der beste Weinjahrgang aller Zeit (was mich persönlich besonders freut). Die Welt von Österreich im Jahre 2020 hat die Konflikte und Krisen, hat die Kriege und Verwüstungen des uns bekannten 20. Jahrhunderts nicht erlebt. Aber Österreich im Jahre 2020 birgt seine eigenen erschreckenden und unerklärten Abgründe. Ein großer Krieg hat die Bevölkerung dezimiert und die Metamorphose der Gesellschaft erzwungen, aber über seinen Grund, Verlauf und seine sonstigen Folgen entsteht keinerlei Klarheit. Dass Salzburg nur mehr 1.500 Einwohner hat, wird nebenbei erwähnt. Es bleibt, als eine der unzähligen Irritationen, einfach stehen.

Österreich im Jahre 2020 repräsentiert nicht die seltsamste Gesellschaftsform, die die Menschheit je gesehen hat. Auch wenn man lange suchen kann, bis man eine andere kommunistische Monarchie gefunden hat.

Österreich im Jahre 2020 enthält keinerlei Prophetie. Sich über die politische Brauchbarkeit so mancher Anregungen oder Ideen, über ihren Widerspruch mit gewissen hergebrachten Anschauungen und Begriffen eine kleine Phantasie auszumalen und abzuwägen, ist aber an sich aufschlussreich. Hier zeigt sich etwas Grundlegendes über das Politische, über die Verfügbarkeit und die Vielfalt der Formen, in denen eine Gesellschaft zusammenleben kann: Sie sind veränderlich, sie sind Verhandlungssache. Zu dieser Verhandlung ist keine Einladung nötig, sie findet beständig statt. Utopie, nicht mehr und nicht weniger: Es könnte sein ist etwas anderes als Es war einmal. Österreich im Jahre 2020 wird unsere Perspektiven auf und für Österreich im Jahre 2020 bereichern.

Österreich im Jahre 2020 scheint seinerseits keine Zukunft zu haben.

Tobias Roth, München im Juli 2020


1

Ich habe die Ehre, mich zum dritten Mal einem verehrungswürdigen Publikum vorzustellen. Ich nenne mich Julian West und habe bekanntlich 113 Jahre, von 1887 bis 2000 nach Christi Geburt, verschlafen, erwachte in Boston in Dr. Leetes Hause, wo ich die wunderbaren Veränderungen anstaunte, welche die Erneuerung der Gesellschaftsordnung im 20. Jahrhunderte in meinem Vaterlande bewirkt hatte, und träumte mich dann in einer wüsten Nacht wieder in das Boston vom Jahre 1887 zurück.

Mit diesen Eindrücken hat mich ein gewisser Edward Bellamy seinen Lesern vorgeführt und mich gegen gutes Honorar meine Erlebnisse erzählen lassen.

Dann wachte ich wieder im verjüngten Boston auf, wurde als Professor der Geschichte am Shawmut-College dort angestellt, sollte meine Zuhörer mit Hass gegen die Periode des Wettbewerbs erfüllen, was mir nicht gelingen wollte, da jedermann mit der Gegenwart unzufrieden war, und lernte nach Beendigung meiner ersten Vorlesung einen Mr. Forest kennen, der von allen der Unzufriedenste war, weil man ihn vom Professor der Geschichte zum Pedell degradiert hatte, und wurden mir von diesem die Augen geöffnet über die abscheulichen Zustände, die der Kommunismus in den Vereinigten Staaten gezeitigt hatte, und er belehrte mich nicht nur über die Mängel des Kommunismus, sondern er unterwies mich auch, wie wir den Mängeln unserer ehemaligen Gesellschaftsordnung hätten abhelfen können, ohne sie ganz zu untergraben.

Ich habe Herrn Forest ebenso gläubig zugehört wie früher dem Dr. Leete; und wurde ich dann von einem gewissen Richard Michaelis in Chicago neuerdings mit Honorar angestellt und demselben Publikum vorgeführt, das ich das erste Mal zu unterhalten die Ehre hatte, wobei ich bemüht war, die gänzliche Haltlosigkeit meiner früheren Auffassung klar zu machen. Ich endete meinen damaligen Bericht mit der Darstellung, wie Dr. Leete erschlagen, seine Tochter vergewaltigt und Mr. Forest in Verteidigung seines Gegners Dr. Leete geschlachtet wurde, womit ich auf Wunsch des Mr. Richard Michaelis schlagend bewies, dass die Klagen, die Mr. Forest vorbrachte, gerecht waren; denn wie hätte ein ungerechter Mann es über sich vermocht, seinen Feind zu verteidigen, der durch die Hand eines Dritten fallen sollte!

Ich war nun ebenso überzeugt, dass der Kommunismus die erbärmlichste Einrichtung sei, als ich vorher für denselben geschwärmt hatte, und ich bedauerte, dass Mr. Forest im Kampfe gefallen war, da ich Arm in Arm mit ihm das 21. Jahrhundert gerne hätte in die Schranken fordern mögen.

Nun ereignete sich aber das Verwunderliche, dass Mr. Forest sich doch erholte und langsam von seinen furchtbaren Wunden genas. Ich pflegte ihn wie meinen Bruder und las ihm Bücher und Briefe vor, um ihm seine Lage zu erleichtern. So auch einen Brief aus Tulln, einem unbekannten kleinen Orte in Österreich, den wir auf keiner Karte finden konnten.

In diesem Briefe sprach ein gewisser Zwirner den Wunsch aus, Mr. Forest kennen zu lernen, da er in einer alten Zeitung, „Boston Gazette“, einen Vortrag abgedruckt gelesen hatte, den Mr. Forest, als er noch Professor war, über die Kultur des 19. Jahrhunderts gehalten hatte, und es ihn interessiert hätte, sich mit dem gelehrten Manne zu unterhalten. Er begreife zwar nicht seinen Hass gegen den Kommunismus, eine Gesellschaftsform, die ihn vollkommen befriedige, denn auch Österreich sei längst dazu übergegangen, aber geschichtliche Forschung böte viel Interesse und er selbst befasse sich mit der Aufhellung der ein wenig in Vergessenheit geratenen Kultur des 19. Jahrhunderts. Er habe Vieles, was sich darauf bezog, aus den europäischen Bibliotheken ermittelt, aber er wünsche, sein Material mit jenem des Mr. Forest zu vergleichen, und meine, Mr. Forest könnte seine Sommerferien zu einem Besuche in Österreich benützen. Als Professor müsse ihm der Staat die Mittel zu einer Reise nach Europa zu wissenschaftlichen Zwecken anweisen, während er selbst, der nur ein junger Landmann sei und keinen Namen unter den Gelehrten sich erwerben konnte, weder so langen Urlaub, noch die Mittel zur Reise beanspruchen dürfe.

Der Arme glaubte Mr. Forest noch im Besitze einer fetten Professur und hatte nicht gelesen, dass derselbe längst war abgesetzt worden.

Indessen gefiel dem Rekonvaleszenten der Vorschlag, da er Europa noch nicht besucht hatte und es ihm nicht ohne Interesse war, dem zufriedenen Österreicher ebenso die Augen zu öffnen, wie er mir getan, und er beauftragte mich, bei der Regierung um Ausfolgung der Mittel einzuschreiten, welche ihm und mir, den er mitnehmen wollte, die Reise nach Österreich ermöglichen sollten. Man musste sich mit Reisegeld versehen, da zwischen Amerika und Europa keine Reziprozität für den Reiseverkehr bestand, wie sie die Kontinentalstaaten in Europa untereinander vereinbart hatten. Ich bezweifelte, dass die Regierung uns das Reisegeld anweisen würde. Aber unserem Wunsche wurde entsprochen, denn Mr. Forest war wieder in Gunst, weil er Dr. Leete, ein einflussreiches Mitglied der Regierungspartei, verteidigt hatte, und was mich betrifft, so dachte man längst, mich von meiner Stelle am Shawmut-College zu entfernen, weil ich nicht mehr mit der anfänglichen Parteilichkeit für den Kommunismus dozierte, andererseits aber das Auditorium sich größtenteils verlaufen hatte. Zudem hatten wir unser Gesuch für die Ferienmonate eingebracht und so bezahlte uns die Staatskasse 3.000 Dollar Reisegeld und beurlaubte uns die Regierung für die beiden Monate Juli und August 2020 zur Reise nach Europa.

Um in einem deutschen Lande reisen zu können, suchten wir uns einige Kenntnis der deutschen Sprache vorher anzueignen und verkehrten viel mit eingewanderten Deutschen, die in Boston lebten, und mit 1. Juli 2020 verließen wir Boston und Amerika, um nach glücklicher Überfahrt am 13. Juli 2020 die österreichische Grenze bei Salzburg zu überschreiten.


2

Ich übergehe die Erlebnisse auf der Reise bis Salzburg, welche für den Leser kein Interesse hätten, weil es sich nur um unsere Beobachtungen in Österreich handelt.

Wir kamen am 13. Juli 2020 abends 6 Uhr in Salzburg, einer reizend gelegenen Kreisstadt, an, welche einmal ziemlich volkreich war und gegenwärtig nur etwa 1.500 bleibende Einwohner zählt, aber immer an 2.500 bis 3.000 Fremde beherbergt. Es haben in solchen Städten viele Pensionisten ihren Wohnsitz, die ihn aber, durch keine Berufspflichten gebunden, jederzeit beliebig mit einem anderen Wohnorte vertauschen können, daher sie nicht eigentlich Einheimische genannt werden können.

 

Die beurlaubten Bürger, welche ihren Urlaub zu einer Reise benützen, halten sich meist einige Tage in diesen Städten auf, um einigen Theatervorstellungen beizuwohnen und die Merkwürdigkeiten zu besehen. Reisende Ausländer, welche die Reisetaxe dritter Klasse bezahlen oder solchen gleichgehalten werden, haben das Recht, in den Kreisstädten abzusteigen und liefern auch ein großes Kontingent der wechselnden Bewohnerschaft der Kreisstädte. Auch die Heilanstalten höherer Ordnung und die Mittelschulen für Technik, Landwirtschaft und Gewerbe führen manche Kranke und Schüler in die Kreisstädte, wo in früherer Zeit, als die stehenden Heere noch nötig waren, auch meist drei Bataillone Militär garnisonierten. Die stabile Bevölkerung betreibt Gärtnerei, Industrie, Hauswirtschaft, Krankenpflege und Unterricht. Es ist ferner an jedem Kreisorte je ein Staatsbeamter für die Angelegenheiten der Gemeinde, des Bezirkes und des Kreises ansässig und hat der Kreisbeamte einige Hilfsbeamte nach Bedürfnisse zur Seite. Jedem der drei Staatsbeamten ist ein vom Volke gewählter sogenannter Tribun oder Volksbeamter zur Seite gesetzt, der die Interessen der Einzelnen, Gemeinden, Bezirke und des Kreises wahrzunehmen hat. Ebenso ist an jedem Kreisorte je ein Pädagoge und je ein Arzt für die Angelegenheiten der Gemeinde, des Bezirkes und des Kreises bestellt und zerfallen die Kreise in beiläufig zwanzig Bezirke und jeder Bezirk in etwa zwanzig Gemeinden. – Dazu kommen ein ziemlich zahlreicher Lehrkörper, einige weibliche Ärzte und viele Spezialisten des ärztlichen Standes, so besonders Operateure, welche im Verbande der Kreisregierung stehen, aber, wenn es sich um Kranke handelt, die nicht oder nicht schnell genug nach der Kreisstadt gebracht werden können, an den Wohnort des Kranken abgehen müssen und welchen die schnellsten Beförderungsmittel jederzeit zur Verfügung stehen.

Am Kreisorte ist eine permanente Bühne mit meist wechselndem Personale und, als wir dort ankamen, war eben eine Operngesellschaft in Salzburg, welche mehrere berühmte Sänger und Sängerinnen zählte.

Beiläufig will ich hier noch bemerken, dass am Kreisorte die Trauungen gefeiert werden, dass dort häufig die Versammlungen der Verwaltungsbeamten, Ärzte und Lehrer tagen und jede Woche irgendein Wettbewerb nach Art der olympischen Spiele abgehalten wird, wobei man sich um die Palme in den verschiedensten Künsten und Geschicklichkeit bewirbt. Der Kreisort beherbergt eine permanente Ausstellung der industriellen und landwirtschaftlichen Produkte und ein historisches Museum, welches die Fortschritte seit 50 Jahren veranschaulicht.

Wir wurden zuerst dem Staatsbeamten für die Gemeindeangelegenheiten vorgestellt, der unsere Papiere prüfte und sich erkundigte, nach welcher Klasse wir reisen wollten. Es richte sich danach die Kategorie der Städte, in welchen wir Aufenthalt nehmen dürfen, die Beherbergung, Verpflegung und die Verkehrsmittel, deren wir uns bedienen können. Wir erhielten einen gedruckten Prospekt zu unserer Orientierung und entschieden uns für die erste und reichste Klasse, welche uns überall Zutritt eröffnete und wofür wir 25 Mark in Geld pro Tag zu erlegen hatten. Wir bezahlten für 20 Tage 1.000 Mark zusammen und wurden ersucht, unsere sonstige Barschaft in Verwahrung zu geben, da im ganzen Lande niemand berechtigt sei, Geld anzunehmen oder etwas zu verkaufen. In die uns ausgestellte Aufenthaltskarte wurde eingetragen, dass wir 1.000 Mark Reisegebühr erlegt und außerdem 9.000 Mark in Gold deponiert hätten und berechtigt seien, bis 2. August 2020 abends 6 Uhr als Reisende erster Klasse in Österreich uns aufzuhalten, vorbehaltlich einer etwaigen Verlängerung, die wir mit der Staatsverwaltung vereinbaren könnten. – Wir erhielten sodann eine gedruckte Belehrung in deutscher und englischer Sprache, wie wir uns in Österreich zu benehmen hätten, um nicht gegen Gesetz und Sitte zu verstoßen, wie auch die gesetzlichen Folgen, welche Kontraventionen nach sich ziehen würden, daraus entnommen werden konnten, und wurden uns dann zwei prachtvolle Zimmer in den Wohngebäuden angewiesen, welche eine berückende Aussicht gegen die Berge boten.

Nachdem wir uns gereinigt und mit einem Bade erfrischt hatten, erhielten wir die Einladung des Kreisbeamten, seinem Empfange nach der Oper beizuwohnen. Wir stärkten uns mit einem Imbiss im Gemeindehause, wohnten einer Oper von Mozart bei, der in Salzburg noch im 21. Jahrhundert als berühmtester Landsmann verehrt wird, und wurden nach Beendigung der Oper, die vor dichtgefülltem Hause aufgeführt wurde, von dem Personale des Hauses nach den Empfangssälen des Kreisbeamten gewiesen, die in einem Gebäude nahe der Oper, zu welchem man durch einen gedeckten Gang gelangen konnte, gelegen waren. – Ich will nicht bei der Schönheit dieses Baues und der Empfangsräume verweilen, noch die Menge der Besucher erwähnen, da ich mir näheres für später vorbehalte, wo die Hilfsquellen zur Sprache kommen werden, über die Österreich im 21. Jahrhundert verfügt. Nur will ich sagen, dass wir verwundert waren, die ersten Sängerinnen nach der Oper mit funkelnden Steinen an Brust und Hals am Arme höflicher Herren beim Kreisbeamten erscheinen zu sehen, was wir damals mit der kommunistischen Gesellschaftsordnung nicht zu vereinbaren wussten.

Als wir zur Ruhe gingen, machte man uns aufmerksam, dass die Züge in der Richtung nach Wien um 6 Uhr und um 9 Uhr morgens von Salzburg abfahren, und wählten wir den zweiten Zug.

Am nächsten Morgen warfen wir von unseren Fenstern einen Blick über die herrliche Gegend und sahen überall auf Feldern und Wiesen rüstig arbeiten, Lieder erklangen von den Gefilden und schien ein gewisser Wetteifer alle zu beleben. Wir frühstückten im Speisesaale, wo uns ein allerliebstes Mädchen mit dem Nötigen versorgte, unternahmen einen Spaziergang in die ihrer Schönheit wegen berühmte Umgebung der Stadt und reisten um 9 Uhr ab, nachdem uns eine freundliche Hausgenossin, welche das Geschäft einer Aufwärterin im Fremdenpalaste besorgte, noch einen Gruß des Kreisbeamten und des Gemeindebeamten gemeldet hatte.

Man darf aber nicht glauben, dass wir uns irgendwelche Freiheiten gegen dieses „Kammerkätzchen“ oder eine geringschätzige Behandlung hätten erlauben dürfen. Unsere gedruckte Belehrung bedrohte uns für einen solchen Fall mit unverzüglicher Entfernung aus Österreich, wie uns auch kundgetan war, dass jedes Mädchen und jede Frau in Österreich ohne Rücksicht auf deren Beruf Anspruch auf ritterliche Höflichkeit erhebt.

Bahnhof, Waggons, Dienstuniformen des Eisenbahnpersonals zeigten edle Einfachheit und feinen Geschmack. Nach Vorweisung unserer Aufenthaltskarte wurden wir vom Oberschaffner nach dem besten Coupé gewiesen, in welchem wir einige Professoren fanden, die ihre Ferienreise machten. Der Zug war voll besetzt mit Leuten jeden Berufes, die kürzere und längere Strecken zurücklegten, wozu ihnen eine Reiselegitimation des Beamten ihrer Heimat das Recht gewährte. Einige Mal war der Andrang von Reisenden etwas zu groß und dann mussten jüngere Leute ohne Rang sich begnügen, in den Gängen und zwischen den Sitzen zu stehen, aber es wurde wieder Platz und so dauerte die Unbequemlichkeit nicht lange. Wer sich nicht fügen wollte, hatte die Wahl, auszusteigen und zurückzubleiben, was nichts auf sich hatte, weil man überall angenehm wohnt und mit allem gut versorgt ist und man ja doch nur zum Vergnügen reist. Die wenigen Personen, die im Dienste reisen, haben allerdings Anspruch auf alle erdenklichen Bequemlichkeiten und unaufgehaltene Beförderung.

Wir hatten unterwegs zweimal kalten Imbiss mit Erfrischungen nach unserer Wahl, erhielten auf unseren Wunsch, da wir uns scheuten, mit den Reisenden Deutsch zu konversieren, englische Bücher und Zeitungen aus der fahrenden Bibliothek zum Gebrauche und kamen um 4 Uhr über die St. Pöltener Zweiglinie nach Tulln, wo uns der Schaffner einem am Bahnhofe anwesenden Herrn als die beiden Amerikaner vorstellte. Es war Herr Zwirner, der, obwohl er Englisch an Mr. Forest geschrieben, doch nur Deutsch mit uns sprechen wollte und uns zu unserer Aufklärung mitteilte, der Schaffner, der uns schon in Wels um das nächste Ziel unserer Reise gefragt und erfahren hatte, dass wir noch heute zu Herrn Zwirner in Tulln wollten, habe, wie das immer geschehe, wenn es sich um Fremde handelt, von Linz aus den Kreisbeamten in St. Pölten und dieser den Bezirksbeamten in Tulln telegraphisch von unserer Ankunft und dem Zwecke unseres Besuches verständigt. Demnach sei er, Zwirner, der in den nahegelegenen Bergen arbeitete, rechtzeitig von unserer Ankunft benachrichtigt worden, damit die Fremden den Zweck ihrer Reise ohne Umwege erreichen sollten.

Wir begaben uns nach unseren Zimmern, die in gastfreundlicher Absicht so gewählt waren, dass wir die Aussicht über die Donau und den Tullnerboden mit den angrenzenden waldbewachsenen Höhen genießen und sehen konnten, dass das ganze Land wie ein Garten bebaut ist. Zwirner wollte uns gleich mit dem Landstriche, der vor uns lag, bekannt machen. Das Gebiet zwischen der linker Hand strömenden Donau und den Bergen, die sich rechter Hand in sanften Bogen bis meilenweit vor uns nach Osten erstreckten, nennt man den Tullnerboden. Er ist flach, wie eine Tenne und unendlich fruchtbar. Links, jenseits der Donau, sieht man ausgedehnte Auen und weiterhin anmutige Berge, die sich weit hinaus im Osten mit den diesseitigen Bergen zu kreuzen scheinen. Doch windet sich dort die Donau, deren Lauf man nicht mehr verfolgen kann, in südöstlicher Richtung zwischen den Bergreihen durch. Unsere Bergkette ist von einem scharf abfallenden Berge abgeschlossen. „Auf diesem Berge“, sagte Zwirner, „steht die alte Ruine Greifenstein, zwei volle deutsche Meilen von hier, und links davon, noch eine Viertelmeile weiter und schon jenseits der Donau gelegen, seht ihr den mächtigen Bau des Schlosses Kreuzenstein, vormals gräflich Wilczekscher Besitz und jetzt, wie alle alten Burgen und Schlösser, zur Zivilliste geschlagen. Der Kaiser lässt sich aber dort von altersher von einem Mitgliede der Familie Wilczek vertreten.“ – Zwirner nannte uns die Ortschaften, die vor uns lagen. Die Straße rechter Hand führe nach Staasdorf, das wir nahe vor uns sahen, und nach Ried, das wir nicht sehen könnten, im Gebirge. Am Saum der Gebirge, von Staasdorf nach Osten vor uns, nannte er uns die Ortschaften Chorherrn, Tulbing, Königstetten und näher zu uns liegen in dieser Richtung Frauenhofen und Nietzing, an der Donau stromabwärts Langlebarn, Muckendorf, Zeiselmauer, dann im fernen Osten Wördern und St. Andrä, welches sich wieder an die Berge lehnt; von da zurück, halbwegs nach Königstetten, Wolfpassing. – Tulln sei Bezirksvorort und alle diese Ortschaften, ein großer Teil des rechtsseitigen Waldgebietes und viele Ortschaften nach Süden und Westen, die von unseren Fenstern aus nicht zu sehen waren, gehörten zu diesem Bezirke. Jenseits im Osten beginne der Klosterneuburger Bezirk. Wir sahen keine Kirchtürme, aber die aus mächtigen, kastellartigen Gebäuden bestehenden Dörfer waren wohlgepflegt, mit Ziergärten, Parkanlagen und Obstgärten eingerahmt und von großen Wirtschaftsgebäuden begleitet, die überall abseits angelegt waren. Eigentlicher Wald war auf dem Tullner Boden nicht zu sehen, aber die Berge waren herrlich bewaldet. Von den Bergkuppen nannte uns Zwirner nur den Tulbinger Kogel zwischen Tulbing und Königstetten, den wir näher kennen lernen sollten. In Königstetten sahen wir auch ein großes Schloss mit weit ausgedehnten Gärten und Park, das nach Zwirners Mitteilungen zur Zivilliste gehörig sei und wo heuer ein Fürst Hochberg Hof halte.