Erster-Weltkriegs-Tagebuch aus der böhmischen Provinz

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Erster-Weltkriegs-Tagebuch aus der böhmischen Provinz
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Josef Brauner

ERSTER-WELTKRIEGS-TAGEBUCH AUS DER BÖHMISCHEN PROVINZ

Aufschreibungen aus Grulich der Kriegsjahre 1914 bis 1918 und danach 1919 bis 1921

Herausgegeben von Dieter Benatzky

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96008-612-3

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Grulich - Kleinstadt in Deutsch-Böhmen

Einführung des Herausgebers

Das Tagebuch

Das Jahr 1914

Das Jahr 1915

Das Jahr 1916

Das Jahr 1917

Das Jahr 1918

Das Jahr 1919

Das Jahr 1920

Das Jahr 1921

Anhang

Namenslisten etc. aus dem fortlaufenden Text des Tagebuches

Zur Person von Josef Brauner

Endnoten

Widmung

Es ist ein glücklicher Zufall, dass der Stadtsekretär der kleinen ostböhmischen Stadt Grulich während des Ersten Weltkrieges und in den entscheidenden Jahren danach detailliert wichtige und unwichtige Ereignisse und Begebenheiten aufgezeichnet hat. Er hat notiert, zitiert und kommentiert. Damit hat er ein faszinierendes Zeugnis vom Ende der k. k. Monarchie und der Situation der Deutschen in Böhmen hinterlassen, für das wir Josef Brauner aufrichtigen Dank schulden.

Es ist auch ein glücklicher Umstand, dass Durchschriften dieser Aufschreibungen erhalten sind. Eine Durchschrift befindet sich im Grulicher Stadtmuseum. Eine andere Durchschrift hat der Herausgeber im Nachlass seiner Familie vorgefunden. Sie blieb lange Zeit unbeachtet.

Im Jahr 2014 hat sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum hundertsten Mal gejährt. Nun ist es an der Zeit, dass die Öffentlichkeit von den Vorgängen in der ostböhmischen Kleinstadt stellvertretend für viele andere sudetendeutsche Städte und Gemeinden während des Ersten Weltkrieges erfährt. Die Aufzeichnungen des Josef Brauner sind ein einzigartiges Zeitzeugnis der Deutschen in Böhmen. Es ist der Wunsch des Herausgebers, dass sie dazu beitragen, den Prozess der Versöhnung und Verständigung weiterzuführen. Nur auf der Grundlage der Wahrheit können Vorurteile, Schuld und Unfriede getilgt werden.

Dieses Zeitzeugnis ist daher allen den Sudetendeutschen und ihren Nachfahren sowie allen Tschechen gewidmet, die guten Willens und bereit sind, ein für alle Mal zu vergeben, was sie einander angetan haben.

Grulich – Kleinstadt in Deutsch-Böhmen

Die Deutsch-Böhmen waren kein einheitlicher Volksstamm. Sie bevölkerten im Wesentlichen die Randgebiete des heutigen Tschechiens zu Niederbayern, Franken, Sachsen und Schlesien. Ihre Vorfahren waren keine Eroberer, sondern sie wurden im 12. und 13. Jahrhundert von den Landesfürsten gerufen. Es waren Bauern, Handwerker und vor allem Bergleute, die für die Entwicklung dieser Gebiete gebraucht wurden.

Erst um 1918 kam der Name 'Sudentenland' auf, und die Deutsch-Böhmen waren die Sudetendeutschen. Dieser Name rührt vom Gebirgszug der Sudeten her, der im Nordosten des Landes an der Grenze zu Schlesien liegt.


Abbildung 1: Böhmen und Mähren mit den deutschen Siedlungsgebieten (Quelle für diese Abbildung freundlicherweise vom Archiv des Vereins der Adlergebirgler zur Verfügung gestellt)

Etwas westlich von den Sudeten liegt das Adlergebirge mit der Grenze zu Schlesien. Es grenzt an das Habelschwerter Gebirge im Nordwesten und an das Glatzer Schneegebirge im Nordosten.

Das 'Grulicher Ländchen' befand sich im südöstlichen Zipfel des Adlergebirges und ganz im Osten Böhmens, wo auch die 'Stille Adler' entspringt. Es erstreckte sich als schmaler Streifen zwischen der mährischen Grenze im Osten und Süden sowie der preußisch-schlesischen Grenze im Norden und Nordwesten bis zum Grulicher Schneeberg hin (1.425 m). Die Grenze zu preußisch Schlesien verlief auf dem Gebirgskamm, der die Grafschaft Glatz umrahmte.


Abbildung 2 Grulich in einer alten Ansicht vor dem Ersten Weltkrieg

Der Höhenrücken des Unteren Adlergebirges schloss das Grulicher Ländchen nach Süden ab, so dass es einen natürlichen Zugang nach Innerböhmen nur im Tal der Stillen Adler hatte. Das Grulicher Ländchen gehörte zum Kreis Königsgrätz in Böhmen.

Hier hat Josef Brauner den Ersten Weltkrieg erlebt und die Begebenheiten aufgezeichnet. Neben Grulich werden die direkt um Grulich liegenden Gemeinden Mittel-Lipka, Ober-Lipka, Nieder-Heidisch, Ober-Erlitz, Nieder-Ullersdorf, Herrnsdorf, Lichtenau und Wichstadtl genannt. Die Stadt Senftenberg wird auch eine Rolle spielen. Sie liegt bereits im 'Tschechischen'.1

Einführung des Herausgebers

Wir Menschen sind geschichtliche Wesen. Herkunft und Heimat sind Quell unserer Identität als Menschen, als Gesellschaften und Staaten. Doch Millionen Menschen haben durch den Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verloren, so auch im Sudetenland. Über drei Millionen Sudetendeutsche wurden 1945 und 1946 gewaltsam aus ihrer angestammten Heimat abtransportiert. Einer von ihnen ist der Herausgeber dieses Zeitzeugnisses.

Im Frühjahr 1945 kamen die letzten Reste der geschlagenen Truppen der deutschen Wehrmacht durch Grulich. Danach strömten die siegreichen Russen hinein und kurz darauf auch die Tschechen. Letztere haben dann in ihrer blinden Rache furchtbare Exzesse der Gewalt veranstaltet. Die Häuser wurden okkupiert. Meine Mutter durfte in ihrem eigenen Haus mit zwei kleinen Kindern im Alter von ein und zwei Jahren nur noch eine einzige Stube im Dachgeschoss bewohnen. Im Jahr 1946 kam dann die geplante Vertreibung. Die Tschechen wollten endlich 'ihre' Deutschen loswerden. Auf Befehl mussten sich am 1946 alle Deutschen am Bahnhof sammeln, und an einem Tag im Mai war es auch für meine Mutter und uns beide Kinder so weit. Meine Mutter durfte, wie alle anderen, nur das Nötigste mitnehmen. Mehr konnte sie auch nicht tragen, sie hatte ja noch zwei kleine Kinder, die auf diesem schweren Weg versorgt werden mussten. Die Menschen wurden in offene Viehwaggons verladen. Dann ging es nach Westen, in die amerikanische Zone. Ziel war zunächst Würzburg und dann Ochsenfurt.

Von all dem habe ich keine Erinnerung. Damals war ich noch nicht zwei Jahre alt. Ich weiß auch nicht, was meine Mutter als wichtig genug erachtet hatte, um es zusätzlich zu den allernötigsten Dingen auf dem Transport mitzuschleppen. Viel kann es nicht gewesen sein. Ob damals schon die vorliegenden Tagebuchaufschreibungen dabei waren, kann ich deshalb nicht mit Gewissheit sagen. Falls sie später erst auf verschlungenen Wegen in den Besitz meiner Eltern gekommen sein sollten, wüsste ich es nicht zu erklären. Tatsache ist, dass ich im Nachlass meines Vaters einen grauen Aktendeckel vorfand, der 258 Blatt Durchschlagpapier mit den Aufzeichnungen des Josef Brauner aus der Zeit des Ersten Weltkriegs barg. Es waren Kopien auf Durchschlagpapier mit Kohlepapier angefertigt, wie es damals üblich war. Ich weiß nicht, wo das Original ist, wie viele Durchschläge möglicherweise angefertigt worden sind und wo sie sich befinden. Inzwischen habe ich herausgefunden, dass eine weitere Durchschrift der Tagebücher im Grulicher Stadtmuseum aufbewahrt wird.

Beim Studium dieser akribischen Aufzeichnungen habe ich festgestellt, dass der Schlüssel für das Verständnis der leider tragischen Geschichte der Deutschen in Böhmen ganz wesentlich in den lokalen Geschehnissen während des Ersten Weltkrieges und danach liegt. In diesen Aufzeichnungen kommt immer wieder zum Ausdruck, wie sich die Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen im k. u. k. Böhmen während des Ersten Weltkrieges entwickelten und leider immer stärker von gegenseitigem Misstrauen geprägt wurden.

 

Die Koexistenz zwischen Deutsch-Böhmen und Tschechen war allerdings schon vor dem Ersten Weltkrieg vergiftet. Die gegenseitige Abneigung hat sich im Verlauf der Geschichte aufgebaut und verstärkt. Der verlorene Krieg und die Staatsgründung der Tschechoslowakei haben diese zerrütteten Beziehungen schließlich verhärtet und offenbar gemacht.

Die Deutsch-Böhmen waren immer ein ungeliebter Bevölkerungsteil des neuen Staates. Deutsche und Tschechen waren nie staatsbürgerliche Partner, sondern immer nur Rivalen. Insofern ist das Tagebuch des Josef Brauner – von ihm selbst Aufschreibungen genannt - äußerst hilfreich, um dies und die weitere Entwicklung zu verstehen.

Josef Brauner erzählt authentisch, wie sich der Erste Weltkrieg auf das soziale, wirtschaftliche und militärische Leben in Grulich ausgewirkt hat. Detailgetreu geben die Aufschreibungen wieder, was damals geschehen ist und was die Menschen bewegt hat. Sie sind ein Spiegel der damaligen Verhältnisse und ein faszinierendes Zeugnis der deutschsprachigen Minderheit Böhmens. Andere Gemeinden Deutsch-Böhmens werden ähnliche Geschichten aufzuweisen haben.

Bei der Lektüre dieses Tagebuches muss man sich in die damalige Zeit versetzen: Die Menschen wurden zur Ergebenheit gegenüber der Obrigkeit erzogen. Es gab noch keinen Rundfunk, von Fernsehen und Internet ganz zu schweigen. Die einzigen Informationsquellen für die Meinungsbildung waren damals die Zeitungen und das, was die Leute selbst erlebt haben.

Als Sekretär der Stadtverwaltung von Grulich hatte der Autor darüber hinaus Einsicht in alles, was sich in der Stadt von Amts wegen tat. Die Tagebücher enthalten daher auch genaue Angaben zur Bevölkerung, Mobilisierung, zu weiteren interessanten Statistiken und zu den politischen Einstellungen während des Krieges und in den für die Deutsch-Böhmen tragischen Jahren nach dem Krieg. Die Tagebücher sind daher eine Fundgrube für historisch Interessierte. Aber sie zeigen auch, wie Unterwerfung und gewaltsame Eingliederung von Menschen in Staaten Unfrieden und Hass schüren. Das Tagebuch ist deshalb auch eine eindringliche Mahnung an alle Menschen zur gegenseitigen Achtung, zu Respekt und Menschenwürde. Um die Authentizität dieses Tagebuches auch im Sinne der Konservierung des Zeitgeistes zu erhalten, wurden wie alle anderen politischen Bewertungen tendenziell antisemitische Meinungsäußerungen, von denen sich der Herausgeber in aller Form distanziert, unverändert übernommen.

Was Orthographie und Interpunktion angeht, so wurde der Text an den Stellen, wo der Originaltext stark von unserer heutigen Schreibweise abweicht, leicht überarbeitet. Außerdem wurden einige heute ungebräuchliche Ausdrücke durch entsprechende Bezeichnungen mit gleichem Sinn ersetzt, um die Verständlichkeit zu verbessern. Umfangreichere wörtliche Zitate sowie die teilweise umfassenden Namenslisten wurden aus dem Text herausgenommen und in den Anhang verwiesen. Ferner sind alle in diesem Tagebuch vorkommenden Namen im Anhang in alphabetisch geordneten Einzellisten aufgeführt.

Zur besseren Übersichtlichkeit wurden jedes Datum zu einem Eintrag und die dafür verwendeten Schlagworte durch Fettschrift hervorgehoben. Zu einigen Namen und Begriffen wurden Fußnoten mit Erklärung hinzugefügt. Rainer Ostermann danke ich für die kritische Durchsicht und viele wichtige Hinweise für die Veröffentlichung des vorliegenden Tagebuches. Mein Dank gilt ebenso Karl Mück, Obmann des Vereins der Adlergebirgler, der mir mit Rat und Tat zur Seite stand, sowie Elisabeth Pischel von der Geschäftsstelle des Vereins der Adlergebirgler in Waldkraiburg für ihre wertvolle Unterstützung.

Bad Endorf, im Dezember 2015 Dr. Dieter Benatzky

Das Tagebuch

Das Jahr 1914

In Grulich wurde die teilweise Mobilisierung am Sonntag, dem 26. Juli 1914 bekanntgegeben. Bereits zuvor war die Beschränkung des Verkehrs auf den Eisenbahnen erlassen worden.

Ich saß gerade beim Sonntagsfrühschoppen im Gasthaus des Richard Prause, als mich der städtische Amtsdiener Gottfried Stöhr vom Eintreffen des Mobilisierungsbefehls verständigte. Sofort begab ich mich zur Dienstleitung in die Stadtkanzlei.

Eine große Volksmenge stand beim Amtshaus und bei der Pfarrei, wo die Mobilisierungskundmachung angeschlagen war. Menschengruppen standen auch auf den Straßen und Plätzen und vor allen Haustüren. Es war wie bei einem aufgeregten Bienenschwarm.

Binnen 24 Stunden mussten die Einberufenen zum Militärdienst einrücken. Bei der Abreise spielten sich Jammerszenen ab; denn so mancher wird die Heimat und seine Angehörigen wohl nicht mehr sehen. Wenn es mit dem Kriege nur bei Serbien bliebe!

Aber das ist eine schwache Hoffnung. Schon höhnen die Serben, dass sie bei einem bevorstehenden Kampf nicht allein sein werden. Damit ist offenbar Russland gemeint, welches schon seit Jahren unserer Monarchie mit unendlicher Gehässigkeit gegenüber steht.

31. Juli 1914: Es ist so: Russland, das autokratische Russland, spielt sich als Beschützer der serbischen Königsmörder auf.

Eine allgemeine Mobilmachung ist heute angeordnet worden.

Insgesamt sind aus Grulich, soweit die bisherigen Erhebungen zeigen, 153 Mann eingerückt. Von denen sind allerdings wieder 13 Mann rückbeurlaubt worden. Von den städtischen Beamten und Angestellten mussten einrücken: Kassier Hans Philipp, Amtsdiener Gottfried Stöhr und die Polizeiwachleute Josef Zwiener, Josef Brauner und Ferdinand Gottschlich.

Nun geht der schon lange befürchtete Weltbrand los. Deutschland, unser treuer Bundesgenosse, erklärt Russland den Krieg, nachdem schon zuvor russische und auch französische Truppen die deutsche Grenze überschritten hatten. Deutschland, auch von Frankreich bedrängt, muss Luxemburg besetzen und in Belgien einrücken, um einem Vorstoß des französischen Heeres zuvorzukommen. Darauf hin erklärt England den Krieg mit Deutschland.2

Die zum Niederschreiben dieser Blätter nötige Zeit muss ich abstehlen, weil meine Arbeitslast groß ist. Ich muss nicht nur die laufenden Amtsgeschäfte versehen, sondern auch die aus der Mobilisierung und dem Krieg hervorgehenden Mehrarbeiten. Außerdem muss ich teilweise den Kassier vertreten. Da kann ich den erforderlichen Fleiß nicht verwenden, und diese Aufzeichnungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

2. August 1914: Der Stadtvorstand hat beschlossen, an die hiesige Bevölkerung einen Spendenaufruf für die armen Angehörigen der Eingerückten ergehen zu lassen. Hiermit wurde Stadtrat Alois Veith betraut. Dieser Aufruf ist zu drucken und in die Häuser zu verteilen. Sodann sollen mehrere Deputationen, bestehend aus je zwei Mitgliedern, eine Sammlung in der Gemeinde vornehmen. Hierzu wurden vorgeschlagen:

Ferdinand Zeh, Josef Kubelka, Anton Schwarzer, No. 195, Johann Kristen, Albert Winkler und Ferdinand Felzmann, als Ersatzmann Adolf Schmidt.

Dies ist der Wortlaut des Aufrufes:

‚An die Einwohner von Grulich

Mitbürger!

Eine schwere Zeit ist über unser liebes Vaterland hereingebrochen, eine Zeit, deren furchtbaren Ernst wir zur Stunde noch nicht ermessen können.

D e r K r i e g h a t b e g o n n e n !

Dem Rufe des obersten Kriegsherrn folgten Österreichs tapfere Söhne, um die Ehre des Vaterlandes zu verteidigen.

Zahlreiche Mitbürger, die in Zeiten des Friedens als Familienoberhaupt für ihre Angehörigen – Weib und Kinder, Eltern oder Geschwister - sorgten, verließen Haus und Hof, die Werkstätte, den Pflug.

Mit warmer Begeisterung für die gerechte Sache geleiten wir die tapferen Streiter und lassen die innigsten Segenswünsche den ins Feld Ziehenden folgen.

Auf unabsehbare Zeit entbehren nun viele Familien ihres Ernährers und Beschützers, und so mancher von denen, die dem ungewissen Schicksal des Krieges tapfer entgegengehen, ist von banger Sorge um die Seinen erfüllt.

Mitbürger! Lasst uns diese Sorge teilen und helfen nach Möglichkeit, sei es durch Spenden mit Geld, Lebensmitteln und Bekleidung, sei es durch Gewährung von Freitischen für Kinder oder Vermittlung von Arbeit und Einnahmequellen.

Die Krieger, die für uns im Felde stehen, werden euch für die Sorge um ihre Angehörigen treuen Dank wissen.

Grulich, am 2. August 1914 Der Stadtvorstand

Spenden werden in den nächsten Tagen durch die Mitglieder der Stadtvertretung abgeholt.‘

4. August 1914: Nachdem alle drei Polizeiwachleute zum Militär eingerückt sind, mussten schon vor einigen Tagen zwei Aushilfswachleute bestellt werden, und zwar der städtische Vorarbeiter Wenzel Bittner und der Gaswerksbote Franz Klenner. Diese haben den Tagdienst zu versehen. Was den Nachtdienst betrifft, so wurden der freiwillige Feuerwehrs- und der Militärveteranenverein ersucht, während der Dauer des Krieges die Nachwache zu besorgen, und zwar durch je zwei Mann von 9.00 Uhr abends bis 4.00 Uhr früh.

Dieser Dienst wird schon seit dem 1. August versehen. Es gehen immer ein Feuerwehrmann und ein Veteran miteinander. Als Entlohnung wird für Mann und Nacht 1 Krone bestimmt. Auch sollen die auf Ferien hier anwesenden Studenten die städtischen Wachleute und die Nachtwache bei ihrem Dienst bezüglich Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe unterstützen, eventuell Anzeigen erstatten und besonders auf Fremde Acht geben. Sie erhalten Legitimationsschleifen mit dem Aufdruck ‚Städt. Amtsorgan’, welche verdeckt zu tragen und nur im Notfall vorzuzeigen sind.

Heute langte vom hiesigen Bahnamt folgendes Telegramm beim Stadtamt ein: ‚An alle Dienststellen. Von Frankreich sind auf der Route über Bergab, Görs, Haufa Richtung Dresden mehrere Autos mit Damen besetzt mit 100 Millionen Francs für russisches Land unterwegs. Eines dieser Autos hat die Nummer 12.386/L. Sogleich politische Behörden, Gendarmerie, Finanzwache verständigen.’

Darauf hin wurden alle Straßeneingänge verbarrikadiert, und zwar beim Fachschulgebäude und bei der Schroll-Fabrik durch je zwei Lastwagen, beim Meierhofe durch Ketten, beim Bräuhaus durch große Bierfässer und an der Krümmung der Strasse nach Mährisch Rothwasser durch einen quer über die Straße gezogenen starken Baumstamm, welcher mittels Ketten an den Alleebäumen befestigt wurde. Zu diesen Posten wurden Feuerwehrmannschaften beordert, welche die ganze Nacht bis 5 Uhr früh Wache hielten.

Die ganze Bevölkerung war erregt, und es wurde von nichts anderem als von Mobilisierung, Krieg und Kriegsgefahr gesprochen. Abends war auf allen Straßen, Gassen und Plätzen, besonders aber bei den Nachtposten ein lebhaftes Treiben bis in die späte Nacht. Eine Gruppe von Jungmannen zog in voller Straßenbreite durch die Stadt, deutschvölkische und vaterländische Lieder singend. Das begehrte Auto zeigte sich aber nicht.

Die Zeitungen werden förmlich verschlungen; leider kommen sie aber nur unterbrochen und verspätet an.

5. August 1914: Heute kam der Stationsvorstand – Deutscher – atemlos in die Stadtkanzlei gelaufen und meldete, dass laut einer Drahtnachricht französische Autos bei Reichenberg die österreichische Grenze überschritten haben und daher die Barrikaden strengstens zu bewachen seien. Dies wurde sofort angeordnet, und die Feuerwehr ließ ihre Mitglieder durch Hornsignale zusammenrufen. Eine halbe Stunde später meldete wieder der Finanzwach-Reszipient, dass die Insassen der Autos diese verlassen haben und nunmehr als verkleidete Maurer auf Fahrrädern ihre Reise weiter fortzusetzen beabsichtigen, wobei sie wahrscheinlich größere Orte umfahren. Es ist daher weniger auf die Barrikaden als auf die nächsten, außerhalb des Ortes gelegenen Verbindungswege zu achten.

Nachmittags. Telegramm, aufgegeben in Mittelwalde um 12.42 Uhr: ‚Französischer Konsul bereits in Mittelwalde, darf nach Österreich nicht eingelassen werden, nimmt Richtung Oderberg.’

Nachdem von diesem Telegramm die Bahnämter, Gendarmerie und Finanzwache Kenntnis haben, kommt es für das Stadtamt weniger in Betracht.

 

5 Uhr. Soeben wird die Nachricht verbreitet, dass der radikaltschechische Abgeordnete Klofatsch in Prag standrechtlich erschossen wurde. Da aber in diesen Tagen viel gelogen wird, glaube ich dieser Botschaft nicht. Verdient hätte er solches Schicksal schon vor zwei Jahren, als er in Serbien gegen Österreich Hochverrat spann.

Heute gegen Abend wurde die polizeiliche Bekanntmachung verlautbart, dass nach 10 Uhr abends in der Gemeinde vollständige Ruhe zu herrschen habe und dass Gruppenansammlungen verboten sind, was auch befolgt wurde. Vor dieser Stunde herrschte aber auf allen Plätzen und Gassen ein Lachen und Scherzen, als wollte man sich für das spätere ungewohnte Schweigen entschädigen. Das Publikum zog wie an einem Fest herum, obwohl schon die Nachricht bekannt geworden war, dass England an Deutschland den Krieg erklärt habe.

6. August 1914: Diensttelegramm, aufgegeben in Olmütz, am 6. August um 3.45 Uhr früh im Bahnstationsamt Grulich angekommen. Dringend. ‚Feindliche Aeroplane kommen von Breslau der Eisenbahnstrecke entlang und werfen Bomben. Sämtliche Posten, Gendarmerie und Behörden sofort melden.’

Weitere Telegramme.

‚Teplitz 6. August. ‚Ein feindliches Luftschiff wurde über Zell a. d. Donau gesichtet, zwischen 9 bis 10 Uhr abends in der Richtung gegen Ungarn. Ein Aeroplan donauabwärts durch Pöchlarn, Direktion A. T. E

Von allen diesen Aeroplanen haben wir in Grulich glücklicher Weise nichts bemerkt.‘

‚Olmützer Direktion 6/8 11. V: ‚Vom Statthaltereipräsidium in Brünn folgende Depesche angelangt: Von Ratibor sind russische Aeroplane auf der Fahrt nach Breslau der österreichischen Grenze entlang und werfen Bomben. Gendarmerieposten und Behörden verständigen.‘

Heute keine Zeitungen angelangt. Verlangen danach ist groß.

7. August 1914: Diensttelegramm Olmütz, Direktion, 7. August 9.48 Uhr. ‚Laut Nachricht von Röderau und Welbten besteht dringender Verdacht, dass die französischen Autos versuchen, Geldsäcke und Kisten auf Landfuhrwerke und Bauernkarren umzuladen. Es werden auf allen Chausseen und Feldübergängen Fuhrwerke jeder Art anzuhalten und eingehend zu durchsuchen sein. Es ist ersucht worden, außer Bahnbediensteten auch Orts- und Polizeibehörden, Feuerwehr und Dienststellen des verschärften Bahnschutzes sofort zu benachrichtigen und für Weiterverbreitung an die Ortsbehörden zu sorgen.’

Olmütz Nordböhmen, 7. August 11.45 Uhr. ‚Ein feindlicher Aeroplan Richtung Prerau-Olmütz.’

Deutschland weist sämtliche junge Österreicher aus, damit sie hier ihre militärischen Pflichten erfüllen.

Wie mir gestern ebenfalls ein gewisser Grulicher aus Preussen erzählte, ist die Erbitterung in Deutschland über den ruchlosen und schändlichen Überfall durch Russland und Frankreich ungeheuer. Eine Million Männer haben sich schon freiwillig zum Kriegsdienste gemeldet. Selbst Mütter bringen mit Entschlossenheit 16jährige Söhne dem teuren Vaterlande dar!

Eine Zeit wie jetzt wird kaum mehr ein Geschlecht erleben; ein Meer von Blut und Tränen bereitet sich vor.

Bei Lichtenau soll heute ein Aeroplan niedergegangen sein. Gendarmerie und Polizei begaben sich sofort dahin; aber diese Nachricht erwies sich als Lüge. Nach dem Urheber wurde zwar gefahndet, er konnte aber nicht ermittelt werden.

8. August 1914: Telegramm Olmütz. Direktion, 8. August 12.00 Uhr. ‚Nach Mitteilung des hiesigen Bahnkommandos sollen heute ab 5 Uhr früh deutsche Flieger unterwegs sein. Die beteiligten Organe sind zu verständigen, dass beim Nahen der Flieger nicht geschossen wird.’

Auch diese Flieger wurden hier nicht gesehen.

Goldgeld gibt es überhaupt nicht mehr. Auch das Silber- und teilweise sogar Nickelgeld verschwindet aus dem öffentlichen Verkehr, weil viele Leute es unvernünftiger Weise zurückbehalten und auf Banknoten kein Kleingeld herausgeben. In einzelnen Geschäften müssen die Leute entweder genau abgezähltes Geld hinlegen, oder es wird vertrauenswürdigen Kunden so lange geborgt, bis eine runde Summe, die einer Banknote entspricht, aufgelaufen ist.

Das führt zu empfindlichen Verlegenheiten.

Die Lebensmittel steigen im Preis. Weizenmehr früher 1 Kilo zu 44 Heller kostet jetzt 60 Heller.

Die Sammlung für die armen Angehörigen der Eingerückten hat den Betrag von 1.309,80 Kronen ergeben. Es wurde aber nicht bei allen Bewohnern, sondern nur bei den wohlhabenden gesammelt.

14. August 1914: Nach einer Prager Zeitung entsprechen die Drahtnachrichten über die Autos mit der Millionenfracht, die radfahrenden Maurer usw. nicht der Wahrheit. Seither sind schon mehrere Telegramme über Autos und Aeroplane hier eingetroffen, die ich aber nicht mehr anführe.

17. August 1914: Telegramm: ‚Entscheidender Sieg der Österreicher bei Waljewo. Viel Kriegsmaterial erbeutet. Serben werden verfolgt. Unser 16. Inft. Regnt besonders tapfer gewesen.’

Schon vor einigen Tagen hatte das Redemptoristenkollegium3 in Niederheidisch einen großen Reisighaufen links der großen Steige aufschichten lassen, welcher mit brennbaren Stoffen getränkt war und dazu dienen sollte, beim ersten Siege der Österreicher angezündet zu werden, was dann heute Abend geschah. In der Stadt standen und zogen die Leute zahlreich umher. Wenn sie auch einen Sieg zu feiern hatten, so hätte dies in Hinblick auf die blutigen Opfer, die ein solcher kostet, auch in gesetzterer Weise geschehen können. Aber hier war es wie bei einer Faschingsunterhaltung, was bei den jetzigen tiefernsten Zeiten jeden denkenden und fühlenden Menschen abstoßen muss.

In der Stadtkanzlei ist stets sehr viel zu tun. Kaum sind die Anmeldungen auf Unterhaltsanspruch der Angehörigen der Eingerückten an die Bezirkshauptmannschaft eingesandt, so erkundigen sich schon die Weiber, wie weit die Unterstützung gediehen ist. Heute war eine Menge Fabrikweiber gleichzeitig in die Kanzlei gekommen, um die staatliche Unterstützung zu betreiben. Ich machte sie aufmerksam, dass jetzt alle Ämter viel Arbeit haben und daher einige Geduld nötig sei. Einzelnen sehr Bedürftigen mussten Vorschüsse von 10 bis 20 Kronen gegeben werden. Es ist übrigens Tatsache, dass mehrere Weiber aus der Kolonie sich nicht schämten, schon einen Tag nach der Einrückung ihres Mannes Vorschüsse auf den Unterhaltsbeitrag zu begehren. Das berechtigt mich zu der Kritik: Viele Fabrikarbeiter, die bis jetzt immer guten Verdienst hatten, haben eben alles flott verlebt und keine Ersparnisse gemacht. Jetzt sind die meisten am Trockenen. Aber einige meinen: ‚Wenn kein Verdienst mehr sein wird, gehen wir auf die Felder und raufen die Erdäpfel aus.’

Einige Weiber der Eingerückten sind stinkfaul. Statt in der Fabrik drei Tage wöchentlich zu arbeiten, was sie ganz gut könnten, da sie kinderlos sind, gehen sie schön angekleidet spazieren und warten auf die staatliche Unterstützung. Mit welchen Eigenschaften soll man solche Leute bezeichnen?

22. August 1914: Heute langte die Einberufungskundmachung ein, laut welcher die Reservemänner und Ersatzreservisten der k. k. Landwehr, dann die Rekruten und Landsturmpflichtigen älteren Jahrgänge und beurlaubte Landsturmpflichtige einrücken müssen.

Seit dem Kriegszustand werden in allen Orten, besonders aber an der Reichgrenze, die Durchreisenden überwacht und kontrolliert. Sie müssen daher mit gemeindeamtlichen Legitimationen versehen sein. Da hat nun die Stadtkanzlei massenhaft Arbeit. Selbst an Sonntagnachmittagen geben die Leute keine Ruhe. Wir haben solche Scheine an 300 Personen ausgestellt. Und sonderbar, je unruhiger die Zeit, desto größer die Reisewut. Abgesehen davon, dass viele Eheweiber der Eingerückten nach Hohenmauth oder Mährisch Schönberg reisen, um nochmals mit den Ehegatten zu sprechen, begeben sich andere Leute gruppenweise nach Mittelwalde und andere preußische Städte, um die neuesten Nachrichten vom Kriegsschauplatze zu vernehmen. Familien und sonstige Bekannte machen öfters Besuche als in ruhigen Zeiten. Es ist sogar lächerlicher Weise vorgekommen, dass junge Leute Legitimationen verlangten, um im Walde Schwämme zu suchen. Diesen wurde kurzweg die Tür gewiesen.

Mehrere Damen von Grulich haben schon seit einigen Wochen den Krankenpflegekurs in Mährisch Rothwasser besucht. Es sind dies die Frauen


Marie LandhausFrida Mück
Emilie LangerBertl Liebich
Berta KatzerFritzi Walla
Fräulein Klara SchmidtRisa Walla
Eugenie FiebingerAnna Ficker
Anna KatzerJosefine Laschek
Anna GeppertMarie Schrutek
Anna EisertMarie Raabe
Marie LindenthalMariechen Rotter
Wilhelmine KlarMizzi Wagner
Marie WalterEmilie Plischke
Anna LinkTrude Gottlieb
Berta DittrichEmilie Pohl
Liesel Wenzel

24. August 1914: Junge Damen haben weiters in Grulich eine Sammlung zu Gunsten des Roten Kreuzes eingeleitet. Der Ertrag von 427,20 Kronen wurde dem Kriegshilfebüro der k. k. Bezirkshauptmannschaft in Senftenberg eingesendet.

Heute traf der erste Leichtverwundete von der russischen Grenze hier ein. Es war der k. k. Finanzwach-Oberaufseher Schätz, welcher auf einem Wagen nach Lichtenau fuhr, um sich zu Verwandten zu begeben. Er hatte eine Verwundung am Fuß. Als Trophäe vom Gefechtsfelde hatte er die Trümmer seines Gewehrs mitgebracht, dessen er sich beim Handgemenge bei der Erstürmung einer feindlichen Stellung bedient hatte.

25. August 1914: Auch hier wächst die Kriegslust unter den jungen Leuten. Bis jetzt haben sich etwa 15 freiwillig gemeldet.

Heute rücken die Rekruten aus Grulich und Umgebung ein. Es ging dabei lustig zu. Harmonikaklänge und Gesang.

27. August 1914: Heute Abend wurden auf Veranlassung der Klosterpater auf dem Marienberge zahlreiche Freudenschüsse aus einem Kanonenmörser abgefeuert und wieder ein großer Reisighaufen angezündet. Das galt dem Siege unserer Truppen in der Schlacht bei Krasnik in Russland. Frage: Hätten Christus und seine Apostel, wenn damals überhaupt Pulver dagewesen wäre, auch geschossen und einen Feuerstoß angezündet?