Die große Hitze

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Die große Hitze
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Jörg Mauthe

DIE GROSSE HITZE

oder die Errettung Österreichs

durch den Legationsrat Dr. Tuzzi

Roman


4. Auflage

© Edition Atelier, Wien 2013

www.editionatelier.at

Lektorat: David Axmann

Covergestaltung: Jorghi Poll

Prime Rate Kft., Budapest

ISBN 978-3-900-3791-00

Das Buch ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere für Übersetzungen, Nachdrucke, Vorträge sowie jegliche mediale Nutzung (Funk, Fernsehen, Internet). Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder weiterverwendet werden.

Die Orthografie entspricht der Originalausgabe.

Mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur.


INHALT

ALS ANFANG

DAS ERSTE HAUPTKAPITEL

EIN ERSTES ZWISCHENKAPITEL

ZWEITES HAUPTKAPITEL

ZWEITES ZWISCHENKAPITEL

BEGINN DES DRITTEN HAUPTKAPITELS

IM DRITTEN ZWISCHENKAPITEL

FORTSETZUNG DES DRITTEN HAUPTKAPITELS

VIERTES HAUPTKAPITEL

FÜNFTES HAUPTKAPITEL

EINE LISTE TEILWEISE INTERESSANTER PERSÖNLICHKEITEN

VIERTES ZWISCHENKAPITEL

SECHSTES HAUPTKAPITEL

SIEBENTES HAUPTKAPITEL

IN DER FORTSETZUNG DES SIEBENTEN HAUPTKAPITELS

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

EINE WICHTIGE ZWISCHENBEMERKUNG

WEITERE FORTSETZUNG UND ENDE DES NEUNTEN KAPITELS

DAS ZEHNTE UND FAST LETZTE KAPITEL

NACHTRÄGE

WIENER LITERATUREN

ALS ANFANG
EINE VATERLÄNDISCHE RUHM- UND
EHRENTAFEL, ZUGLEICH WIDMUNG
AN MEINE FREUNDE

Der Anfang ist das Wichtigste an einem Buch, sagen meine Freunde, die sich auf das Schreiben von Büchern verstehen. Sorge dafür, sagen sie, daß der Anfang Vergnügen bereitet, und du wirst es leichter mit deinem Leser haben. Williger wird er dir in das schwierige Gestrüpp der nachfolgenden Exposition folgen, in der du ihm zu sagen versuchen wirst, was du ihm eigentlich sagen willst. Von einem gelungenen Anfang gerührt, erheitert und ein wenig neugierig gemacht auf das Kommende, wird er dir späterhin die eine oder andere Lücke oder Schwäche verzeihen, vor allem dann, wenn er aus dem guten Anfang auch auf ein ebensolches Ende hoffen darf.

Da ich diesen Rat hervorragend fand, dachte ich lange über einen wirklich guten Anfang nach und begann endlich dieses Buch mit den Worten: »Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Bewohner der Bundeshauptstadt Wien, sich vor neun Uhr morgens mies zu fühlen. Aber der Legationsrat Tuzzi fühlte sich an diesem Morgen besonders mies.« – Dieser Satz schien mir geeignet, den Leser in leicht faßlicher Weise vom Allgemeinen ins Besondere zu führen und vielleicht sogar durch den diskreten Hinweis auf bevorstehend Unbehagliches in Spannung zu versetzen. Auch zeichnet er sich für jeden, der Wien kennt, durch große Wahrhaftigkeit aus.

Alsbald wich jedoch meine Selbstgefälligkeit dem Zweifel, ob dieser Anfang auf den unvoreingenommenen Leser wirklich wichtig genug wirken würde. Zwar ist der österreichische Legationsrat, der da soeben über den staubigen Heldenplatz hinweg sich seinem Büro und einigen sehr merkwürdigen Ereignissen nähert, gewiß kein gewöhnlicher Mensch – so etwas kann wirklich nur jemand vermuten, der noch nie einem österreichischen Legationsrat Erster Klasse begegnet ist –, aber wichtiger als er werden die Dinge sein, mit denen er sich zu befassen haben wird. Und darauf weist der eben zitierte Anfangssatz leider nicht hin.

So dachte ich denn, mit etwas noch Allgemeinerem und Gewichtigerem anzufangen, und schrieb: »Seit nunmehr 32 Monaten waren keine Niederschläge zu verzeichnen gewesen«, doch strich ich nach kurzer Überlegung auch diese Worte, denn mit dem schönen Satz: »Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum, es wanderte ostwärts …« beginnt bekanntlich der Roman des hl. Robert Musil, und wenn ich auch nicht daran denke, meine oder des Legationsrates Tuzzi Beziehungen zu jenem zu leugnen, scheint es mir doch nicht gerade günstig, den Leser schon mit dem ersten Satz auf diese Relation aufmerksam zu machen; das könnte ihn zu falschen und mir doch ein wenig abträglichen Schlüssen verleiten.

Mit leiser Verzweiflung immer noch den Anfang suchend, der meinen Lesern wichtig genug erscheinen würde, um sie zu fortgesetzter Lektüre zu bewegen, geriet ich schließlich an die Frage, wer denn eigentlich die Leser seien, die ich mir und diesem Buche wünschte oder von denen ich mir vorstellen könnte, daß sie es mit einigem Genuß läsen. Und da entdeckte ich, daß ich mir ja doch nur meine Freunde und einige aus diesem oder jenem Grunde sonst verehrte Personen als Leser denken konnte, ja, daß ich diese verwickelte Biographie des Legationsrates Tuzzi eigentlich nur aufgezeichnet habe, um eben ihnen Vergnügen zu bereiten. Und da mir meine Freunde äußerst wichtig sind, gehören sie und nichts anderes an den Beginn dieses Buches.

Seinen Anfang bildet also eine Liste all derer, denen ich es widme:

Ich widme es dem bald nach dem Kriege verhungerten Journalisten Dr. Emil Mika, dem einzigen Soldaten der Deutschen Wehrmacht, der es je gewagt haben dürfte, zur Uniform einen Regenschirm zu tragen; ihm habe ich es zu verdanken, daß das Schreiben mein Beruf wurde.

Ich widme dieses Buch dem Andenken der Salzburger Malerin Agnes Muthspiel in Dankbarkeit für den Blumenstrauß, den sie als Trauzeugin meiner Hochzeit vor Jahrzehnten im morgengrauen Mirabellgarten gestohlen hat. Sie war die bedeutendste Frau, die mir in meinem Leben begegnet ist, und jeder, der die Ehre gehabt hat, Agnes Muthspiel zu kennen, wird mir beipflichten.

Ich nenne die Namen, wie sie mir so einfallen, jedoch muß ich eiligst den langsam in den Zustand der Verehrungswürdigkeit eintretenden Hans Weigel nennen, dem ich einmal versprochen habe, ein Buch zu schreiben; er möge mir nicht böse sein, daß er es erst 20 Jahre später kriegt.

Dem großen Paul Flora gilt die nächste Widmung, denn durch seine Lehre, daß Unernst das einzige ist, was man wirklich ernst nehmen muß, ist er zu einem wesentlichen Schrittmacher auf dem Wege zur totalen Austrifizierung der Welt geworden.

Mit bewegtem Herzen gedenke ich nun eines Unberühmten, des Hausmeisters Alfons Bierdimpfl nämlich (er hieß wirklich so), der schlichten und mürrischen Gemütes sein Amt versah, bitterlich weinte, als im März 1938 SA-Buben die jüdischen Mietparteien drangsalierten, und in den Apriltagen 1945 von russischen Marodeuren erschossen wurde, weil er die Frauen in seinem Haus vor Vergewaltigungen schützen wollte.

Ein anderer Toter kommt mir in den Sinn, Dr. Friedrich Funder, Herausgeber der »Furche«, einer der letzten Großen der österreichischen Journalistik, dem ich, weil er es so wünschte und weil die älteren Redakteure vor diesem Auftrag zurückschreckten, den Bürstenabzug seines bereits gesetzten Nachrufs ans Sterbebett brachte; nie werde ich vergessen, wie er mit einem Bleistiftstümmelchen etliche Satzzeichen in seinem Nekrolog verbesserte und sodann, erleichtert und seine letzte Pflicht erledigt habend, den Kopf in die Polster zurücklegte und die Augen schloß.

Genug Tote, obwohl ich gerne noch des Judostaatsmeisters und Masseurs Prosper Bouchelle gedenken würde, der mir allwöchentlich, während er verrutschte Wirbel krachend ins Rückgrat zurückspringen ließ, unglaubliche, von Haß, Liebe und Leidenschaft erfüllte Geschichten aus den dunklen Peripherieslums erzählte, denen er entstammte; dieser Mann war einer von den 36 Gerechten, die, ohne es zu wissen, die Existenz der Menschheit vor dem Angesichte Gottes rechtfertigen.

 

Oder soll ich noch meinen Mitschüler Otto Müller erwähnen, der 1942 den unabänderlichen Entschluß faßte, spätestens 1970 österreichischer Bundeskanzler zu werden? Wenn sie diesen intelligenten und entschlossenen Burschen nicht bei der »Organisation Todt« zu Tode geschunden hätten (er war Halbjude und deshalb »wehrunwürdig«), hieße der österreichische Bundeskanzler heute vielleicht Otto Müller.

Zu viele Tote, genug der Toten.

Ich erlaube mir, dieses Buch Wolfgang Pfaundler zu widmen, der allein durch seine Existenz unwiderleglich beweist, daß Österreich nicht nur ein geographischer Begriff, sondern auch eine Wahrheit und ein Traum ist. Ferner Gerd Bacher, der zur Zeit dieser Niederschrift Generalintendant des ORF ist, am Tage ihres Erscheinens aber vielleicht nicht mehr sein wird, denn zu viele Hunde sind hinter diesem Hasen von Format her. Aber der, der ihn am Ende an der Kehle faßt, wird nicht viel Ehre davon haben.

Ich widme dieses Buch – ach, es gibt so viele, die ich noch zu nennen hätte, daß ich wohl noch ein anderes schreiben werde müssen, um alle Namen, derer ich in Freundschaft, Dankbarkeit und Verehrung zu gedenken habe, in gebührender Weise zu verzeichnen. Für diesmal muß es genügen, denn eben erreicht der Legationsrat Dr. Tuzzi die Mitte des Heldenplatzes und zieht unsere Aufmerksamkeit endgültig auf sich.

Mögen die in dieser Vaterländischen Ruhm- und Ehrentafel (denn dazu hat sich die Widmung nun ohnehin schon ausgewachsen) Erwähnten ihre Freude mit vorliegendem Werke haben; ebenso einige andere, die ich hier nicht genannt habe, weil sie im weiteren Verlaufe ohnehin deutlich in Erscheinung treten werden.

Mögen mir ferner alle jene, die sich mit geringerer Freundlichkeit und manchmal vielleicht auch mit Bosheit geschildert sehen, nicht allzu böse sein und Trost in dem Gedanken finden, daß auch sie unentbehrlich sind im unendlichen Kunterbunt des austriakischen Mikrokosmos.

Womit denn die Geschichte endlich dort beginnen kann, wo sie anfänglich wirklich begonnen hat.

DAS ERSTE
HAUPTKAPITEL
BEGINNT AN STELLE EINER EXPOSITION
MIT EINER INDISPOSITION

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Bewohner der Bundeshauptstadt Wien, sich vor neun Uhr morgens ausgesprochen mies zu fühlen. Aber der dem Interministeriellen Komitee für Sonderfragen zugeteilte Legationsrat Dr. Tuzzi fühlte sich an diesem Aprilmorgen ganz besonders mies.

Das hatte zweierlei Gründe: Einesteils mußte er heute einen Stoß Akten übernehmen, den der tags zuvor von einem Kreislaufkollaps heimgesuchte Kollege Twaroch hinterlassen hatte – Akten, über deren Inhalt der Legationsrat überhaupt nichts wußte, denn der Kollege Twaroch, ein auch sonst nicht gerade redseliger Mann, hatte über die Materie, die er in letzter Zeit bearbeitete, nicht einmal andeutungsweise etwas verlauten lassen; das bedeutete, daß sie vermutlich besonders heikel war und die Vertiefung in sie viel zusätzliche Arbeit kosten würde.

Und andererseits stand Tuzzi ein abendliches Rendezvous bevor, das zwar zur Routine seiner Dienstage gehörte, aber in Anbetracht dessen, daß er sich durchaus nicht auf der Höhe seiner Leistungskraft fühlte, als voraussichtlich problematisches Fortsetzungskapitel in einer seit Jahren andauernden Liebschaft einzuschätzen war.

Mühsal war also da wie dort zu erwarten. Und das bei dieser Hitze!

Seit nunmehr 32 Monaten hatte man in Österreich keinerlei Niederschläge mehr und nur in Höhen über 1500 Meter Temperaturen unter dem Nullpunkt registriert. Selbst in den Wintern zeigten die Thermometer selten weniger als 15°. Unabhängig von der Jahreszeit war es warm bis heiß, die Luftfeuchtigkeit minimal, der Luftdruck tief unter dem hundertjährigen Durchschnitt, der Himmel meistens von Dunstschleiern bedeckt, der Unterschied zwischen Morgen- und Tagestemperaturen so unwesentlich, daß auch die taulosen Nächte schon lange keine Abkühlung mehr brachten.

Dieses abnorme Wetter suchte nicht nur unser Land heim, sondern zog, in freilich abgeschwächter Form, ganz Mitteleuropa in Mitleidenschaft. Jedoch lagen Österreich und die Grenzgebiete seiner Nachbarländer im Zentrum dieser sogenannten Großen Hitze und hatten daher unter ihr am meisten zu leiden.

Die Meteorologen boten zahlreiche Erklärungen dieses Phänomens an, die im großen und ganzen darauf hinausliefen, daß vielerlei mehr oder minder zufällig zusammentreffende Faktoren eine Pattsituation zwischen verschiedenen russischen, atlantischen und mittelmeerischen Tiefs oder Hochs bewirkt hatten, eine Verstrickung atmosphärischer Bewegungen und Rhythmen, die sich aus ihrer verhängnisvollen Etablierung nicht mehr lösen konnten. Diese Erklärungen mochten stimmen, wurden aber begreiflicherweise ebensowenig als befriedigend empfunden wie der Hinweis, daß ähnlich langdauernde Trockenzeiten in früheren Jahrhunderten nicht ungewöhnlich gewesen wären.

Als andere Ursachen der Großen Hitze wurden also von verschiedenen Seiten angeführt:

Ursachen kosmischer Natur: eine allmähliche Verschiebung der Erdachse; eine Erwärmung der Erde von innen her; eine Zunahme oder Abschwächung solarer Energien; das Herannahen einer neuen Eiszeit; und andere.

Ursachen, die im Verschulden der Menschheit selbst lägen: zum Beispiel eine zunehmende Erhitzung der Erde durch Überbevölkerung und die damit zusammenhängende Zerstörung des ökologischen etc. Gleichgewichts; oder die Verschmutzung der Erdatmosphäre durch Atombomben, Überschallflugzeuge und ähnliches.

Ursachen theologischer Art: die zunehmende Sündhaftigkeit größerer Bevölkerungsteile oder der Menschheit überhaupt.

Aber welche Erklärung man auch immer, je nach Wissen, Temperament und Weltanschauung, bevorzugte: heiß war’s jedenfalls. Und heiß blieb es.

Über dem Heldenplatz lag dort, wo eigentlich der Himmel zu sein hatte, eine bläulichgraue Dunstplatte, die von einer unsichtbaren Sonne erbarmungslos aufgeheizt wurde. Gelegentlich fegten kleine Windstöße über den Platz, zu schwach, um den Dunst hinwegzufegen, genug stark, um Staub in entzündete Augen zu treiben, und so warm, daß es einem den Atem verschlug. Die Hitze hatte die Kastanien und den Flieder, soweit sie nicht ohnehin schon verdorrt waren, austreiben lassen und vorzeitig zu kümmerlicher Blüte gebracht; es war abzusehen, daß sie auch heuer wieder schon im Juni ihre Blätter verlieren würden.

Der Riesenkulisse der Hofburg freilich tat das fahle Licht gut. Es verwischte weich die Schatten in den Fensterlaibungen und zwischen den mächtigen Säulen, es überzog das imposante Halbrund mit flimmernden Schleiern, dunkelblauen an den Sockeln und Stiegen, hellblauen im Mittelgeschoß, fast weißen an den Attiken, auf denen Siegesgöttinnen den Lorbeer einer undeutlich werdenden, jedoch majestätisch gebliebenen Vergangenheit hochhielten. Die Hofburg schien in diesen Tagen größer und weiter geworden denn je und ihre ohnehin schon übertriebenen Perspektiven ins Unendliche auszudehnen.

In den Nischen des mächtigen Architekturtunnels zwischen Neuer und Alter Hofburg haben sich muschel- oder seeigelartig allerlei kleine Geschäfte eingenistet, unter dem Wasserspiegel der Geschichte sozusagen; in der dortigen Tabaktrafik kaufte der Legationsrat seine tägliche Zigarettenration ein, zwanzig Memphis und zwanzig Gitanes, die er abwechselnd rauchte, zwischen der faden Milde eines leidlich sauberen Orienttabaks und afrikanischer Schärfe hin- und herwechselnd, was jedem Zigarettenraucher einen Einblick in die keineswegs spannungsfreie Seele dieses Mannes gestattet. Wie immer warf er auch einen Blick auf die Schlagzeilen der Morgenzeitungen und entnahm ihnen, daß die Welt seit gestern nicht untergegangen war und das wohl auch heute noch nicht tun würde.

Beim Verlassen der Trafik und angesichts der gegenüberliegenden Telephonzelle erlitt Tuzzi die erste – und nicht die letzte – Anfechtung dieses Tages. Die Klimaanlage in seinem Büro fiel ihm ein, die nicht eingeschaltet werden durfte, denn auch die höheren Beamten waren »in Anbetracht der allgemeinen Wasserknappheit zu sparsamem Umgange mit öffentlichem Kraftstrom verhalten« (Wortlaut des betreffenden Internen Erlasses). Ferner dachte der Legationsrat an die leichte Migräne, die gegen Mittag mit Sicherheit zu erwarten war. Wenn er das linke Auge fest zuzwickte – er tat es probeweise –, dann konnte er jetzt schon hinter der Schläfe das fatale Pochen wahrnehmen.

Tuzzi war drauf und dran, das Telephon zu benützen und sich krank zu melden. Ein auch moralisches Recht darauf stand ihm dank vieler Überstunden und seines sonstigen Pflichteifers ohne weiteres zu; jeder andere würde es ohne Umstände in Anspruch nehmen und kein Kollege es ihm verübeln, wie die Dinge nun einmal lagen. Natürlich wäre es ein recht schulbubenhafter Einfall, Unannehmlichkeiten auf solche Weise hinauszuschieben, obwohl man ihnen ja doch nicht entgehen konnte. Wenn man aber hinwiederum bedachte, daß man sich mit einer so glaubhaften Ausrede wenigstens für heute die Twarochschen Akten und die zusätzliche Wärme von Ulrikes Bett ersparen könnte …

Zweifelnd blickte der Legationsrat durch den Torbogen des Durchgangs hinein in den Inneren Burghof, und in sein Blickfeld trat die Figur eines, dessen Stehen am Scheidewege sprichwörtlich geworden ist.

Warum, dachte Tuzzi, haben die Bürokraten des österreichischen Barocks eigentlich eine solche Vorliebe ausgerechnet für den braven, aber doch in gar keiner Hinsicht scharfsinnigen Herkules gehabt, daß sie ihn in oder vor nahezu jedes größere Amtsgebäude gestellt haben? Weil er sich von jedem beliebigen die mühsamsten Arbeiten aufhalsen ließ? Da hätten sie gleich Sisyphus zur Symbolfigur machen können, der zweifellos geeigneter gewesen wäre als Herkules, das Wesen loyalen Beamtentums zu symbolisieren, obgleich er ein gewaltiger Trottel gewesen sein muß, denn irgendwann einmal hätte doch auch er begreifen müssen, daß – Fluch der Götter hin oder her – der bekannte Stein einfach nicht zu bewältigen war. Und mit diesem Begreifen wäre der Fluch ja wohl erloschen. Also, was tu’ ich: Geh’ ich heim? Oder ins Amt?

In diese Scheideweg-Überlegungen hinein tönte eine Stimme, die viel zu unbeschwert klang für diese noch frühe Stunde: »Servus, Tuzzi!«

Die Stimme gehörte dem Legationssekretär Trotta, der dem Legationsrat teils vom Außenministerium, teils vom Schicksal als Untergebener, Freund und Schützling zugewiesen worden und eine Quelle ständiger Komplikationen und Sorgen, aber auch der Erheiterung und Zuneigung, im ganzen also so etwas wie eine unentbehrliche Last war.

»Servus, Trotta.«

»Du denkst nach, Tuzzi. Worüber?«

»Ich denke drüber nach, welche Gefühle Sisyphus bei seiner Arbeit wohl gehabt haben mag.«

»Eine interessante Frage«, sagte Trotta, »aber nicht für mich, für sowas bin ich um achte in der Früh zu blöd.«

»Macht nichts, Trotta. – Wie geht’s sonst?«

»Unter uns gesagt: miserabel. Ich sollt’ mich eigentlich einmal untersuchen lassen.«

»Das kann nie schaden.«

»Dann hättest du also nichts dagegen, wenn ich gleich jetzt zum Arzt geh’?«

»Du legst mich schon wieder herein, Trotta.«

»Wenn du natürlich darauf bestehst, daß ich in diesem Zustand ins Amt gehe …«

»Ich bestehe nicht darauf. Zieh hin mit Gott. Servus, Trotta.«

»Servus, Tuzzi. Du bist ein Schatz, wirklich.«

Und damit war die Entscheidung gefallen. Beschwingt entschwand Trotta in die Weite des Heldenplatzes, verdrossen beschritt der Legationsrat den Weg des Sisyphus.

Im Burghof hielt der gute Kaiser Franz seine schützende Hand über untreu gewordene Völker und verrichtete Herkules in vierfacher Ausführung ebenso viele Taten; aber das graue Licht, das den Bauten des Heldenplatzes so malerische Valeurs verlieh, bewirkte hier, im engeren Raum, das Gegenteil: Fade und häßlich wie Staub lag es über der schattenlosen Fassade der Reichskanzlei. Der Wachmann vor der Adlerstiege wischte das Schweißband seiner Kappe trocken. Tuzzi blickte zur Uhr im Türmchen des Amalientraktes auf: Erst Viertel nach acht.

Viertel neun an einem Aprilmorgen, und so heiß! Wenn dieses Wetter anhielt, kam es schon im Mai, spätestens im Juni, zu einer Katastrophe mit Endgültigkeitscharakter.

Er überquerte den Ballhausplatz und erinnerte sich, daß gestern im Bundeskanzleramt der Ministerrat getagt hatte und die Überarbeitung des Kabinettsitzungsprotokolls sein Arbeitspensum beträchtlich vergrößern würde. Also beschleunigte er seine Schritte, nicht allzu heftig natürlich, sondern nur so, daß er einen kleinen Schweißausbruch eben noch vermied; solche Vorsicht war in diesen kreislaufgestörten Zeiten allgemeine Verhaltensweise geworden, auch vielfach ärztlich empfohlen. Doch nahm er sich auch heute die Zeit, ein paar Schritte von der schweigsamen Front des Haus-, Hof- und Staatsarchivs abzuweichen und einen kleinen Umweg durch die Spitzbogengalerie der Minoritenkirche zu machen. Dort nämlich, an der Südmauer dieser seit vielen Jahrhunderten von der italienischen Kolonie Wiens bevorzugten Kirche, sind Grabsteine aus einem aufgelassenen Friedhof angebracht, deren verwitterte Inschriften Tuzzi seit je in eigener Weise berührten:

 

THOMAE PVCCIO NOBILI FIORENTINO, der, als die Christen die Burg Gran angriffen, nach heftigem Kampf mit den Feinden die Seele Gott zurückgab, 40 Jahre alt im Jahre 1595 seit der Geburt des Herrn … MARCO ANTONIO RECASOLO, der sehr vornehme Florentiner, der aus einzigartiger Frömmigkeit für die Sache der Christenheit in das Kaiserliche Lager und wider die Türken zog … 21 Jahre, 10 Monate alt, starb er in Komorn am 1. November 1597 … AENEAE PICCOLOMINI, Herr von Sticciano in der Toskana, wurde im böhmischen Kriege im Lager des Kaisers getroffen im 33. Jahre seines Lebens am 16. August im Jahre des Heils 1619 … Seiner Gattin SUSANNA APOSSA ließ trauernd Johannus Paulus Fossatus aus Mailand dies Grabmal errichten im Jahre 1589 …

Die Tuzzis waren schon seit vier oder fünf Generationen keine Italiener mehr und hatten sich wahrscheinlich ungeachtet ihres Namens, ihrer Sprache und Herkunft schon vorher niemals als solche betrachtet, sondern als Österreicher, als Leute des Kaisers, wenn man es genauer sagen will, oder, um es abstrakter und noch genauer zu sagen, als Menschen, die sich einem höheren Prinzip zu- und untergeordnet fühlten, wie es sich in der Idee des Kaisertums ausgeprägt hatte. Auch an Tuzzi selbst erinnerte außer der Dunkelheit seines Haares und einer gewissen sehnigen Schlankheit nichts an die italienische Herkunft. Und doch bestätigten ihm diese Grabsteine stets irgendwie die eigene Existenz, und wenn er diese Namen las, fühlte er sich getröstet, falls er dessen gerade bedurfte, oder aufgeheitert, wenn kein Bedürfnis nach Trost vorlag. Heute fühlte er sich nicht aufgeheitert, wohl aber ein wenig getröstet.

Dann schritt der Legationsrat hinüber zum Eingang in die Büros des Interministeriellen Komitees, ergeben sich in sein Pflichtbewußtsein fügend, damit dem Prinzip Genüge leistend, dem schon seine Vorfahren gedient hatten. Er wußte nicht, daß er mit dieser Haltung in eine Folge von Ereignissen eintrat, die zuerst sein eigenes und dann das Schicksal der ganzen Republik entscheidend verändern sollten.

An diesem Punkte jedoch geraten wir – der Autor nämlich – mit unserem eigenen Gewissen in Konflikt. Einerseits nämlich sollten wir, die wir uns von Beginn an entschlossen haben, unseren Lesern anständig und mit einer Freundlichkeit zu begegnen, die sie aus der neuen deutschsprachigen Literatur nicht mehr gewohnt sind, kurzerhand weitererzählen und nicht so taktlos sein, sie in einer Neugier verharren zu lassen, die zu erzeugen uns (hoffentlich) bereits geglückt ist. Andererseits erheischen dieselben Gründe und übrigens eine derzeit herrschende Literaturideologie vom Autor, daß er dem Leser die sozialen und ideologischen Beweg- und Hintergründe seiner Figuren möglichst umgehend darlege und schön transparent mache.

Was also tun? Wie diesen Konflikt lösen?

Wofür sich entscheiden?

Wir entscheiden uns als guter Österreicher für einen Kompromiß, indem wir es, während der Legationsrat eben die Straße neben der Minoritenkirche kreuzt, dem Leser überlassen, das folgende Zwischenkapitel zu lesen oder zu überschlagen, um auf Seite 33 vor dem Eingang zum Interministeriellen Komitee Tuzzi wieder zu treffen.

Mehr können wir leider auch nicht tun.

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