Bei abnehmendem Mond

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Bei abnehmendem Mond
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Jörg M. Pönnighaus

Bei abnehmendem Mond

Aufzeichnungen aus dem Lugala-Krankenhaus in Tansania

ATHENA

edition exemplum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

E-Book-Ausgabe 2014

Copyright der Printausgabe © 2013 by ATHENA-Verlag,

Copyright der E-Book-Ausgabe © 2014 by ATHENA-Verlag,

Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen

www.athena-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (Print) 978-3-89896-540-8

ISBN (ePUB) 978-3-89896-862-1

Erklärungen

RMA: rural medical assistant. Zweijährige medizinische Ausbildung nach sieben Jahren Volksschule

CO: clinical officer. Dreijährige medizinische Ausbildung nach vier Jahren Oberschule

AMO: assistant medical officer. Zweijährige Zusatzausbildung nach CO Ausbildung

MO: medical officer. Sechsjähriges ärztliches Studium an einer Universität

NO: nursing officer. Schwester, Hebamme oder Pfleger mit (meist) zweijähriger zusätzlicher Ausbildung

TSH: tansanische Schillinge

TUGHE: Trade Union of Government and Health Services Employees, die Gewerkschaft der Regierungs- und Gesundheitswesenangestellten

Gesundheitsposten: es sollten ein clinical officer, eine Hebamme und eine Hilfsschwester dort arbeiten (Engl: dispensary)

Gesundheitszentrum: sollte so ausgestattet sein, dass Kaiserschnitte gemacht werden können (Engl: health centre)

Personenverzeichnis

Moses Mwemi: AMO

Ignaz Mollel: Buchhalter, Verwalter (bis Ende 2005)

Mathew Matimbwi: Ingenieur

Henry Nyangi: CO (2006 nach Ifakara zur Weiterbildung zum AMO)

Stanslaus Makassy: CO

Lusekelo Mponi: CO

Elias Lyabonga: CO

Josephat Ngumbuke: RMA (einjährige Zusatzausbildung im Zähne ziehen)

Elesia Nyemele: Krankenschwester (Oberschwester bis Ende 2006)

Mama Chogo: NO (stellvertretende, dann leitende Oberschwester)

David Tindwa: NO

Hilda Raspitsos: NO

Yusta Kidasi: NO

Daud Lothi: NO (einjährige Zusatzausbildung in Anästhesie)

Samueli: NO

Fabiola: NO

Josephat Mtandi: Pfleger (einjährige Zusatzausbildung in Anästhesie)

Lenna Matimbwi: Hebamme (einjährige Zusatzausbildung in Anästhesie, ab 2007 stellvertretende Oberschwester)

Prisca Ngozi: Hebamme (Frau von Lothi)

Mwahija: Hebamme

Betty: Hebamme

Shemdoe: Hebamme

Prisca Swale: Hebamme

Vumi(lia): Hebamme

Serapia: Hebamme (später mit Nyangi verheiratet)

Asha: Hebamme (später mit Lusekelo verheiratet)

Violet: Hebamme

Upendo: Hebamme

Boniface Kilangali: Pfleger

Bahati: Hilfsschwester

Jessica: Hilfsschwester

Edda: Hilfsschwester

Mduda: Hilfspfleger

Ndali: Hilfspfleger

Likingeme: Hilfspfleger

Mafunde: Kassierer

Sendikali: Reinemacher

Mwachiko: Laborassistent (zweijährige Ausbildung)

Emmanuel Mwamdeta: Laborassistent

Issa: Laborassistent

Doris: Mikroskopistin (einjährige Ausbildung)

Bumija: MTA (dreijährige Ausbildung)

Esekiel Kaberege: MTA (dreijährige Ausbildung)

Kuandika: Automechaniker

Makali: Fahrer

Dr. Marcel: schweizer Arzt in Ifakara, leitet dort ein HIV-Projekt

Jutta: meine Frau

Lottchen: Tochter, 2000 geboren

Klärchen: Tochter, 2002 geboren

Volksstämme

Mbena: ein Bena

Wabena: mehrere Bena, die Bena; Ackerbauern um Lugala herum und nach Westen hin

Wandamba: ursprünglich vor allem Fischer

Wasukuma (WaSukuma): Aus dem Nordwesten von Tansania eingewandert; vor allem Viehhalter

Wamassai (Massai): Ebenfalls eingewandert, vor allem Viehhalter

Waporogoro: Wohnen von Mtimbira ostwärts

Mzungu: ein ›Weißer‹ (einer, der erstaunliche Sachen macht)

Wazungu: mehrere ›Weiße‹

Stumm

[3. August 2006]

Halb vier ist keine gute Zeit. Moses ist schon lange verschwunden. Ich bin erschöpft. Nur Mwahija war noch da. Auch Tindwa und Shemdoe waren schon leise und unauffällig gegangen. Aber vielleicht weil es ein Kind war, raffte ich mich noch einmal auf. Die zwei Klötze – richtige Sukuma –, die es brachten, waren vermutlich ihre Brüder, oder ihre Halbbrüder oder vielleicht auch nur ihre Vettern. Diese Unterschiede spielen hier ja keine Rolle. Das Kind, das Mädchen, mochte so um die zehn Jahre alt sein.

Bauchschmerzen habe es.

Ich sagte, es solle sich auf die Untersuchungsliege legen.

Währenddessen sah ich mir schnell noch einen Patienten an, der mit der Frage geschickt worden war, ob vielleicht sein Finger gebrochen sei. Das war schnell gemacht unterm Bildverstärker. Der Finger war nicht gebrochen.

Zurück zu dem Mädchen.

Es lag inzwischen auf der Liege neben dem Ultraschallgerät, war aber noch nicht ausgezogen.

Es muss sich ausziehen, sagte ich zu den Klötzen.

Sie erklärten es dem Mädchen in KiSukuma.

Der Bauch von dem Mädchen war angeschwollen, die Ärmchen und die Beine waren ganz dünn.

»Seit wann ist der Bauch so angeschwollen?«

»Noch keinen Monat.«

Ich tastete den Bauch ab. Es hatte einen harten Tumor im Bauch. Der zog sich quer durch den Bauch bis in den rechten Unterbauch. Ging er von der Milz aus? War es eine riesig vergrößerte Milz? Möglich, wir hatten in den letzten zwei oder drei Monaten schon zwei solche Kinder gehabt. Nein, der Tumor schien sich von der Milz abgrenzen zu lassen. Oder doch nicht? Ich nahm den Schallkopf vom Ultraschallgerät zur Hand. Da war die Milz und in der Milz war irgendwie ein großer Rundherd – ein Abszess? – und dann war da eben der Tumor, der sich quer durch den Bauch zog. Es sah so aus, als sei es eine vergrößerte Milz, eine riesig vergrößerte Milz.

Ich bat Mwahija, mir eine Spritze zu geben. Ich wollte den Abszess (?) anpunktieren. Wenn es ein Abszess war, dann hatte ich ja immerhin so etwas wie eine Diagnose. Es konnte auch eine TB sein.

Das Mädchen hielt still.

Es hatte überhaupt noch kein einziges Wort gesagt, fiel mir auf.

Es ließ sich nichts aspirieren, jedenfalls kein Eiter.

Ich überlegte.

Die beiden Klötze mit ihren schwarzen Umhängen sahen mich erwartungsvoll an.

»Das Mädchen hat einen großen Tumor im Bauch«, sagte ich schließlich.

»Einen großen Tumor?«

»Ja, einen großen Tumor.«

»Einen großen Tumor«, nickten die beiden.

Ich sagte, dass das Mädchen wieder aufstehen und sich wieder anziehen könne.

»Ich weiß nicht, ob ich helfen kann.«

»Es hat einen großen Tumor im Bauch?«

»Ja, ich kann versuchen es zu operieren, aber ich kann nicht versprechen, dass ich ihm damit helfen kann.«

»Den Tumor operieren?«

»Ja, aber ich kann nicht versprechen, dass ich ihm helfen kann.«

Die beiden Klötze dachten nach.

»Einen großen Tumor im Bauch?«

Mwahija sah zart und zerbrechlich aus neben den beiden.

Vielleicht dachten die beiden an die Kühe, an den Brautpreis, die der Familie entgehen würden, wenn das Mädchen starb.

»Und Sie können es operieren?«

»Ja, aber ich kann nicht versprechen, dass ich dem Mädchen mit einer Operation helfen kann.«

»Es hat einen großen Tumor im Bauch«, nickten die beiden.

»Ja.«

Die beiden schwiegen eine Weile. Mwahija wiederholte, dass ich versuchen wolle, dem Mädchen zu helfen, aber dass ich nichts versprechen könne.

»Einen großen Tumor im Bauch? Nein, das können wir nicht entscheiden. Das muss die Familie entscheiden. Da müssen wir erst wieder nach Hause gehen mit dem Mädchen.«

»Kommen Sie zurück, wenn Sie sich für eine Operation entschieden haben. Die Operation kostet zwanzigtausend TSH.«

Die beiden Sukuma wandten sich zum Gehen. Das Mädchen hatte immer noch kein Wort gesagt. Vielleicht gehörte sich das nicht, dass sie etwas sagte, während ihre Brüder dabei waren.

Aber wahrscheinlich sprach sie einfach kein Wort Kiswahili.

»Wer reitet …«

[5. August 2006]

Irgendwie mache ich nicht so sonderlich gerne Visite auf der Frauen- und Kinderstation. Ich meine, inzwischen liegen die meisten Frauen bei uns wegen AIDS, und die Kinder haben fast alle Durchfall oder Malaria oder eine Lungenentzündung oder zwei von den dreien oder alles drei. Und was soll ich da groß zu sagen? Die Behandlungen sind standardisiert, es geht alles seinen Gang. Natürlich bemerke ich fast bei jeder Visite zwei oder drei übersehene Diagnosen oder falsche Diagnosen. Aber trotzdem.

 

Lenna, die Stationsschwester mag ich natürlich gern. Sie ist tüchtig und eine wirklich liebe. Zu mir jedenfalls. Ansonsten hat sie ordentlich Haare auf den Zähnen, und es kommt vor, dass Mama Chogo, die Oberschwester, mich bittet, ich solle etwas mit Lenna bereden. Ihr, Mama Chogos, Blutdruck steige zu sehr an, wenn Lenna ihr Widerworte gebe. Wenn Lenna mir gegenüber widerborstig werden will, können wir doch meist darüber lachen. Oder ich lasse Lenna einfach, bis sie von sich aus einlenkt. Oder ich gebe ihr eine Streicheleinheit, bis sie wieder schnurrt.

Im Laufe der letzten Jahre habe ich irgendwie einen Blick dafür bekommen, ob Kinder auf dem Weg der Besserung sind oder ob etwas nicht stimmt. Und ich höre es auch dem »nzuri«‹ der Mütter an, ob alles in Ordnung ist, wenn ich frage, wie es den Kindern geht. Das »nzuri«‹, das gut, kann viele Schattierungen haben: von gut, ich möchte entlassen werden, bis zum gut, dem Kind geht es schlecht. Anfangs hatte ich natürlich gedacht, eine Mutter spinnt, wenn sie antwortete, ihrem Kind ginge es gut, wenn das Kind offensichtlich aus dem letzten Loch pfiff.

Es kommt vor, dass ein Vater sich um ein krankes Kind kümmert. Aber das ist selten. Eigentlich sehe ich das nur, wenn ein Kind eine Verbrennung hat oder eine Fraktur. Es liegen immer ein, zwei oder auch drei Kinder mit Verbrennungen auf der Station. Die sehe ich mir selbstverständlich regelmäßig an, um bei tiefen Verbrennungen zu entscheiden, wann es Zeit ist für eine Hautverpflanzung. Ich bin froh, dass ich Hautverpflanzungen aus dem ff beherrsche, und finde es ein wenig schade, dass Moses sich so gar nicht dafür interessiert. Wenn ich gehe, werden Kinder wieder durch Keloidnarben verkrüppelt werden. Oder sterben.

Egal.

Dem Kind in dem Bett am Fenster im zweiten Zimmer ging es nicht gut. So wie es in den Armen seiner Mutter lag, stimmte etwas nicht. Ich las mir die Geschichte durch. Vor ein paar Tagen war das Kind mit Durchfall gekommen. Es ging ihm dann scheint’s besser und es sollte schon entlassen werden. Aber dann ging es ihm plötzlich schlechter und es war eine Behandlung mit Ampicillin und Gentamicin begonnen worden. Also mit einer Behandlung für eine Lungenentzündung. Befunde waren nicht aufgeschrieben worden, und vermutlich waren auch keine erhoben worden; sondern waren die beiden Antibiotika einfach so verordnet worden. Nicht einmal die Atemfrequenz war bei dem Kind notiert worden. Nichts.

Ich nahm mein Stethoskop. Hörte das Kind ab. Mit den Lungen war ganz sicher nichts, aber das Kind hatte Fieber, hohes Fieber. Mindestens 40 Grad. Ich sah in der Kurve nach. Am Morgen waren 37 Grad gemessen worden. Na ja, aufgeschrieben worden.

»Wer hat denn Nachtdienst?«

»Mduda«, sagte Lenna.

Ach ja. Das werde ich wohl auch nie erreichen, dass vor allem bei Kindern Fieber wirklich sorgfältig gemessen wird. Es konnte mir ja keiner erzählen, dass dieses Kind am Morgen noch eine normale Temperatur gehabt hatte.

»Messen Sie mal nach«, sagte ich zu Jessica.

Es waren 40,2 Grad. Ich bewegte den Kopf, der Nacken war steif. Das Kind hatte Meningitis. Kein Zweifel.

»Fangen Sie jetzt sofort mit Ceftriaxon an«, sagte ich zu Lenna, »und nach der Visite machen Sie als erstes eine Lumbalpunktion. Als erstes. Mit dem Ampicillin und dem Gentamicin können wir natürlich aufhören. Das hat die Meningitis nur kaschiert.«

Lenna antwortete nichts.

Es gereichte ihr ja auch nicht zur Ehre, dass wieder einmal eine Meningitis übersehen worden war.

Jessica ging, um Ceftriaxon zu holen.

Ich sah ihr nach. »Die halbe Station ist schwanger«, meinte ich.

Lenna lachte. Jessica muss acht Monate schwanger sein, und Lenna ist vielleicht im vierten Monat schwanger.

Ich ging zum nächsten Bett.

Ich fragte Lenna später nach dem Ergebnis.

»Ich habe es nicht geschafft, eine Lumbalpunktion zu machen; aber ich werde jetzt Lothi bitten, mir zu helfen.«

Bei der Morgenvisite konnte Ngumbuke nur berichten, dass das Kind um Mitternacht gestorben war. Der Liquor war trübe gewesen …

»in ihren Armen das Kind war tot.«

Ninashukuru

[5. August 2006]

Es ist seltsam, so um halb drei gerufen zu werden. Bei zunehmendem Mond ist es um die Zeit ganz dunkel, du siehst nur die Lichter vom Krankenhaus rechts vor dir. Die Hähne krähen noch nicht, kein Hund bellt, es ist ganz still. Vielleicht siehst du hinauf zum Kreuz des Südens. Und irgendwie hast du eine große Distanz zu dir selbst und du redest dich mit du an statt mit ich.

Natürlich hoffst du, dass du nur für eine Lappalie gerufen wurdest. Aber du weißt schon, das ist unwahrscheinlich. Wenn du für eine Frau gerufen wurdest, wird es eine Tubenschwangerschaft sein. Und wenn du für einen Mann gerufen wurdest, wird es eine eingeklemmte Hernie sein oder ein akuter Bauch. Und wenn du zur Entbindungsstation musst, dann wird es einen Kaiserschnitt geben. Die Hebammen rufen freilich meist schon das ganze OP-Team und nicht nur den Arzt.

Du leuchtest mit deiner kleinen Taschenlampe auf den Weg vor dir. Du bist ihn schon mehr als tausend Mal gegangen, aber du könntest trotzdem noch über einen Stein stolpern oder in Gedanken die Abzweigung zum Krankenhaus verpassen.

Und du fragst dich, was du hier in diesem entlegenen Teil der Welt eigentlich zu suchen hast.

Es ist seltsam, so um halb drei zum Krankenhaus gerufen zu werden. Zu einer Zeit, wenn sich die Welt irgendwie langsamer dreht. Zu einer Stunde, wenn eigentlich nur Hexen unterwegs sind. Und selbst die scheinen zu schlafen, denn kein Hund bellt, kein Hund jault im Dorf.

Die Frau war eben erst gebracht worden. Eine junge Frau. Mit Bauchschmerzen. Unterbauchschmerzen. Puls 100. Es würde wohl eine rupturierte Tubenschwangerschaft sein. Was sonst? Die Frau hatte ungefähr fünfzig Perlenschnüre um den Bauch. Die musstest du nach oben schieben, um die Frau untersuchen zu können. Sundi Kulwa hieß sie. Die Perlenschnüre sollen den Männern gefallen beim Bumsen. Außerdem befestigen die Frauen natürlich auch ein Tuch an diesen Schnüren, wenn sie ihre Tage haben.

Und dann wollte dir Mduda auch noch eine Frau zeigen, die schon am Nachmittag gekommen war. Auch mit Bauchschmerzen. Sie hatten vergessen, sie dir noch am Nachmittag zu zeigen.

Du schicktest sie beide zum Ultraschall.

Die junge Frau hatte offensichtlich Blut im Bauch. Du aspirierst ein wenig, einfach um ganz sicher zu sein. Sagst, sie sollen das OP-Team rufen.

Die etwas ältere hat nur eine Blinddarmentzündung.

Du wartest auf das OP-Team. Legst dich im Dunkeln auf eine Liege. Wartest. Es ist wieder still draußen. Du hast das Gefühl, du schwebst. So leicht kommst du dir vor. Dann eine Tür. Schritte. Die erste vom OP-Team ist gekommen. Mwahija. Du stehst auf, gehst auch zu den Umkleideräumen.

»Habari ja usiku.«

»Nzuri.«

Du ziehst dich auch um. Lothi kommt, kurz darauf auch Edda. Mduda bringt die Patientin. Lothi leitet die Anästhesie ein. Zügig. Er fackelt nicht lange, vor allem nicht nachts. Kein Getue.

Längsschnitt. Vielleicht einen Liter Blut abgesaugt. Die Schwangerschaft ist erst pflaumengroß in der rechten Tube. Es ist ganz einfach, sie zu exzidieren. Noch den Bauch ausgewaschen.

Du sagst, dass sie die nächste Patientin, die mit dem Blinddarm, bringen können.

Irgendwann kommt Mwachiko mit einer Blutkonserve.

Es ist alles irgendwie weit weg zu dieser Stunde.

Die Frau mit dem Blinddarm.

Halb sechs wieder nach Hause. Es ist immer noch dunkel. Aber die Stimmung hat sich irgendwie verändert. Vielleicht dadurch, dass im Dorf jetzt die Hähne krähen. Aber auch die Dunkelheit selbst scheint anders zu sein. Die Welt hat angefangen sich wieder schneller zu drehen.

Es ist zu spät noch einmal ins Bett zu gehen. Du bittest Jutta, Kaffee zu kochen. Lottchen kommt vom Klo. Kuschelt sich noch schlaftrunken an dich. Noch ganz warm.

Später siehst du noch einmal nach den Operierten. Die mit der Tubenschwangerschaft, Sundi, jammert, dass ihr der Bauch wehtue.

»Das ist so, wenn man operiert wurde«, sagst du.

Vielleicht hattest du auf ein ›Danke‹ gehofft. Aber die Leute bedanken sich hier nicht. Fast nie. Das ist einfach so.

Es kommt vielleicht einmal im Jahr vor, dass ein Patient oder eine Patientin »ich danke, ninashukuru« sagt.

Unser täglich Brot gib uns heute

[6. August 2006]

»Sie dürfen nicht aufgeben«, sagte ich zu der jungen Frau. Kristina hieß sie. Sie war vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt. Sie lag im Bett am Fenster links im letzten Zimmer der Kinder- und Frauenstation. »Wir haben jetzt mit der Behandlung angefangen, und nun kann alles gut werden. Die Medikamente werden Ihnen gewiss helfen. Langsam wird es wieder bergauf gehen. Sie dürfen nur nicht aufgeben.«

Ich pausierte nach jedem Satz, um das Echo meiner Worte in meinem Kopf verklingen zu lassen. Das Echo kam wohl daher, dass ich all dies schon so oft zu AIDS-Patienten gesagt hatte.

»Wenn Sie sich erst einmal erholt haben, können Sie so lange leben wie jeder andere auch. Wenn Sie später Ihre Medikamente fleißig nehmen. Die müssen Sie freilich Ihr Leben lang nehmen. Aber das müssen Menschen mit Diabetes auch. Und Leute mit Hochdruck. Sie dürfen nur nicht aufgeben. Sie dürfen sich nur nicht gehen lassen. Dann wird alles wieder gut werden.«

Kristina hörte mir schweigend zu. Sie wog nur noch knapp 20 kg. Ihre alte Mutter stand neben ihrem Bett. Ich wusste nicht, ob meine Worte Kristina erreichten. Vielleicht, vielleicht auch nicht. In ihren tief eingesunkenen Augen konnte ich keine Antwort lesen.

Kristina kam aus Makugira. Makugira ist ein Dorf gerade am Rand von Malinyi zur rechten Hand der Straße nach Ifakara hin. Zwischen der Straße und dem Furua. Das Land um Makugira herum ist fruchtbar. Der Reis wächst dort hüfthoch, und selbst wenn es nicht genug regnet, reicht es dort am Fluss doch jedes Jahr für eine gute Ernte. Der lehmige Boden hält das Wasser und der Grundwasserspiegel ist hoch.

Die Hütten stehen dicht gedrängt in Makugira. Um sie herum Mangobäume und Ölpalmen. Und am Rand von Makugira, wo die Reisfelder anfangen, stehen sogar ein Wasserturm und eine Pumpstation. In besseren Zeiten, die nun freilich schon lange her sind, wurden von hier aus Makugira und Malinyi mit fließend Wasser versorgt. Inzwischen sind die Wasserleitungen natürlich längst geklaut worden, und nur an einer Straßenseite in Malinyi sieht man noch Reste von der Wasserversorgung. Diese besseren Zeiten werden wohl auch nie wiederkommen.

Ich bin schon mehrmals durch Makugira geradelt, wenn ich zur anderen Seite vom Furua wollte. In der Trockenzeit kann man dort durch den Fluss waten, in der Regenzeit lässt man sich von einem Fährmann mit einem großen Einbaum übersetzen.

»Sie haben ja schon wieder an Gewicht verloren«, sagte ich zu Kristina. »Sie müssen mehr essen. Auch wenn es Ihnen vielleicht nicht schmeckt. Haben Sie Durchfall? Das müssen Sie uns sagen, wir haben jetzt auch Medikamente gegen Durchfall!

Oder haben Sie Schmerzen beim Schlucken? Dann müssen Sie uns das auch sagen. Wir können Ihnen helfen. Sie dürfen nur nicht aufgeben. Sie können noch lange leben! Haben Sie Kinder?«

Kristina schwieg.

Ich wusste, sie hatte ein Kind.

»Ihr Kind braucht Sie doch noch. Die Medikamente werden Ihnen bestimmt helfen, Sie müssen nur auch leben wollen!

Ihre Mutter sagte so wenig wie Kristina: Nichts.

»Versuchen Sie doch einmal mit ihr zu reden«, sagte ich zu Lenna, »sie muss doch nicht sterben. Auch wenn sie nur noch 24 CD4 Zellen hat.«

Auf der anderen Seite vom Furua gehen die Reisfelder noch ein Stück weiter, bis Brachystegiawald anfängt. Dort in den Reisfeldern haben die Leute Pfahlhütten gebaut, wo sie die Woche über schlafen, damit sie nicht jeden Abend nach der Arbeit ins Dorf zurückwandern müssen. Das Übersetzen kostet ja jeden Tag 100 TSH, und außerdem müssen die Leute ihren Reis bewachen, damit er nicht geklaut wird, wenn er reif wird. Das ist so.

Der Brachystegiawald ist zunächst natürlich sehr kümmerlich, weitgehend abgeholzt. Aber nach ein, zwei Kilometern findet man die ersten richtigen Bäume, und werden die Pfade immer schmaler, bis eigentlich nur noch einer übrig bleibt, der sich in die Hügel hoch windet und von dem es heißt, dass er der alte Weg nach Mahenge ist. Aber auch der Pfad endet irgendwo, und wenn es wirklich der alte Weg nach Mahenge war, dann benutzt ihn jedenfalls keiner mehr.

 

»Sie dürfen nicht aufgeben. Sie müssen mal aufstehen und rumgehen und nicht immer nur im Bett liegen. Das ist nicht gut. Ich sehe Sie nie draußen. So wird das nichts. Wenn Sie nichts essen und immer weiter an Gewicht verlieren, können Ihnen die Medikamente allein auch nicht helfen.

Damit es Ihnen wieder gut geht, müssen Sie auch fleißig essen!«

Ich wartete, bis das Echo meiner Worte in meinem Kopf wieder verklang.

Ich hatte das Gefühl, dass wir Kristina verlieren würden, wie schon so manche Patientin und so manchen Patienten vor ihr. Dass ich mir meine Worte sparen konnte. Warum gaben diese Patienten einfach auf?

Kristina sah mich aus ihren tief liegenden Augen an.

»Meine Verwandten«, sagte sie schließlich, »haben aufgehört, mir Essen zu bringen.«