Ein Mann geht quer

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Ein Mann geht quer
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Jörg Dulsky

Ein Mann geht quer

Von der Mur

über die Alpen bis zum Ligurischen Meer



Schauen, was hinter den Bergen liegt: auf jeder Passhöhe wird man weitersehen.


Von der Mur ans Ligurische Meer: einmal quer durch die Alpen

INHALT

Yoko Ono

Zwanzig plus neunzig

Was tue ich hier?

Freund und Feind

Und es tropfte

Bei den Windischen

Dolomiten-Mai-Winter

Es geht aufwärts

Auf dem Vinschger Höhenweg

Der kleine Unterschied

Der Feind geht mit

Das Schreien des Lamms

Urlaub im Urlaub

Nicht mehr allein auf der GTA

Glück

Barfuß bis zum Hals

Rue de la Gack

Motorsport und Fliegen

Finale auf dem GR5

Süden

Alle Wasser fließen zum Meer

Epilog

YOKO ONO

Ich stand vor der Kunsthalle Krems, zu meiner Linken war Yoko Ono und zu meiner Rechten die schweren Jungs im Gefangenenhaus Stein. Dann schauen wir mal, was Yoko Ono so macht. Die Ausstellung „Yoko Ono. Half-A-Wind-Show“ von 2013 zeigte einen großen Ausschnitt ihres Schaffens, und vieles gefiel mir, weniges fand ich befremdlich. In der zweiten Etage lauschte ich Ausschnitten aus ihren zahlreichen LPs und CDs und beschloss ob Yokos Sangeskünsten, mein Buch zu schreiben. Ein Schub von Selbstvertrauen, Yoko sei Dank.

„Es muss immer was passieren, damit endlich was passiert.“

Ereignisse führen zu Veränderungen, und Veränderungen (allerdings nicht zwingend) zu Weiterentwicklung. Diesen Grundsatz möchte ich Ihnen anhand meiner Geschichte näherbringen.

Nun, ich fange an mit Anfang November 2012, das Fass lief über, mein Handy flog des Öfteren durch die Gegend, ich hörte die Ruftonsequenz meines damals ersten Smartphones immer häufiger im Radio, dann schielte ich schon wieder zu meinem im Zwölfmonatszyklus wechselnden Spielzeug; meistens, Gott sei Dank, ohne Grund, denn ich hörte Geisteranrufe. Eine weitere besorgniserregende Entwicklung war, dass ich immer öfter die Zeitansage anrief. Früher rief ich diese Nummer (damals noch 1503) stets nur zum Testen an, mindestens hunderttausendmal in meinem Telekommunikationsleben, nun wählte ich sie, um „besetzt“ zu sein. Keiner sollte mich erreichen, um mich mit seinem „mein Internet geht nicht“ volltexten zu können.

Dieses Verhalten gab mir sehr zu denken und war einer der Gründe, mir selbst ein Ultimatum zu setzen. Sollte der Verkauf meiner Firma bis zum 31. Dezember 2012 nicht über die Bühne gehen, würde ich der Strapaz ein Ende setzen und sie zusperren. Der Verkauf stand schon länger ins Haus, scheiterte aber an einem anhängigen Gerichtsverfahren. Das letzte Jahr war mit Widrigkeiten gespickt: Hackerangriffe, die fünfstellige Kosten verursachten, Streitigkeiten zwischen mir und meinem Kompagnon und dann noch die Klage wegen unseres Firmenlogos.

Kurzerhand entschied ich mich, meinen schon bewilligten Kuraufenthalt wegen immer wiederkehrender Rückenschmerzen im Dezember 2012 doch noch anzutreten und mir ansonsten nicht allzu viel Sorgen zu machen. Ich wollte mich auf meine Gesundheit konzentrieren, vielleicht endlich mal wieder gut schlafen und nicht ständig nervös rumzuckeln.

Am 2. Dezember fuhr ich nach Baden bei Wien, in diese biedermeierliche, ehemalige kaiserliche Sommerresidenz mit ihren feudalen Villen und Parks, und fühlte mich gleich wohl dort. Ich verfrachtete meinen Koffer auf mein Zimmer – dort stand ein echtes Krankenbett, was ich dann doch ein wenig befremdlich fand – und machte mich auf, den Wienerwald zu Fuß zu entdecken. Bei eisiger Kälte zog ich weite Runden in den sanften Hügeln dieser mir ungeläufigen Wälder. Entschleunigung pur. Die Natur schien mich wieder einmal zu retten.

Von nun an ging alles Schlag auf Schlag: Zwölf Tage später war meine Firma verkauft. Der gesamte Verkaufserlös wanderte zwar direkt auf das Konto der Bank, das Firmenkonto und mein eigenes standen hingegen auf null. Die Last auf meinen Schultern wurde aber von Tag zu Tag weniger. Eine Woche später war klar, dass ich auch mit den neuen Eigentümern meiner Firma keine Partnerschaft eingehen oder sonst wie zusammenarbeiten würde. Das war der Zeitpunkt, an dem der schon länger reifende Plan B zu greifen begann.

Ich wechselte meine Telefonnummer, verringerte die Anzahl meiner E-Mail-Accounts von fünf auf einen und atmete bewusst und tief durch.

Wenn ich so nachrechnete, kam ich auf Daumen mal Pi etwa 50.000 Telekommunikationsstörungen, die ich im Laufe meiner dreißigjährigen Berufskarriere behoben hatte. Eine respektable Zahl, die für den Rest meines Lebens reichen sollte.

Die Aufmerksamkeit, die ich (wie jeder andere Patient auch) während der Kur bekam, tat mir gut, und nach zwei Wochen fühlte ich mich schon wesentlich fitter. Auch der Schlaf wurde besser, und bald war ich wieder in der Lage, mehr als zehn Seiten eines Buches zu lesen, ohne zwischendurch aufs Handy zu schielen.

Nur, was jetzt? Ich war mit einem Mal arbeitslos, unvermögend – und frei wie ein Vogel. Mein älterer Sohn pubertierte gerade und machte mir erstaunlicherweise keine Sorgen, hatte aber naturgemäß kaum Interesse an seinem Erzeuger. Der jüngere war weit weg, bei der Mutter, wir sahen uns selten. Ein paar Monate von der Bühne verschwinden war also im Bereich des Möglichen.

Ein alter Wunsch kam hoch: die Welt zu entdecken. Nicht, wie unlängst noch als tröstendes Zukunftsszenario im Kopf ausgemalt, irgendwann einmal in Frühpension mit Wohnmobil und einer prall gefüllten Reisekassa, nein, es gab nichts mehr auf morgen zu verschieben und auf den St.-Nimmerleins-Tag zu warten: Jetzt galt es zu leben! Jetzt wollte ich losziehen. Nicht rund um die Welt, sondern quer durch die Alpen, nur meinen eigenen zwei Beinen vertrauend, mit Rucksack und Zelt auf dem Buckel und leichtem, weil dürftig gefüllten Geldbörserl. Aus dem Haus treten und einfach losgehen: eine Richtung einschlagen, in meinem Fall entweder nach Osten oder Westen.

Natürlich ziehe ich die Berge vor, ich gehe seit über zwanzig Jahren in die Berge. Die heimische steirische Bergwelt erwanderte ich in allen erdenklichen Formen, mit Schiern, zu Fuß oder mit Schneeschuhen. Eine Spielart des Wanderns liegt mir dabei besonders am Herzen: das Weitwandern. Ich wanderte schon durch die Dolomiten, ich wanderte in Kalifornien am Pacific Crest Trail und ich wanderte in Nepal am Himalaya. Nie länger als vier Wochen, denn dies war aufgrund meiner frühen Erwerbstätigkeit (beginnend mit 15 Jahren) und späteren Selbstständigkeit nicht möglich, aber jedes Mal war ich nach diesen Fußreisen auf Wolke sieben und fühlte mich für einige Monate wie Siegfried, nachdem er im Drachenblut gebadet hat. Ich war nahezu unverwundbar, alles prallte an mir ab, nichts warf mich um. Lästige Aufgaben konnte ich leichtfüßig bewältigen, ich stand mit beiden Beinen und gutem Schwerpunkt fest auf dem Boden. Wandern ist eine Kur für Geist und Körper.

Dieser Leitsatz sollte mich auch dieses Mal retten. In Baden hatte ich meine Kur begonnen, am Ligurischen Meer wollte ich sie beenden. Mein Plan stand fest: von zuhause, von der Mur aus wollte ich über den Alpenbogen bis nach Nizza wandern. Also aus der Haustür treten, nach Westen gehen, Richtung Gmoaalm, dann weiter zur Gleinalm und dann …

ZWANZIG PLUS NEUNZIG

In der Vorbereitungsphase hatte ich mehrfach lautstark verkündet, nicht mehr als 17 Kilogramm tragen zu wollen. Alles darüber hinaus bedeute Strapazen und Mühsal.

 

Am 29. April startete ich jedoch mit 20 Kilo am Buckel, die Spiegelreflex-Kamera über der linken Schulter nicht mitgezählt. 20 plus 90 plus Kamera sind klar über 100 Kilo Lebendgewicht, das ich fortan zu bewegen hatte. Die frisch rasierte Haarpracht, die jetzt im Biokübel in meiner Wohnung lag, fiel da nicht weiter ins Gewicht.

Ich startete zu Mittag vom Frohnleitner Hauptplatz. Mit von der Partie waren Eva und Bongili, eine zweijährige Rhodesian-Ridgeback-Hündin. Dazu eine riesengroße Portion Gottvertrauen, dass alles gut gehen würde. Eva wollte mich bis zur Gmoaalm begleiten und dann wieder umkehren, Bongili sollte, so der Plan, bis ans Meer meine Gefährtin bleiben.

Schon nach 500 Metern die erste Panne: Ich musste zurück auf Start, da ich in der Aufbruchsnervosität meine Fleecejacke vergessen hatte. Ich ließ Eva mit Bongili an einer Bank auf mich warten, trotz Evas latenter Hundephobie. Als ich zurückkam, saßen beide immer noch friedlich nebeneinander, vermieden es aber, sich anzusehen. Immerhin, die erste Hundeprüfung war geschafft.

Mit Fleecejacke hatte ich nun 20,3 Kilo zu tragen.

War es aufgrund dieser Tatsache oder hatte es einen anderen Grund, jedenfalls brauchten wir für diese erste Wegstrecke rund ein Drittel länger als geplant, wobei wir das erste Gipfelkreuz, den Haneggkogel, diesen Frohnleitner Hausberg mit seinem überaus sportlichen Schlussanstieg, sogar noch ausgelassen hatten.

Eva trug eine komplette Spaghettiausrüstung plus eine Flasche italienischen Rotwein für unseren letzten gemeinsamen Abend mit sich, Bongili Satteltaschen mit ihrem Spezialfutter. Ihr machte das Zusatzgewicht offensichtlich nicht zu schaffen, denn sie jagte – einmal kurz nicht an der Leine – kreuz und quer durch den Wald, wobei sie sich, ihrer tatsächlichen Breite nicht bewusst, zwischen zwei Bäumen eine ihrer Satteltaschen zerriss. Panne Nummer 2 war damit auch absolviert. Wir kamen voran …

Angekommen auf der Gmoaalm, schien noch einmal kurz die Sonne und ich machte mich daran, die Spaghetti zu kochen und Bongilis Satteltaschen zu reparieren.

Anschließend genossen wir zu dritt das letzte Abendmahl und zu zweit einen hervorragenden Südtiroler Lagrein.

Die Stimmung am nächsten Morgen war gedrückt und alles Hinauszögern konnte nicht verhindern, dass Bongili und ich nun unseren Weg allein fortsetzen mussten, weiter Richtung Westen.

Kurz vor der Fensteralm stießen wir auf den 05er-Weg, den österreichischen Nord-Süd-Weitwanderweg, der von Nebelstein im Waldviertel bis nach Eibiswald an der steirisch-slowenischen Grenze führt. Diesem wollte ich von nun an für eine Weile folgen. Ein schöner und einsamer Weg, der überwiegend auf den Kämmen und somit meist auf einer Höhe von über 1000 Metern bleibt.

Mein Navigationssystem war mir hier das erste Mal eine große Hilfe, ohne das Gerät hätte ich mich auf der Gleinalpe sicher verirrt. Bongili hingegen war mir absolut keine Hilfe, sie hatte ständig eine Spur in der Nase und zog an der Leine. Bergauf war dies zwar nicht unangenehm, aber bergab stolperte ich des Öfteren im knietiefen Schnee und lag auf der Nase, nur um sie nicht loszulassen.

Ich kannte Bongili schon seit ihrem dritten Lebensmonat, aber dieser ausgeprägte Jagdtrieb war eine Facette in ihrem Wesen, die ich unterschätzt hatte. Ohne Leine war sie zu 100 Prozent auf der Pirsch und ich hatte Angst, dass ein eifriger Jäger ihren Jagdtrieb mit einem einzigen Schuss kurieren würde oder dass sie ohne Satteltaschen zurückkommen könnte. Mit Sicherheit konnte Bongili nicht vom Ertrag ihrer Zähne leben, denn erwischt hat sie bei allen ihren Jagausflügen rein gar nichts.

Vorbereitung der ersten Zeltnacht auf der Gmoaalm. Bongili würde lieber weiterjagen …

Durch diesen Hund-Umstand konnte ich keine Stöcke verwenden, wodurch sich das Bergabgehen mit Zusatzgewicht sehr bald in meinen Kniegelenken bemerkbar machte. Einmal hatte ich versucht, die Leine am Hüftgurt meines Rucksackes zu befestigen, um die Hände beim Gehen frei zu haben, mit dem Ergebnis, dass ich mit dieser Methode noch schneller am Bauch landete als zuvor.


Bongili, der Zughund, nimmt mich am ersten Speikkogel an die Leine.

Die ersten drei Tage herrschte schönes Wetter, das war gut für das Gemüt, denn die ersten Tage sind immer die schwierigsten, egal ob es um das Wandern oder ums Fasten, Lernen oder Sonstiges geht. Umstellungen der Lebensgewohnheiten sind immer mühsam, trotzdem freue ich mich immer wieder auf einen Aufbruch ins Neue, weil ich weiß, dass nach zwei bis drei Tagen frischer Wind aufkommt und die Lebensfreude Fahrt aufnimmt.

Rückblickend haben diese ersten schönen Tage doppelt so hohen Stellenwert, aber damals konnte ich ja noch nicht ahnen, was für ein nasser, kalter und unwirtlicher Mai mich erwarten sollte.

Da nicht damit zu rechnen war, dass sich Bongilis Jagdeifer legte, selbst wenn ich ihr meinen Rucksack aufsatteln würde, entschied ich schweren Herzens, sie zurückzuschicken und meine Reise allein fortzusetzen. Ich organisierte, dass Maria (Bongilis Frauchen und meine Ex-Freundin) zum Gleinalmschutzhaus kam, um sie dort abzuholen. Es wurde ein schwerer Abschied. Traurig und nun richtig allein schritt ich mit Stöcken im tiefen Schnee weiter, bergan dem Rossbachkogel entgegen. Der mühsame, kraftraubende Schnee und meine neue Einsamkeit ließen mich an meinem Projekt zweifeln.


Einsam auf der Gleinalpe

WAS TUE ICH HIER?

Das erste Mal kamen mir Wanderer entgegen, das kurze Gespräch mit ihnen verhalf mir wieder auf den Weg zurück: „Wohin mit dem großen Rucksack?“

„Nach Nizza.“

Manchmal muss man seine Ziele nur aussprechen und der nächste Schritt ist getan.

Mit Bongili verließ mich aber auch das gute Wetter. In meiner ersten Zeltnacht ohne sie wurde ich unerwartet mitten in der Nacht von einem Regentropfen geweckt, der mir mitten ins Gesicht fiel. Und dann noch einer und noch einer … Nach ausführlicher Recherche im Licht meiner Stirnlampe stellte sich heraus, dass mein Zelt leckte, und das nicht nur an einer Stelle, sondern überall dort, wo sich Nähte befanden – und derer gab es viele!

Ich lauschte dem Regen, er fiel laut und dicht. Dieses Prasseln auf die Zeltplane ließ mich nicht schlafen und ich fürchtete schon den nächsten Tag, der wieder nass und feucht und kalt sein würde. Die Tropffrequenz auf mein Gesicht erhöhte sich und ich stellte mir zum zweiten Mal die Sinnfrage: Was tu ich überhaupt hier?

Nachdem das Prasseln gegen Morgen nachließ und an Schlaf sowieso nicht mehr zu denken war, packte ich noch im Morgengrauen zusammen und machte mich auf feuchten Socken Richtung Gaberl. Mit ein bisserl Glück würde es dort ein offenes Gasthaus und eine warme Suppe geben. Der Weg dorthin war sehr abwechslungsreich, einmal durch den Wald und dann wieder bergan durch offenes Gelände, dazwischen versteckten sich mächtige Restschneefelder, garniert mit den Nadeln der Bäume. Immer wieder lockerten altehrwürdige Grenzbäume das Gelände auf. Leider machte sich der übergewichtige Freund auf meinem Rücken abermals unangenehm bemerkbar, ich versank oft mit einem Fuß hüfttief, auch wenn die Schneedecke zuvor zehn Schritte lang meine Last getragen hatte. Nun waren die Stöcke eine große Hilfe, ich zog mich an ihnen aus dem Trittloch, um wie auf rohen Eiern weiterzutappen.


Erste Annäherungsversuche: mein „Freund“, der Rucksack, und ich

Für diese Strapazen wurde ich tatsächlich mit einem offenen Gasthaus belohnt, es gab Fruchtsaft, Kaffee und Suppe – genau in dieser Reihenfolge. Die nassen Schuhe ein wenig trocknen, und weiter ging es Richtung Salzstiegelhaus.

Die Passstraße übers Gaberl, die kürzeste Verbindung von der Landeshauptstadt Graz in die Nordwest-Steiermark, die mir das offene Gasthaus bescherte, bescherte mir auch die vielen Menschen, die ich hier und während der nächsten Stunde traf.

Normalerweise bin ich kein Freund von Menschenansammlungen, schon überhaupt nicht in den Bergen, aber längeres Alleinsein rückt die Mitmenschen in ein anderes Licht, man wird offener und mitunter auch redselig, was für mich eine neue Erfahrung war. Ich hielt mich bislang eher für mundfaul als für ein Plappermaul. Wenn geschwätzig die Steigerung von redselig ist, dann war ich nun vielleicht sogar geschwätzig; dabei glaubte ich immer – da ich bis vierzig alleine lebte –, ein Schweiger zu sein. In Wirklichkeit war ich die meiste Zeit eh unter Menschen. Jetzt freute ich mich an der Gesellschaft einer Gruppe Geologiestudenten und über die Gastfreundschaft der Wirtin auf dem Salzstiegelhaus. Ich lachte über das Gewitter, das kurz nach meiner Ankunft niederging, und genoss es, in der gemütlichen Gaststube zu sitzen und eine warme Suppe zu löffeln.

Ich mietete mich im Matratzenlager ein, weil billig und eh egal, da sonst keine Lageranwärter da waren und ich somit allein im ganzen Dachgeschoß war. Mit Hilfe eines Silikonsprays, das ich in der Garage fand, versuchte ich mein Zelt wieder dicht zu bekommen, und spätestens jetzt war es gut, dass ich wirklich allein im Lager war, da in kürzester Zeit der ganze Dachboden nach Silikon stank. Ich öffnete die schrägen Fenster und lauschte – ja, wem wohl? – dem Prasseln des Regens. Benommen vom Silikonduft, satt und zufrieden, schlummerte ich weg.

FREUND UND FEIND

Vorbei an Windrädern ging es anderntags sanft über braunes Gras rauf Richtung Speikkogel (von denen es mehrere gibt), immer dem Weg zur Hirschegger Alm folgend und somit entlang der steirisch-kärntnerischen Grenze.

Das Wandern ging mittlerweile ganz gut vom Fuß. Ich kam immer mehr ins „Rollen“, diesen Zustand unbeschwerten genießerischen Gehens quasi kurz vor dem Schweben; da weiß man plötzlich wieder, warum man unterwegs ist. Die Natur genießen: Augen öffnen, Ohren spitzen und ganz im Hier und Jetzt sein. Schritt für Schritt, Kilometer für Kilometer, Rucksackpäuschen (RSP) für Rucksackpäuschen. Schlechte Gedanken, wenn sie denn hochkamen, vertrieb ich mit einem lauten „Stopp“ – es funktionierte tatsächlich! – und summte lieber einen seichten Popsong, den ich mit meinem Gehrhythmus unterstützte. Rhythmus war immer wichtig in meinem Leben. Als nervöser Jugendlicher klopfte ich stets durchs Land, sitzend, stehend, gehend. Jetzt, zumindest äußerlich ein wenig erwachsener, ist es bedeutend besser, auch dank des Schlagzeugs, dass ich seit 36 Jahren mal mehr, mal weniger oft spiele. Aber immer noch klopfe ich leidenschaftlich gern und strapaziere damit gelegentlich meine Mitmenschen.

Das Einzige, was mich plagte, waren Schulterschmerzen, hervorgerufen durch den „Freund“ auf meinem Buckel. Wenn ich meinen RSP-Rhythmus nicht streng einhielt und nach 60 Minuten kein Päuschen hielt, sanken Stimmung und Motivation und die Schmerzen nahmen zu. Blöderweise hielt mich die Angst, den „Freund“ wieder hochheben zu müssen, davon ab, ihn abzusetzen, denn der Rucksack war absurd schwer: Ich schleppte das Gewicht von mindestens zwei vollen Kisten Bier über die Alpen, ohne ein vergleichbares Vergnügen mit dem Inhalt zu haben. Und ich brauchte sehr lange, um diesen Fehler zu korrigieren, denn immer wieder siegte das kleine Leistungsschweinchen in meinem Nacken und trieb mich an zu neuen Schritten.

Diese Verhaltensweise ist bezeichnend für mein ganzes Leben – immer zu wenige Pausen, ich sollte öfter durchschnaufen und innehalten, denn jede auch noch so kurze Pause eröffnet einen Neubeginn. In diesem Sinn kann ich selbst dem Rauchen noch Positives abgewinnen, denn als Raucher hielt ich es zumindest mit den Pausen besser. Wenn ich mich in ein technisches Problem verrannt hatte, ging ich meistens „eine rauchen“ und rekapitulierte dabei nochmals die ganze Situation, und siehe da, meistens war die Lösung in unmittelbarer Nähe. Aber je mehr Probleme ich zu lösen hatte, desto mehr hatte sie mich im Würgegriff, die „Tschick“. Noch heute – zwanzig Jahre nachdem ich mit dem Rauchen aufgehört hatte – erwache ich manchmal schweißgebadet aus einem Traum, in dem ich eine filterlose „Gitanes“ nach der anderen rauche.

 

Ich hatte also zwei gute alte Bekannte dabei: mein Leistungsschweinchen im Nacken und meinen Rucksack am Buckel, darin, ganz unten verpackt, mein notdürftig repariertes Zelt. Es dauerte nicht lange, bis das Wetter mir zeigte, wie es um meine Reparaturkünste stand. Ich brach den Wandertag schon um 15 Uhr ab, sowohl der Regen in der Luft als auch der viele Schnee am Boden ließen mich verzweifeln. Unter einer mächtigen Fichte stellte ich mein Zelt auf und hoffte, dem Regen hier ein wenig zu entgehen. Ich kochte mir grausig schmeckende Asia-Nudeln, trank Tee und fand in den Tiefen meines Essensbeutels noch Schokokekse, die ich gierig verspeiste; wenigstens ein Trost an diesem Tag. Dann kroch ich in meinen Schlafsack und wartete auf die Nacht.

Nachmittags schon im Zelt liegen, weil man Schutz vor Kälte und Regen sucht, und dabei beobachten, ob sich schon Tropfen auf der Zeltplane bilden und wann sich der erste Tropfen zu lösen beginnt, das ist nicht gerade die Zeltromantik schlechthin. Das einzige Buch, das ich mithatte, war ein philosophisches und eignete sich nicht zum Zeitvertreib. Beinahe jede Seite musste ich mehrfach lesen, spätestens nach zehn Seiten war mir das zu anstrengend und ich ließ es bleiben. Ich spielte mit meinen Gedanken und sann über meine Zukunft nach. Was tue ich in einem Jahr, welcher Job würde mir gefallen, wie zahle ich meine Schulden ab …?


Biwakplatz auf der Terenbachalm: Die Nacht der Wahrheit naht.

Interessanterweise war die Vergangenheit kein großes Thema in meinem Kopf. Bei meinen letzten Weitwanderungen am Pacific Crest Trail in Kalifornien oder im Sagarmatha-Nationalpark in Nepal war die Vergangenheitsbewältigung recht intensiv gewesen, in den USA war es eine kurz vor der Reise zu Ende gegangene Beziehung, deren emotionale Achterbahnfahrten ständig aus den Tiefen meines Hirnes hochkamen. Verdrängen funktioniert eben nicht.

Anscheinend hatte ich innerlich mit meiner Firma schon gut abgeschlossen und war im Reinen mit dem ganzen Wahnsinn der letzten vierzehn Jahre. Viel Arbeit, wenig Brot war das Motto gewesen, was ja nicht unbedingt schlecht sein muss – so lange noch ein Sinn in der Sache zu erkennen ist. Aber genau der war mir immer mehr abhandengekommen; immer schneller wurde die Technologie gewechselt, immer öfter die Hardware entsorgt und immer größer wurde der Druck von Seiten der Big Player. Und ich versuchte zwanghaft, Mitarbeiter und Kunden bei Laune zu halten, selbst als mich selbst schon Anwälte bzw. Gerichte beschäftigten. Mein Partner, mit dem ich die Firma gegründet hatte, hatte sich sanft, aber stetig aus dem Staub gemacht und ich hatte nicht loslassen können und hatte es mir noch ein paar Jahre lang schwer gemacht. Statt Pausen einzulegen, innezuhalten, die Situation zu beobachten und nachzudenken, ob und wie das alles noch Sinn machen könnte, wollte ich die Botschaft nicht hören.

„Es hat keinen Sinn, das Tempo zu erhöhen, wenn man in die falsche Richtung unterwegs ist.“

Welch weiser Satz. Wie vielen Menschen mag es ähnlich gehen, wie es mir damals ergangen ist? Das System suggeriert „hudeln“ und wir jagen vermeintlichen Bedürfnissen und scheinbar unaufschiebbaren To-do-Listen hinterher und vergessen aufs Wesentliche. Denken beim Einkaufen ans Kochen, beim Kochen ans Essen, beim Essen ans Abwaschen und vergessen darüber das Jetzt. Wie hat nochmal das Essen geschmeckt?

Natürlich ist es einfacher, einer Routine zu folgen, als sich stets neu erfinden zu müssen. Und es kann sehr anstrengend sein, nichts zu tun, sprich Zeit im Übermaß zu haben. Das konnte ich nun am eigenen Leib spüren. Es wurde ein langer Nachmittag und eine noch längere Nacht.

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