Gullivers Reisen

Text
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Viertes Kapitel

Mildendo, die Hauptstadt von Lilliput, wird zugleich mit dem Palast des Kaisers beschrieben. Eine Unterhaltung des Verfassers mit dem Staatssekretär über die Angelegenheiten des Reichs. Des Verfassers Anerbieten, dem Kaiser in seinen Kriegen zu dienen

Losgegeben, wünschte ich sogleich die Hauptstadt in Augenschein zu nehmen und reichte eine Bittschrift ein, Mildendo besehen zu dürfen. Der Kaiser gewährte mir mein Gesuch ohne weitere Umstände, jedoch mit dem besonderen Auftrage, weder den Einwohnern noch den Häusern Schaden zuzufügen.

Das Volk wurde durch eine Proklamation von meiner Absicht, die Stadt zu besuchen, benachrichtigt. Die Mauer, welche sie umringt, ist 2½, Fuß hoch und wenigstens 11 Zoll breit, so daß eine Kutsche mit Pferden sehr bequem darauf fahren kann; in der Entfernung von 10 Fuß sind überall starke Türme angebracht. Ich schritt über das große Tor hinweg und ging durch zwei der Hauptstraßen nur seitwärts sehr leise und langsam allein mit meinem Wamms bekleidet, denn ich befürchtete die Dächer und Traufen der Häuser mit den Schößen meines Überrocks zu beschädigen. Ich beobachtete die größte Vorsicht, um einige Nachzügler, die vielleicht noch in den Straßen seien könnten, nicht zu zertreten, obgleich der Befehl sehr streng war, alle Leute sollten auf ihre eigene Gefahr nicht wagen auszugehen. Die Dachfenster und Giebel der Häuser waren so sehr mit Zuschauern angefüllt, daß ich bei mir dachte, niemals auf meinen Reisen einen so bevölkerten Ort gesehen zu haben. Die Stadt ist ein vollkommenes Viereck, und jede Seite der Mauer fünfhundert Fuß lang. Die zwei großen Straßen, welche sie durchkreuzen und in vier Quartiere einteilen, sind fünf Fuß breit. Die Gassen und Durchgänge, in die ich nicht hinein konnte, sondern die ich nur von Weitem im Vorübergehen sah, sind zwölf bis achtzehn Zoll breit. Die Stadt ist groß genug um fünfhundertausend Seelen zu enthalten. Die Häuser sind drei bis fünf Stockwerke hoch, die Läden und Märkte reichlich mit Waren versehen.

Des Kaisers Palast liegt im Mittelpunkte der Stadt, wo die beiden Hauptstraßen sich kreuzen; er wird von einer zwei Fuß hohen Mauer umringt, die zwanzig Fuß von den übrigen Gebäuden entfernt liegt. Ich hatte die Erlaubnis Seiner Majestät, über diese Mauer zu schreiten. Da der Raum zwischen derselben und dem Palast weit genug war, konnte ich mir letzteren von jeder Seite leicht besehen. Der äußere Hof ist ein Viereck von vierzig Fuß und schließt zwei andere ein. Im Inneren befinden sich die königlichen Zimmer, die ich zu sehen wünschte; dies war aber sehr schwierig, denn die großen Tore, die von einem Viertel zum andern führten, waren nur achtzehn Zoll hoch und sieben Zoll breit. Da nun auch die Gebäude des äußern Hofes wenigstens fünf Fuß hoch waren, vermochte ich nicht über sie wegzuschreiten, ohne die Zinnen des Palastes zu beschädigen, obgleich die Mauern von gehauenen Steinen erbaut und auch sehr dick waren. Zugleich aber wünschte auch der Kaiser, ich möchte die Pracht seines Palastes schauen. Dies konnte ich erst nach drei Tagen, die ich damit zubrachte, mit meinem Messer die größten Bäume des kaiserlichen Parks abzuhauen, welcher ungefähr hundert Ellen vor der Stadt entfernt lag.

Aus diesen Bäumen machte ich zwei Schemel von drei Fuß Höhe, die stark genug waren, mein Gewicht zu tragen. Nachdem das Volk zum zweitenmal gewarnt war, ging ich durch die Stadt zum Palast mit meinen zwei Schemeln in der Hand. Als ich an den äußern Hof gelangte, stellte ich mich auf den einen Schemel, hob den andern über das Dach und setzte ihn behutsam nieder auf den Raum zwischen dem ersten und zweiten Hof. Alsdann schritt ich sehr bequem über das Gebäude von einem Schemel auf den andern und zog den ersten wieder zu mir herauf durch einen Stock, der mit einem Haken versehen war. Durch dieses Mittel gelangte ich in den inneren Hof, legte mich dort auf die Seite und hielt mein Gesicht an die Fenster des mittleren Stockwerks, welche deßhalb offen gelassen waren. In demselben erblickte ich die prächtigsten Gemächer, die man sich nur denken kann. Auch sah ich die Kaiserin mit den jungen Prinzen in ihren verschiedenen Wohnungen, umringt von ihren Begleitern. Ihre kaiserliche Majestät hatte die Gnade mir zuzulächeln und reichte mir aus dem Fenster die Hand zum Kuß.

Hier jedoch werde ich die ferneren Beschreibungen nicht mitteilen, weil ich dieselben für ein größeres Werk verspare, welches zum Druck bereits fertig ist. Dies soll eine allgemeine Beschreibung des Reiches Lilliput, von seiner ersten Entstehung an, und die Geschichte einer langen Reihe von Fürsten enthalten; ferner Berichte über die Kriege, Gesetze, Politik, Gelehrsamkeit, Religion, Pflanzen und Tiere desselben; auch über die besonderen Sitten und Gewohnheiten des Volkes und über anderen sehr wissenswerten und nützlichen Stoff. Meine Hauptabsicht gegenwärtig ist allein die Darstellung derjenigen Vorfälle und Verhandlungen, die sich, in Betreff des Publikums und meiner selbst, während meines neunmonatlichen Aufenthalts in jenem Reiche ereigneten.

Eines Morgens, ungefähr vierzehn Tage nachdem ich meine Freiheit erlangt hatte, kam Redresal, erster Sekretär für Privatangelegenheiten des Kaisers (so war sein Titel) zu meiner Wohnung, und zwar nur in Begleitung eines einzigen Dieners. Seinen Wagen ließ er in einiger Entfernung warten, und bat mich, ihm eine Stunde Audienz zu erteilen. Bereitwillig gab ich meine Zustimmung, sowohl wegen Redresal’s persönlicher Eigenschaften und seines Standes, als auch wegen der vielen guten Dienste, die er mir bei meinem Gesuche am Hofe des Kaisers erwiesen hatte. Ich machte ihm das Anerbieten, mich niederzulegen, damit er bequemer an mein Ohr reichen könne, allein er zog es vor, daß ich ihn während des Gesprächs auf der Hand hielt. Er begann mit Komplimenten über meine Freiheit, bemerkte ferner auch, er könne auf einiges Verdienst in Betreff derselben Anspruch machen. Ohne seine jetzige Stellung bei Hofe würde ich sie schwerlich so bald erlangt haben. Denn, fügte er hinzu, wie blühend unser Zustand Fremden auch erscheinen mag, so leiden wir an zwei großen Übeln, an einer heftigen Parteiung im Innern, und an der Gefahr eines äußern Angriffs von Seiten eines mächtigen Feindes. Was die erste betrifft, so müssen Sie wissen, daß seit ungefähr siebzig Monaten zwei Parteien, Tramecksan und Slamecksan, von den hohen Absätzen ihrer Schuhe so benannt, mit einander in Streit liegen.

Diese Absätze sind nämlich unsere Abzeichen, und man glaubt, daß hohe Absätze sich am besten für unsere alte Konstitution eignen. Seine Majestät hat jedoch beschlossen, in der Verwaltung und Regierung allein die niederen Absätze zu benutzen, und ihnen alle Ämter zu erteilen, worüber die Krone zu verfügen hat. Dieses werden Sie bald bemerken, so wie auch daß die Hacken Seiner kaiserlichen Majestät wenigstens um einen Drurr niedriger sind, wie die seines Hofes. (Drurr ist nämlich der vierzehnte Teil eines Zolles.)

Die Erbitterung zwischen beiden Parteien ist so groß, daß sie weder mit einander essen, noch trinken, noch auch reden. Wir glauben, daß die Tramecksan, oder hohen Absätze uns an Zahl übertreffen, allein die Staatsgewalt liegt dennoch in unserer Hand. Wir besorgen jedoch, Seine kaiserliche Hoheit, der Thronerbe, habe einige Neigung zu den hohen Absätzen. Wenigstens können wir bemerken, daß einer seiner Absätze höher ist wie ein anderer, wodurch Höchstdieselbe im Gange hinkt.

Mitten unter diesen inneren Unruhen werden wir mit einer Invasion von der Insel Blefuscu bedroht, welche das zweite große Reich der Welt, beinahe eben so groß und mächtig, wie das Seiner Majestät, ist. Denn was Ihre Bemerkung betrifft, es gebe in der Welt noch andere Königreich und Staaten, welche von menschlichen Geschöpfen Ihrer Größe bewohnt werden, so sind unsere Philosophen darüber im Zweifel, und wollen vielmehr die Behauptung aufstellen, Sie seien von dem Monde oder von einem Sterne herabgefallen. Denn es ist gewiß, daß hundert Sterbliche von ihrer Größe alle Früchte und Vieh im Gebiete Seiner Majestät zerstören müßten. Außerdem erwähnt unsere Geschichte von sechstausend Monaten keine andere Weltgegend als Lilliput und Blefuscu. Diese beiden großen Mächte führen, wie ich Ihnen berichten will, seit sechsunddreißig Monaten den heftigsten Krieg mit einander. Letzterer begann auf folgende Weise: Überall wird zugestanden, daß die ursprüngliche Weise, Eier zu öffnen, darin besteht, daß man das breitere Ende der Schale zerbricht oder abschneidet. Allein der Großvater Seiner gegenwärtigen Majestät schnitt sich, da er als Knabe einst ein Ei essen wollte, bei dieser Gelegenheit in den Finger. Darauf publizierte der Vater ein Edikt, welches allen Unterthanen bei schwerer Strafe verbot, das breitere Ende des Eies zu eröffnen. Das Volk geriet über dieses Gesetz in solche Wut, daß sechs Rebellionen bei der Gelegenheit entstanden. Ein Kaiser verlor darin sein Leben, ein andrerer seine Krone. Diese bürgerlichen Zwiste wurden fortwährend durch die Könige von Blefuscu befördert; und wenn sie unterdrückt wurden, flüchteten die Verbannten gewöhnlich in dies Reich. Man berechnet, daß an elftausend Personen zu verschiedenen Zeiten den Tod lieber erleiden, als die Eier an den kleinen Enden öffnen wollten. Viele Hunderte von dicken Bänden sind über diesen Streit geschrieben worden, allein die Bücher der Breitendigen sind schon lange verboten und ein Gesetz hat die ganze Partei für unfähig erklärt, fernerhin öffentliche Ämter zu verwalten.

Während dieser Unruhen machten uns die Kaiser von Blefuscu häufige Vorstellungen durch ihre Gesandten und zugleich den Vorwurf, eine Spaltung in der Religion zu bewirken, da wir gegen die Grundlehren unseres großen Propheten Lustrogg im fünfundvierzigsten Kapitel des Blundecral (dieses ist der Koran von Lilliput) uns vergehen. Dies scheint jedoch eine bloße Verdrehung des Textes zu seien, denn die Worte lauten: Alle wahren Gläubigen öffnen die Eier an dem passenden Ende. Was nun das passende Ende ist, muß nach meiner demütigen Meinung dem Gewissen eines Jeden überlassen bleiben, oder die erste Magistratsperson besitzt das Recht, es zu bestimmen. Jetzt aber haben die verbannten Breitendigen so viel Einfluß beim Hofe des Kaisers von Blefuscu und so viel Unterstützung und Ermutigung für ihre Partei hier in unserem Vaterlande erlangt, daß ein blutiger Krieg zwischen beiden Reichen schon sechsunddreißig Monate lang geführt worden ist, und zwar mit verschiedenem Erfolge. Während dieser Zeit haben wir vierzig große und noch viel mehr kleinere Schiffe, so wie dreißigtausend unserer besten Soldaten und Matrosen verloren. Jedoch der Verlust des Feindes ist noch etwas größer wie der unsrige. Dennoch hat er jetzt eine zahlreiche Flotte ausgerüstet und trifft Vorbereitungen zu einer Landung an unserer Küste. Seine kaiserliche Majestät setzt nun großes Vertrauen in Ihre Tapferkeit und Kraft, und hat mir deßhalb befohlen, diesen Bericht über unsere Angelegenheiten Ihnen vorzulegen.

 

Ich bat den Sekretär, dem Kaiser die Versicherung meines unterthänigsten Gehorsams zu überbringen, und ihn zugleich zu benachrichtigen, mir als Fremden gezieme es nach meiner Meinung nicht, mich in Parteistreitigkeiten einzulassen; ich sei jedoch bereit, mein Leben zu wagen, um seine Person und sein Reich gegen fremden Angriff zu verteidigen.

Fünftes Kapitel

Der Verfasser verhindert durch eine außerordentliche Kriegstat den fremden Angriff. Ein hoher Ehrentitel wird ihm erteilt. Es erscheinen Gesandte des Kaisers von Blefuscu und bitten um Frieden. In den Zimmern der Kaiserin bricht eine Feuersbrunst aus. Der Verfasser rettet den übrigen Teil des Palastes

Lilliput ist durch einen 800 Ellen breiten Kanal vom Reiche Blefuscu getrennt, einer Insel, die in nordöstlicher Richtung liegt. Ich hatte dieselbe noch nicht gesehen, und vermied es, nach der mir gegebenen Nachricht von einer beabsichtigten Invasion auf jener Seite der Küste zu erscheinen, aus Furcht, von feindlichen Schiffen bemerkt zu werden, welche bis jetzt noch keine Kunde von mir erhalten hatten. Es war nämlich jede Verbindung der zwei Reiche während des Kriegs bei Todesstrafe verboten, und ein Embargo auf alle Schiffe von dem Kaiser gelegt worden. Ich teilte Seiner Majestät einen von mir gebildeten Entwurf mit, die ganze feindliche Flotte zu erobern, welche, wie unsere Avisjachten13 uns berichteten, im Hafen vor Anker lag und bereit war, beim ersten günstigen Winde abzusegeln. Ich erkundigte mich bei den erfahrensten Matrosen nach der Tiefe des Kanals, den sie oft sondiert hatten, und erfuhr, daß derselbe bei der Flut in der Mitte siebzig Glumgluffs betrug, d. h. sechs Fuß englischen Maßes, und sonst nur höchstens fünfzig Glumgluffs. Hierauf ging ich zur Nordostküste, Blefuscu gegenüber, legte mich hinter einen Hügel, zog mein kleines Taschenperspektiv hervor und nahm die vor Anker liegende Flotte des Feindes in Augenschein. Dann kehrte ich in mein Haus zurück und gab Befehl, mir eine große Menge von starken Tauen und eisernen Stangen herbeizuschaffen. Dazu war ich nämlich durch einen Befehl des Kaisers berechtigt. Die Taue waren ungefähr von der Dicke eines Bindfadens und die eisernen Stangen von der Länge und Form einer Stricknadel. Ich verdreifachte die Taue, um sie stärker zu machen, und drehte aus demselben Grunde drei eiserne Stangen zusammen, indem ich die Spitzen in einen Haken bog. Nachdem ich fünfzig solcher Haken an eben so viel Taue geheftet hatte, kehrte ich zur Nordostküste zurück, zog Rock, Schuhe und Strümpfe aus und ging ungefähr eine Stunde vor der Flut mit meinem ledernen Wamms in die See hinein.

Ich watete so schnell ich konnte und schwamm in der Mitte ungefähr dreißig Ellen, bis ich Boden fühlte. In weniger als einer halben Stunde war ich bei der Flotte angelangt. Der Feind war so erschreckt als er mich erblickte, daß die ganze Mannschaft aus den Schiffen sprang und an das Ufer schwamm, wo gewiß nicht weniger als dreißigtausend Menschen standen; alsdann nahm ich mein Takelwerk, befestigte an dem Vorderteile jedes Schiffes einen Haken und band alle Stricke am Ende zusammen. Während ich dies vollbrachte, gab mir der Feind eine Salve von mehr als tausend Pfeilen, von welchen mehrere in meinem Gesicht und meinen Händen stecken blieben, und, den Schmerz abgerechnet, bei meiner Arbeit mir nicht wenig hinderlich waren. Am meisten war ich hinsichtlich meiner Augen besorgt, und würde dieselben auch unfehlbar verloren haben, wäre mir nicht plötzlich ein Hülfsmittel eingefallen. Unter anderen kleinen Artikeln, die mir notwendig waren, befand sich meine Brille in einer besondern kleinen Tasche, welche von den Zollbeamten des Kaisers, wie ich erwähnte, nicht bemerkt worden war. Diese nahm ich heraus, setzte sie auf meine Nase und führte so bewaffnet mit Kühnheit mein Unternehmen trotz der feindlichen Pfeile aus, von denen mehrere das Glas meiner Brille trafen, jedoch keine andere Wirkung hervorbrachten, als diese mir ein wenig zu verrücken. Als ich nun alle Haken befestigt hatte, nahm ich den Knoten in meine Hand und begann zu ziehen, allein kein Schiff wollte sich von der Stelle rühren, denn sie waren sämmtlich an den Ankern befestigt. Somit war der kühnste Teil meines Unternehmens noch zu vollbringen. Ich ließ den Strick fahren, da die Haken ja ohnedies an den Schiffen befestigt blieben, und schnitt voll Kühnheit mit meinem Messer die Ankertaue der Schiffe durch, wobei ich ungefähr zweihundert Schüsse in Gesicht und Hände erhielt. Alsdann ergriff ich wieder das zusammengeflochtene Ende der Taue und zog mit der größten Leichtigkeit fünfzig der feindlichen Kriegsschiffe hinter mir her.

Die Blefuscudier, welche nicht den geringsten Begriff von meinem Vorhaben hatten, waren zuerst erstaunt und verwirrt. Sie hatten die Taue durchschneiden sehen und glaubten zuerst, ich wolle die Schiffe flott machen, damit sie aufeinander stießen und dadurch Schaden litten. Als sie aber sahen, wie die ganze Flotte sich in bester Ordnung bewegte und wie ich das Ende zog, ließen sie einen solchen Ruf des Schmerzes und der Verzweiflung erschallen, daß es mir unmöglich ist, denselben zu beschreiben. Als ich außer Gefahr war, hielt ich eine Weile an, um die Pfeile aus Hand und Gesicht herauszuziehen; alsdann rieb ich mich mit derselben Salbe, die mir bei meiner ersten Ankunft gegeben ward und die ich früher erwähnte. Hierauf nahm ich meine Brille ab, wartete bis die Flut ein wenig gefallen war, watete durch die Mitte des Kanals mit meiner Beute und langte wohlbehalten im Hafen von Lilliput an.

Der Kaiser und sein ganzer Hof stand am Ufer und erwartete den Ausgang des großen Abenteuers. Sie sahen, wie sich die Schiffe in einem weiten Halbmond bewegten, konnten mich aber nicht erkennen, da das Wasser mir bis an die Brust reichte. Als ich in die Mitte des Kanals kam, gerieten sie in noch größere Furcht, denn nun kam mir das Wasser bis an den Hals. Der Kaiser glaubte, ich sei ertrunken und die feindliche Flotte nahe sich zum Angriff gerüstet; allein seine Besorgnis verschwand bald, denn da der Kanal mit jedem Schritte flacher wurde, kam ich bald so nahe, daß man mich hören konnte; ich hielt das Ende des Taues, woran die Schiffe befestigt waren, in die Höhe und rief mit lauter Stimme: »Lange lebe der großmächtigste Kaiser von Lilliput!« Dieser große Fürst erteilte mir bei meiner Landung das höchste Lob, und ernannte mich auf der Stelle zum Nardac, der höchsten Würde seines Kaisertums.

Seine Majestät wünschte, ich möchte eine andere Gelegenheit benutzen, um alle übrigen feindlichen Schiffe in seine Hafen zu bringen. So unmäßig ist der Ehrgeiz der Fürsten, daß er an nichts Geringeres dachte, als an die Eroberung des ganzen Reiches von Blefuscu, welches er dann durch einen Vizekönig regieren lassen wollte. Er hoffte ferner alle breitendigen Verbannten zu vernichten, und auch jenem Volke den Zwang aufzulegen, ihre Eier an den kleineren Enden zu eröffnen, wodurch er der Monarch der ganzen Erde geworden wäre. Allein ich suchte ihm diesen Plan auszureden, berief mich hiebei sowohl auf Politik wie auf Gerechtigkeit, und erklärte zuletzt in deutlichen Worten, ich würde mich nie zum Werkzeug hergeben, um ein freies und tapferes Volk in Sklaverei zu bringen. Als diese Angelegenheit im Staatsrate verhandelt wurde, war auch der klügste Teil des Ministeriums auf meiner Seite. Diese offene und kühne Erklärung widerstrebte so sehr der Politik des Kaisers, daß er mir dieselbe nie vergab. Er erwähnte sie auf sehr listige Weise im Staatsrate, und wie ich erfuhr, schienen auch die Klügsten mit ihrem Stillschweigen meine Meinung zu billigen.

Andere aber, welche geheime Feinde von mir waren, konnten einige Worte nicht unterdrücken, womit ein verdeckter Tadel gegen mich ausgesprochen wurde. Von dieser Zeit an begann eine gegen mich gerichtete Intrige zwischen dem Kaiser und einem Verein mehrerer gegen mich boshaft eingenommener Minister, welche in ungefähr zwei Monaten ausbrach und beinahe mit meiner gänzlichen Vernichtung geendet hätte. Von so wenig Gewicht sind bei den Fürsten die größten Dienste, wenn sie durch eine Weigerung, ihren Leidenschaften zu dienen, aufgewogen werden.

Drei Wochen nach meiner Tat langte eine feierliche Gesandtschaft von Blefuscu mit dem demütigen Anerbieten eines Friedens an. Dieser wurde auch unter sehr günstigen Bedingungen für Lilliput, womit ich aber hier den Leser nicht langweilen will, in Kurzem abgeschlossen. Die Gesandtschaft bestand aus sechs Gesandten, mit einem Gefolge von ungefähr fünfhundert Personen. Ihr Einzug war prächtig und der Größe ihres Herrn, sowie der Wichtigkeit ihres Geschäftes angemessen. Als der Traktat abgeschlossen war, wobei ich ihnen mehrere bedeutende Dienste durch das Ansehen erwies, das ich mir jetzt bei Hofe erworben hatte oder wenigstens erworben zu haben schien, machten mir Ihre Exzellenzen, welche durch Privatmitteilung erfuhren, wie sehr ich ihr Freund sei, einen Besuch in aller Form und Etikette. Sie begannen mit vielen Komplimenten über meine Kraft und Großmut, luden mich in ihres Herrn Namen ein, sein Königreich zu besuchen, und wünschten, ich möchte ihnen einen Beweis meiner wunderbaren Stärke zeigen, von welcher sie bereits so viel gehört hätten. Hierin stand ich ihnen bereitwillig zu Diensten, werde aber den Leser mit den Umständlichkeiten nicht langweilen.

Als ich einige Zeit Ihre Exzellenzen zu ihrer außerordentlichen Befriedigung und Überraschung unterhalten hatte, bat ich Sie, Sie möchten mir die Ehre erweisen, meine unterthänigste Achtung dem Kaiser, ihrem Herrn, zu verkünden, vor dessen königlicher Person zu erscheinen ich beschlossen habe, bevor ich nach meinem Vaterlande zurückkehre. Sobald ich deßhalb wieder die Ehre einer Audienz bei unserem Kaiser hatte, ersuchte ich ihn im Allgemeinen um die Erlaubnis, dem Blefuscu’schen Monarchen aufwarten zu dürfen. Er hatte die Gnade sie mir zu erteilen, jedoch, wie ich bemerkte, auf kalte Weise; den Grund konnte ich nicht erraten, bis eine gewisse Person mir zuflüsterte, Flimnap und Bogloglam hätten meine Unterredung mit den Gesandten als ein Zeichen der Abneigung dargestellt, von welcher, wie ich beschwören kann, mein Herz durchaus frei war. Dies war das erstemal, daß ich einen unbestimmten Begriff von Höfen und Ministern erlangte.

Es ist zu bemerken, daß die Gesandten sich durch einen Dollmetscher mit mir unterhielten, denn die Sprachen beider Reiche sind so sehr von einander verschieden, wie dies bei mehreren der europäischen der Fall ist. Jede Nation ist auf das Altertum, die Schönheit, die Kraft ihrer eigenen Sprache stolz und verachtet die ihrer Nachbarn. Unser Kaiser jedoch benutzte den Vorteil, welchen ihm die Wegnahme der Flotte gewährte, zwang die Gesandten, ihre Kreditivschreiben abzugeben und ihre Reden im Lilliputischen zu halten. Auch muß ich gestehen, daß die meisten Personen von Stande, daß Kaufleute und Matrosen, kurz alle, die an den Küsten wohnen, sich in beiden Sprachen ausdrücken können. Der Grund liegt in der großen Handelsverbindung beider Staaten, in der fortwährenden Aufnahme der Verbannten beider Reiche, die gegenseitig ist, in der herrschenden Gewohnheit, junge Männer von Adel und Vermögen in das andere Reich hinüberzusenden, damit sie durch Kenntnis der Welt, der Menschen und Sitten ihre äußeren Formen ausbilden. Die erwähnte gegenseitige Sprachkenntnis bemerkte ich einige Wochen später, als ich dem Kaiser von Blefuscu meine Aufwartung machte, ein Umstand, der sich inmitten meines Unglücks, welches durch die Bosheit meiner Feinde bewirkt war, als ein höchst glückliches Ereignis erwies, wovon ich an gehöriger Stelle Bericht erstatten werde.

 

Der Leser wird sich erinnern, daß ich mit einigen Artikeln unzufrieden war, unter denen ich meine Freiheit wieder erlangte. Mir mißfiel darin, daß sie zu sklavisch waren, allein ich war durch Not gezwungen mich zu fügen. Da ich nun jetzt ein Nardac des Reiches vom höchsten Range war, so wurden sie als meiner jetzigen Würde widerstrebend betrachtet, und der Kaiser (diese Gerechtigkeit muß ich ihm widerfahren lassen) erwähnte sie nie in meiner Gegenwart. Bald darauf hatte ich auch noch Gelegenheit Seiner Majestät einen in meiner Meinung sehr bedeutenden Dienst zu erweisen. Ich ward plötzlich um Mitternacht durch das Geschrei mehrerer Hunderte vor meiner Türe aufgeweckt und geriet wirklich in Schrecken. Ich hörte das Wort Burglum unaufhörlich wiederholt; mehrere Hofleute des Kaisers drängten sich durch den Menschenhaufen und baten mich, sogleich zum Palaste zu kommen, wo in den Zimmern Ihrer Majestät der Kaiserin durch die Sorglosigkeit einer Ehrendame eine Feuersbrunst ausgebrochen war. (Diese hatte nämlich einen Roman im Bette gelesen und war dabei eingeschlafen.) Sogleich sprang ich auf; Befehl wurde erteilt, mir aus dem Wege zu gehen. Da nun auch der Mond gerade schien, bemühte ich mich zum Palaste zu gelangen, ohne die Menschen zu zertreten. Wie ich fand, hatte man schon Leitern an die Gemächer angelegt und sich mit Feuereimern zur Genüge versehen, allein das Wasser war von dem Orte der Feuersbrunst nicht wenig entfernt. Die Eimer waren von der Größe eines starken Fingerhuts, und die armen Leute lieferten mir so viel und so schnell, wie es ihnen nur möglich war, allein die Flamme war so heftig, daß dies nicht viel half. Ich würde das Feuer mit meinem Rock leicht erstickt haben, allein unglücklicher Weise trug ich nur mein ledern Wamms.

Der Fall schien verzweifelt und beklagenswert und der prächtige Palast würde unfehlbar niedergebrannt seien, hätte ich nicht plötzlich Geistesgegenwart gezeigt, wie sie mir sonst nicht gewöhnlich ist. Am Abend zuvor hatte ich sehr viel von einem köstlichen Weine, mit Namen Glimgum, getrunken (die Blefuscudier nennen ihn Flemei, aber man hält unsere Sorte für die bessere), welcher sehr diuretisch wirkt. Höchstglücklicher Weise nun hatte ich mich noch gar nicht entledigt. Die Hitze, der ich mich aussetzte, indem ich nahe an die Flamme trat und sie zu löschen suchte, bewirkte, daß der Wein auf die Urinorgane Einfluß äußerte; ich entledigte dieselben von einer solchen Masse, die ich auch auf die passendsten Orte geschickt hinrichtete, daß die Feuersbrunst in drei Minuten gelöscht, und jener schöne Palast, dessen Bau so viele Menschenalter erfordert hatte, von gänzlicher Zerstörung errettet ward.

Der Tag war angebrochen, und ich kehrte in meine Wohnung zurück, ohne dem Kaiser meinen Glückwunsch abzustatten, weil ich nicht wissen konnte, wie Seine Majestät den erwiesenen Dienst aufnehmen würde, obgleich derselbe von der ausgezeichnetsten Art war. Durch die Grundgesetze des Reiches wird nämlich jedem, ohne Rücksicht des Standes, die Todesstrafe bestimmt, der innerhalb der Palastmauern sich auf die erwähnte Weise entledigt. Zwar beruhigte mich wieder eine Botschaft Seiner Majestät, Er werde Seinem Justizminister Befehl erteilen, mir eine Verzeihungsurkunde in aller Form ausfertigen zu lassen. Diese konnte ich jedoch nicht erhalten; man machte mir die vertraute Mitteilung, die Kaiserin habe den furchtbarsten Schauder über meine Tat empfunden, habe sich in die entferntesten Gemächer des Palastes begeben und den festen Entschluß gefaßt, nie sollten ihre früheren Zimmer zu ihrem Gebrauche wieder ausgebessert werden. Sie konnte es nicht unterlassen, in Gegenwart ihrer vertrauten Hofdamen, mir furchtbare Rache zu schwören.

13Schnellsegler, welche gleichsam wie Vorposten die größeren Flotten umkreuzen und überhaupt zum Beobachten des Feindes benutzt werden.
Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?