Buch lesen: «Gefährlich gute Grooves»
John Taylor
John
Taylor
Gefährlich gute Grooves
Liebe, Tod und Duran Duran
Aus dem Englischen von Olaf Rippe
Impressum
Der Autor: John Taylor
Deutsche Erstausgabe 2013
Titel der Originalausgabe:
„In the Pleasure Groove – Love, Death & Duran Duran“
© 2012 by John Taylor
ISBN: 978-0-7515-4904-1 by Sphere, ein Imprint von Little, Brown Book Group, 100 Victoria Embankment, London EC4Y 0DY, UK
An Hachette UK Company
Coverdesign: Patty Palazzo
Coverabbildung: © Kristin Burns
Rückseite im Uhrzeigersinn von oben links: © Kristin Burns, © Popperfotos/Getty Images,
© EMI Archive, © Privatarchiv des Autors, © Ken Regan, © Privatarchiv des Autors,
© Privatarchiv des Autors
Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com
Übersetzung: Dr. Olaf Rippe
Lektorat und Korrektorat: Hollow Skai
© by Hannibal
Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen
ISBN 978-3-85445-409-0
Auch als Hardcover erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-408-3
Hinweis für den Leser:
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Inhalt
Zitate
Intro: Brighton, 29. Juli 1981
Teil 1: Analoge Jugend
1 Hey Jude
2 Jack, Jean und Nigel
3 Sounds der Vorstadt
4 Katholische Mahn-Klausel
5 Eine Hollywood-Erziehung
6 Mittendrin und unsichtbar
7 Junior Choice
8 Meine Mondlandung
9 Nebendarsteller
10 Der Flaneur von Birmingham
11 Neurotischer Außenseiter
12 Shock Treatment
13 Barbarella’s
14 Ballroom Blitz mit Synthesizern
15 Everybody Dance
16 Pläne für Nigel
17 Tolle lange Beine
18 Start in die Achtziger
19 Nie klang die Musik besser
20 Ankunft der Poesie
21 Das letzte Debüt
22 Taylor, Taylor, Taylor, Rhodes, Le Bon
23 Bieterkrieg
24 Begnadete Diplomatie
25 Göttliche Dekadenz
26 Manic Panic
27 Perfekter Pop
Bildstrecke 1
Teil 2: Hysterie
28 Das ganze Paket
29 Auf ins gelobte Land
30 Erinnerungs-Quiz
31 Gesetzliches Mindestalter
32 Gold, Silber und Platin
33 Paradiesvogel
34 Spaß-Routine
35 Sie nannten es MTV
36 Down under und obenauf
37 Im Anzug auf der Yacht
38 Theodore & Theodore
39 Sex im Sarg
40 Jacoby Place
41 Das Jahr der Ortswechsel
42 Karibische Luft
43 Die Erwartungen von heute sind die Enttäuschungen von morgen
44 Unbegrenzte Spielräume
45 Ernüchterung und Reflex
46 Zeit zum Absahnen
Bildstrecke 2
47 „The Remix“
48 Größenwahn am Ruder
49 Geborgenheit in der West Fifty-Third Street
50 Nouveau Nous
51 Schuldgefühle
52 Real World, Wheel World
53 Das Model
54 Burnout
55 Is This the End, My Friend?
Teil 3: Digitale Wahrheit
56 Toter Tag
57 Im Dunkeln
58 Notorious
59 Dem Schlaganfall nahe
60 Jagd nach der Welle
61 Futter für den Boulevard
62 Hochzeits-Spaghetti
63 Komm, wir gehen nach L.A.
64 Paranoia am Lake Shore Drive
65 Millionen kleine Verlockungen
66 Tucson
67 Tag 31
68 Brüder im Geiste
69 Gela
70 Eine andere Art von Tiefe
71 Reunion Of The Snake
72 Osaka Ortszeit
73 Überleben lernen
74 Coachella, Indio, Kalifornien, 17. April 2011
Danksagung
Nachweise
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Zitate
Eine Zeitlang zurückzublicken tut den Augen wohl
und lässt sie umso wacher werden
für ihre eigentliche Funktion: nach vorne zu schauen.
Margaret Fairless Barber
And I won’t cry for yesterday, there’s an
ordinary world somehow I have to find
And as I try to make my way to the ordinary world
I will learn to survive
Duran Duran, „Ordinary World“
Eine Krise ist auch eine Chance
Chinesische Weisheit
Intro: Brighton, 29. Juli 1981
Montagabend im Brighton Dome, in zwei Wochen erscheint unsere dritte Single, „Girls On Film“. Vor einem Monat war mein
21. Geburtstag.
Das Licht geht aus und „Tel Aviv“ setzt ein. Wir haben diesen beschwörenden, orientalisch angehauchten Instrumental-Track von unserem neuen Album für die Eröffnung ausgewählt, damit das Publikum merkt, dass die Show gleich anfängt.
Aber seltsam, wir hören gar keine Musik. Was ist da draußen los? Der Sound der Menge. Immer lauter. Größer. Sie rufen nach uns.
Kreischen.
Und dann heißt es, hinter dem Sicherheitsvorhang entlang: raus auf die Bühne. Ein Anflug von Angst. Wir werfen uns nervöse Blicke zu. Schneiden Grimassen. „Träume ich?“
Wir stöpseln unsere Instrumente ein; der Bass läuft, die Drum-Beats sind da, die Gitarren zu den Keyboards gestimmt.
Fertig.
„Tel Aviv“ erreicht den Schlussteil. Auf geht’s.
Der Vorhang hebt sich vor unserem neuen Leben.
Bis unter das Dach reichen die PA-Türme, die unsere Instrumente verstärken. Doch ihre ganze Power ist machtlos gegen die sexuelle Energie, die aus dem jugendlichen Publikum auf uns zu wogt.
Ihre Kraft ist fast greifbar. Ich spüre den ganzen ersten Song hindurch, wie sie sich meiner Arme, Beine und Finger bemächtigt. Unablässig branden ihre Wellen auf die Bühne.
Wir haben keine Chance, uns Gehör zu verschaffen, aber das macht nichts. Es hört uns sowieso niemand zu. Sie sind gekommen, um sich selbst zu hören. Um gehört zu werden. Und was sie zu sagen haben, ist: „Nimm mich, MICH! Ich gehöre dir! John! Simon! Nick! Andy! Roger!“
Als unser erster Song mühsam stolpernd zum Halten kommt, sehen wir uns gegenseitig hilfesuchend an. Aber irgendwie hat der nächste Song schon ohne uns angefangen. Wir haben die Kontrolle verloren. Sitze werden zertrümmert. Kleider heruntergerissen. Es gibt Verletzte. Zusammenbrüche. Eine Szene wie von Hieronymus Bosch. Alle weiblichen Teenager Großbritanniens erleben zeitgleich ihre Jugend-Krise, genau jetzt, mehr oder weniger im Takt unserer Musik. Der Wahnsinn ist ansteckend. Wir sind der Auslöser für ihre Explosionen, eine nach der anderen, tausendfach.
Wir sind zu Idolen geworden, zu Ikonen. Objekten der Anbetung.
Teil 1: Analoge Jugend
1: Hey Jude
Ich bin vier Jahre alt. Aufgeweckt und schüchtern. Die Haare sind blonder als später in meiner Teenager-Zeit. Ich trage Shorts und Sandalen und bin ein kleiner Prinz der Vorstadt im Süden von Birmingham, in Hollywood. Wie perfekt.
An einem typischen Wochentag des Jahres 1964 bin ich um zehn Uhr morgens aus dem Haus geschlüpft und hüpfe auf dem rauen Beton der Einfahrt herum. Ich sehe zu, wie meine Mum die Haustür zuzieht, abschließt und den Schlüssel in ihre Handtasche legt; die Handtasche verstaut sie in ihrer Einkaufstasche, und es geht los. Links aus der Einfahrt heraus und den Hügel hinauf, das ist die Straße, in der wir leben, die Simon Road. Unser Haus ist die Nummer 34, das vorletzte der Straße.
Wir gehen zusammen den Fußweg entlang und zählen abwärts: 32, 30, 28. Auf der linken Seite der Straße stehen all die Doppelhäuser mit den geraden Hausnummern, jede Hälfte ein separates Eigenheim (unseres steht Seite an Seite mit der Nummer 36). Die Gebäude mit den ungeraden Hausnummern auf der anderen Straßenseite sind freistehende Wohnhäuser, allesamt weit größer als unseres, was auch für die baumreichen, langgestreckten Gärten gilt, die unten an ein Flüsschen grenzen. Auch sind die Auffahrten ebener und bieten Platz für mehr als ein Auto.
Als ich später statusbewusster wurde, fragte ich meine Eltern: „Warum habt ihr damals nicht sechshundert Pfund draufgelegt, dann hätten wir jetzt einen Bach im Garten?“
Ich halte Mums Hand und denke an den Beatles-Song, der so oft im Radio läuft, als der Anstieg steiler wird. Wir erreichen den Kamm des Hügels, wo die Simon Road auf die Douglas Road trifft, und biegen rechts ab.
Wir kommen an einem vier Meter hohen Holly-Busch, einer Stechpalme, vorbei, der einzige mir bekannte Hinweis darauf, woher die Siedlung ihren Namen hat. Wir marschieren weiter, überqueren die Hollywood Lane auf Höhe des Gay Hill Golf Clubs, eine Einrichtung, die ich später in meiner Vorstellung als Schauplatz von Partnertauschpartys mythisch verklären werde. Nicht dass irgendjemand aus meiner Familie diese Stätte jemals betreten hätte, und an dem Gerücht war auch nichts dran.
Autos rasen vorbei, mit vierzig oder gar fünfzig Kilometern pro Stunde. Wir erreichen die Highter’s Heath Lane, eine weitere Verkehrsader der Gegend, die man nehmen muss, wenn man das alte Birmingham der Omas, Tanten und Onkel, der Erholungsparks und gepflegten Grünanlagen besuchen will. An den Wochenenden ist die Familie Taylor viel auf dieser Straße unterwegs. Auch Mutter und Sohn müssen sie benutzen, um ihr heutiges Ziel zu erreichen: die Pfarrkirche St. Jude.
Diese ganze Lauferei. Wir machen das, seit ich denken kann. Mum fährt nicht selbst Auto und wird es nie tun. Zuerst saß ich in meinem Kinderwagen, aber jetzt bin ich so alt, dass ich neben ihr her gehen kann, was eine Erleichterung für sie sein muss. Ich klage nicht, es ist halt so und wird immer so sein. Amen.
Mum schwitzt jetzt in ihrem Wollkleid und dem Regenmantel, sie will endlich ankommen. Wir passieren die Esso-Tankstelle, in der ich 1970 meine Sammlung von Gedenkmünzen zur Fußballweltmeisterschaft vervollständigen werde. Eine letzte Biegung nach links und wir sind auf dem gepflasterten Platz, wo die Kirche von St. Jude in ihrer Waschbeton-Pracht steht.
Als ich älter war, habe ich viele wunderschöne, beeindruckende Kirchen gesehen: St. Patrick in der Fifth Avenue, den Petersdom in Rom, Notre Dame in Paris. Aber in der ganzen westlichen Welt gab es keine zweckmäßigere Kirche für das Volk als St. Jude in der Glenavon Road. Man hatte sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit als Provisorium für ein paar Jahre gebaut. Jetzt geht sie auf die Zwanzig zu, es zieht und klappert an allen Ecken. Der Bau ist einstöckig, hat ein Wellblechdach und auf seiner gesamten Länge alle zwei Meter ein Fenster.
Diese Schlichtheit verstärkte bei den Gläubigen von St. Jude die Vorstellung, auserwählt zu sein. Warum sonst sollten wir uns an diesem kalten, hässlichen Ort versammeln, wenn wir nicht gewiss sein konnten, dafür belohnt zu werden?
Pater Cassidys großartige Spendenkampagne in den Siebzigerjahren hatte schließlich eine neue St.Jude’s-Kirche zum Ergebnis. Das war keine geringe Leistung. Keiner der Kirchgänger war wohlhabend oder gar reich. Alle mussten auf den Penny achten. Von diesen Gemeindemitgliedern Geld einzusammeln, um davon eine neue Kirche zu bauen, erforderte viel Überredungskunst.
Zum Glück hatte der Pater Gott auf seiner Seite.
Unser Sinn für Gemeinschaft führt uns durch die kleine Eingangshalle, wo auf einfachen Holztischen Bücher ausliegen; manche muss man kaufen, andere sind kostenlos. Es gibt Sachbücher, Bibeln, Liederbücher und andere Artikel wie Rosenkränze, Kruzifixe und Schmuckanhänger in Gestalt des Heiligen Judas Thaddäus, des Schutzpatrons der hoffnungslosen Fälle.
Weiter ins Mittelschiff, wo es nach Schweiß und Weihrauch vom Vortag riecht. Meist ist es kühl hier drin, manchmal warm, aber nie heiß. Ein großer, rothaariger Mann spielt auf einer klapprig aussehenden Orgel, aus deren Pfeifen zarte, flüchtige Musik ertönt. Eno würde sie atmosphärisch nennen. Träge brennende Kerzen verströmen einen gottgefälligen Duft.
Schlag elf beginnt die Messe. Der Priester kommt schick gekleidet herein, gefolgt von zwei jungen Männern in weißen Gewändern – das Team des Geistlichen, seine Truppe. Einer von ihnen schwenkt einen silbernen Kelch, aus dem noch mehr Weihrauch strömt. Die Luft in der Kirche muss gründlich gereinigt werden, bevor der gute Pater sie einatmen kann.
Er trägt eine kunstvolle Robe aus grün-goldener Seide mit einem roten Kreuz auf dem Rücken. Unterhalb des Umhangs geben die knöchellangen, umgekrempelten Hosenbeine den Blick auf schwarze Socken und Straßenschuhe frei.
Die Musik schwillt an, und wir stehen alle auf. Der rothaarige Mann leitet uns in ein Lied, das wir alle gut kennen, „The Lord Is My Shepherd“. Ich öffne das Gesangbuch, um den Text zu lesen. Ich mag dieses Lied, aber wie Mum bin ich zu verlegen, um laut mitzusingen. Ich wünschte, ich könnte es, aber es geht einfach nicht. Doch ich mag das Gemeinschaftsgefühl, das entsteht, wenn alle im Raum dieselben Worte singen.
Als das Lied zu Ende ist, schreitet der Priester zum Podium. Er blickt hinunter auf seine Bibel, öffnet weit seine Hände und sagt: „Lasst uns beten.“
2: Jack, Jean und Nigel
Die Kirche war einfach da. Wie der Strom, die Heizung oder das Schwarzweiß-Fernsehen – etwas, das einfach existierte. Ich nahm an, dass jeder fünf Mal die Woche hinging. Ich wusste nicht, dass ich anders war, ich war römisch-katholisch.
Man hinterfragt solche Dinge nicht, wenn man klein ist. Ich fragte nie, warum Mum und ich fast jeden Tag zur Kirche gingen, oder warum Dad, wenn er uns sonntags hinfuhr, uns einfach absetzte und nachher wieder abholte.
Meine Eltern sind in der Innenstadt von Birmingham aufgewachsen. Mum war in Liverpool zur Welt gekommen. Als sie noch ein Kleinkind war, zog ihre Familie, die Harts, nach Birmingham in die Colemeadow Road, wo sie ein großes, freistehendes Eckhaus bezog. Sie brauchten den Platz: Mum war eine von fünf, bis ihre Schwester Nora Trevor zur Welt brachte, der mit in der Familie aufwuchs. Das machte sechs. Ihr Vater Joseph, der vor meiner Geburt starb, widmete sein Berufsleben der Gewerkschaftsarbeit; er hatte ursprünglich eine Stelle in Liverpool bei der Gewerkschaft der Werftindustrie, zog aber für einen besseren Job nach Birmingham um. Der Bürgermeister von Birmingham kam zu seiner Beerdigung. Ging man die Straße, in der die Harts wohnten, ein Stück hoch, wurden die Behausungen kleiner; enge, solide gebaute viktorianische Reihenhäuser, klein aber fein, die Toilette nach hinten raus.
In einem davon, in der Nummer 10, lebten die Taylors.
Mein Vater Jack – eigentlich John – wurde 1920 geboren. 1939 war er also neunzehn, was ihn zu Frischfleisch für den Zweiten Weltkrieg machte. Er wurde nach Ägypten verschifft, wo er einen Posten in der Verwaltung erhielt; er war Bürogehilfe, kutschierte aber auch Trucks und Offiziere über den Standort. Als er für ein freies Wochenende, das er eigentlich in Kairo verbringen wollte, den Dienst mit einem anderen Soldaten tauschte, sollte das nicht ungestraft bleiben. An diesem Wochenende besetzte die deutsche Armee den Stützpunkt, an dem Dad stationiert war, und nahm ihn und viele andere gefangen. Die britischen Kriegsgefangenen wurden dann über Italien nach Deutschland gebracht und im Stalag 344 interniert.
Dad verbrachte dort die restlichen drei Kriegsjahre. Er musste von rohen Kartoffeln, wässriger Suppe und gelegentlichen Lebensmittelpaketen des Roten Kreuzes leben. Immerhin rauchte er nicht und konnte seine Tabakrationen gegen ein paar zusätzliche Kartoffeln eintauschen.
Mum pflegte zu mir im Vertrauen zu sagen: „Dein Vater hatte eine schreckliche Zeit im Krieg, aber er würde nie darüber reden.“ Dads Kriegserfahrung, das war der kakifarbene Elefant in unserem Wohnzimmer. Niemand konnte darüber sprechen, aber wir lebten alle damit, immer noch, zwanzig Jahre danach.
Heute ist mir klar, dass Dad an einer posttraumatischen Belastungsstörung litt und eine Therapie gebraucht hätte, wie er sie heutzutage auch bekommen würde. Das Äußerste, was man zu dem Thema aus ihm herausbekam, wenn man ihn drängte, war: „Ich hatte es leicht verglichen mit George.“
George war Dads Bruder. Ihr Vater war gestorben, als Dad fünf und George zehn war, so wurde George so etwas wie ein Ersatzvater. Dad verehrte ihn. George leistete seinen Militärdienst in Burma und geriet in japanische Gefangenschaft. Er war in einer Mine in der Nähe von Nagasaki, wenige Meilen von der Stelle entfernt, wo die Atombombe fiel, und er spürte die Explosion.
Als Dad nach dem Krieg inmitten der Siegesfeiern zurück nach Birmingham kam, waren seine Mutter Frances und seine ältere Schwester Elsie natürlich überglücklich. Aber noch immer war die Sorge in der Familie groß, denn von George hatte man noch nichts gehört. Man wusste nicht einmal, ob er noch lebte. Das warf einen Schatten auf Dads Heimkehr.
Fast ein Jahr später ereignete sich eine Szene wie aus einem Steven-Spielberg-Film. Dad wartete auf einen Bus, der ihn zur Arbeit bringen sollte, als er mit Mühe eine Gestalt erkannte, die aus dem Morgennebel heraus die Straße herunter auf ihn zukam. Es war sein Bruder George. Er war seit dem Sieg über Japan frei, aber ausgemergelt und erschöpft, nicht nur von seiner Gefangenschaft, sondern auch von seiner langen Heimreise über den Pazifik und dann mit dem Zug durch die USA.
Ich bin sicher, dass auch Dad für George verändert aussah. Aber diszipliniert und stoisch wie sie waren, werden diese beiden Männer keine Tränen vergossen haben. Ein Handschlag, sicher, vielleicht eine Umarmung. Dad mochte ein paar Busse fahren gelassen haben, aber ich bezweifle, dass er sich den Tag frei nahm. Zu weinen, das wäre etwas für Frauen gewesen.
Diese Geschichte war so schwer für meinen Vater, dass er mir erst davon erzählte, als er in seinen Achtzigern und ich über vierzig war.
Wenn man in den 1960ern in England aufwuchs, war der Zweite Weltkrieg allgegenwärtig. Er war ein gewaltiges Ereignis, von dem jeder betroffen war. Während Dad sich nur widerstrebend auf das Thema einließ, konnten alle anderen nicht aufhören, darüber zu sprechen. Es beherrschte das Fernsehen und das Kino.
Meine Mutter Jean, ihr Taufname ist Eugenie, hatte ihre eigenen Erfahrungen aus der Kriegszeit. Damals arbeitete sie in Longbridge in einer Fabrik für Austin-Automobile, die auf die Fertigung von Teilen für die wuchtigen Lancaster-Bomber umgestellt hatte. In den 1940ern war auch Mum in ihren Zwanzigern, und sie genoss die Kameradschaft in der Spätschicht.
1946 ging das Leben weiter, das durch den Krieg unterbrochen worden war, und die Gedanken kehrten zur Normalität zurück: Jobs, Heirat und Familiengründung. Es gab wieder Hoffnung. Als Nachbarn hatten Mum und Dad sich schon seit Jahren wahrgenommen, aber es war bei einer schüchternen, zurückhaltenden Bekanntschaft geblieben. Dad verstand sich gut mit Mums Brüdern Sid und Alf, und eines Abends heckten die drei im Billesley Arms einen Plan aus.
An dem darauf folgenden sonnigen Samstagmorgen schritt Dad den Häuserblock hinunter zu den Harts und klopfte an die Haustür. Da er für die Familie ein vertrautes Gesicht war, wurde er sofort hereingebeten. Aber er war nicht da, um zu fragen, ob Sid morgen mit zum Fischen käme, oder ob Alf später Lust auf eine Partie Bowling im Billesley hätte. Er war gekommen, um den alten Joe Hart zu bitten, mit seiner jüngeren Tochter Eugenie ausgehen zu dürfen.
Ich glaube nicht, dass meine Eltern große Erwartungen mit Liebe und Ehe verbanden. Sie waren beide praktisch veranlagte Leute, die eine Familie haben und nicht allein alt werden wollten. Vermutlich verspürten beide eine tiefe Dankbarkeit, vom anderen gewollt und angenommen zu sein, aber sie hätten das nie so ausgedrückt.
Vom ersten Date an wussten sie, dass sie zusammenpassten, und ihre Freunde und Familien wussten es auch. In ihrem Umfeld war ihre Partnerschaft ein Symbol des Überlebens in der Zeit nach dem Krieg: Zwei Arbeiterfamilien gaben einander ihr jüngstes Kind. Ihre Heirat erfüllte viele mit Stolz.
Die zweiundvierzig Hochzeitsgäste lebten alle in einem Umkreis von wenigen Meilen. Als ich zehn war, spielten fast alle eine Rolle in meinem Leben; sie bildeten das Gefüge, das mich geformt hat. Es waren gute, ehrliche und liebevolle Leute. Ich wuchs auf in dem Gefühl, sie zu lieben, wie sie mich liebten – vorurteilsfrei und bedingungslos. Die Hochzeit meiner Eltern brachte das Beste an der englischen Arbeiterklasse und ihren Vorstellungen von Familienleben zum Vorschein.
In den 1950ern waren neue, bezahlbare Wohnungen knapp. Auch das war eine Folge des Krieges. So zogen Mum und Dad, nachdem sie geheiratet hatten, vorübergehend bei den Eltern meiner Mutter ein.
Sie wurden bald Teil einer Diaspora der Arbeiterschaft, die aus den Innenstädten in die Neubausiedlungen und Gartenstädte zog, die gebaut wurden, um die ausgebombten Stadtzentren zu entlasten und Wohnraum für die explodierende Bevölkerung zu schaffen. Oft wurde die Geschichte erzählt, wie mein Vater 1954 an einem Montagmorgen um sieben Uhr im Verkaufsbüro einer neu errichteten Siedlung auftauchte und darum bat, das letzte verfügbare Haus kaufen zu dürfen.
Das neue Haus war perfekt. Es hatte vier Zimmer, zwei oben und zwei unten, sowie ein Kieselputz-Relief zwischen dem Erdgeschoss und den oberen Erkerfenstern. Das Wohnzimmer, in dem wir aßen, fernsahen und so ziemlich alles machten, war neun Quadratmeter groß. Das andere Zimmer im Erdgeschoss war das Vorderzimmer. Hier wurden die Hochzeitsgeschenke und der Alkohol aufbewahrt. Hier nahmen wir drei jeden Sonntag unseren Lunch ein, und hier wurde jedes Jahr der Weihnachtsbaum aufgestellt. Abgesehen davon blieb der Raum ungenutzt.
Die Simon Road Nr. 34 hatte eine eigene Garage, wo mein Vater ganze Wochenenden an seinem Auto herumbastelte. Es gab einen kleinen Vorgarten und einen etwas größeren hinten.
Im Juni 1960 brachte meine Mutter mich ohne Komplikationen im Sorrento Maternity Hospital in Solihull zur Welt. Ich machte nie Schwierigkeiten, wie sie mir später erzählte. Bald wurde ich vom Krankenhaus nach Hause gebracht, da war das Haus schon gut eingewohnt und gemütlich, ein kuscheliger Ort für ein Neugeborenes.
Meine Eltern gaben mir den Namen Nigel. Eine wirklich unkonventionelle Wahl. Mein zweiter Name war John.