Psychophysiologie (1899)

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Bewusstsein

Bevor wir das Thema in seinen Hauptzügen erörtern, müssen wir als Vorbereitung zunächst das Bewusstsein studieren. In dem durch Phänomene gekennzeichneten Bewusstseinsstrom gibt es die Einheit des Geistes. Diese Einheit darf allerdings nicht zu weit getrieben werden. Jedes mentale Phänomen ist gleichzeitig mit drei mentalen Prozessen verbunden: dem Intellekt, dem Gefühl und der Konation.12 Sie bilden die Basis der dreifach differenzierten Einheit des mentalen Wesens. Weil sie die elementaren psychischen Aktivitäten darstellen, müssen sie jeder mentalen Aktivität zugrunde liegen. Komplexere Prozesse sind schlicht das Ergebnis einer Kombination dieser drei elementaren Prozesse unter dem Einfluss der Entwicklung. Da es sich so verhält, muss es irgendeinen allgemeinen, auf alle Phänomene anwendbaren Begriff geben. Wir nennen sie deshalb Bewusstseinsphänomene.

Bewusstsein lässt sich kaum definieren. Auf das mentale Leben bezogen ist es unmöglich, Unbewusstheit zu erfassen, weil es sich vom psychischen Standpunkt aus gesehen um eine negative13 Idee handelt. Vollständige Unbewusstheit wäre die Abwesenheit mentaler Zustände oder Prozesse. Möglicherweise ist der Geist zu bestimmten metaphysischen Prozessen fähig, die das Bewusstsein übersteigen. Doch solche Zustände sind dann jenseits der psychischen Phänomene. Unbewusstheit ist also aus der psychischen Perspektive völlig negativ. Das mentale Leben wird als Bewusstseinsstrombegriffen. Mit anderen Worten: Das Leben des Geistes hat keine Trennpunkte, die bestimmte Grenzen markieren, wie es bei Objekten im Raum der Fall ist. Zudem lassen sich im mentalen Leben, soweit es die Prozesse anbelangt, keine Trennlinien zwischen den einzelnen Phasen festlegen. Das Leben ist kontinuierlich, ohne irgendwelche völligen Brüche zwischen den mentalen Prozessen. Auch kann man Bewusstsein nicht als etwas betrachten, das sich immer einfach in einem passiven Zustand befindet, denn auch beim simpelsten mentalen Zustand handelt es sich um einen aktiven Vorgang. Die verschiedenen mentalen Prozesse müssen selbst der mentalen Aktivität unterworfen werden, bevor sie erkannt werden können. Ein unerkannter Zustand hat keine psychische Bedeutung. So stellt etwa ein Stich mit einer Nadel, der nicht als solcher unterschieden wird, ein physiologisches, kein psychologisches Problem dar. Ladd hat Bewusstsein definiert als »synonym mit einem psychischen Zustand, der als inhaltlich unterschieden betrachtet wird – wie schwach auch immer – und mit dem Strom des mentalen Lebens verbunden ist – wie unvollkommen auch immer.« Die Phänomene des Bewusstseins stellen mentale Aktivitäten dar. Bewusst zu sein bedeutet, sich dieser psychischen Aktivität bewusst zu sein, wobei Bewusstsein als »eine Form des Funktionierens« betrachtet wird. Das Analysieren mentaler Zustände impliziert eine Differenzierungsfähigkeit des Bewusstseins. Bewusste Zustände zu unterscheiden, schließt wiederum die Aktivität des Geistes ein, der seinerseits selbst Bewusstsein ist. Bewusstsein ist folglich das Erkennen mentaler Aktivität aus der Sicht psychischer Einheit bezogen auf die bewussten Zustände. Manche setzen dies mit Selbst-Bewusstsein14 gleich – also mit »der Kraft, durch die die Seele ihre eigenen Taten und Zustände kennt.« (Porter).

Gegen diese Theorie tragen die deutschen Psychologen Bedenken vor, weil sie meinen, dass nicht jedes psychische Phänomen dieses Selbstwissen einschließt. Beide Sichtweisen sind extrem. Denn da alle psychischen Phänomene mit dem Bewusstsein verbunden sind, kann es ohne ein mehr oder weniger klares Selbst-Bewusstsein kein Wissen von ihnen geben. Selbst-Bewusstsein entsteht immer dann, wenn das Subjekt erkennt, dass die psychischen Zustände aufeinander und auf Bewusstsein bezogen sind. Bewusstsein umfasst die physiologische Basis, die man im Nervenmechanismus findet, bestehend aus dem Zentralen Nervensystem, den Nervenbahnen und den Endorganen. Davon hängt in einem gesunden Zustand, der auf angemessener Ernährung des Gehirns und der Nervenbahnen beruht, die funktionelle Aktivität des bewussten Lebens ab. Bewusstsein ist nicht jeweils auf eine einzelne Tatsache begrenzt, weil es ständig eine Gruppe von Tatsachen oder Objekten enthält. Was seine Intensität anbelangt, variiert Bewusstsein bei verschiedenen Individuen beachtlich. Das gilt auch für die Geschwindigkeit der mentalen Prozesse, die nur im Licht bewusster Evolution verstanden werden können. Beim Kind etwa gibt es kein derartiges Bewusstsein von sich selbst und von Tatsachen oder Objekten, wie wir es beim Erwachsenen feststellen. Zwar ist der Geist auf beiden Stufen unzweifelhaft derselbe, doch im Zuge der Entwicklung hat sich das Unterscheidungsvermögen dank der mentalen Aktivität in Vergleich und Gegensatz zu einer solchen Exaktheit verfeinert, dass das bewusste Wissen erheblich erweitert worden ist. Bewusst zu sein heißt also, ein mentales Leben zu leben, wobei sich dieses mentale Leben mit der zunehmenden Vervollkommnung der mentalen Funktionen entwickelt. In dieser psychischen Entwicklung kennzeichnet das Unterscheiden zwischen »Ich« und »Nicht-Ich« das prinzipielle Charakteristikum der Evolution, ergänzt durch Vergleich und Kontrast. Wird dieser Bereich des Bewusstseins differenziert und im Bewusstsein vom bewussten Subjekt getrennt, erreicht der Geist jenes höhere Bewusstsein, das für den erwachsenen Zustand charakteristisch ist. Wir müssen uns daran erinnern, dass das Bewusstsein durch seine gesamte Geschichte hindurch »nicht weiterexistiert, wenn die Prozesse, derer wir uns bewusst sind, vergangen sind. Es verändert sich ständig mit ihren Veränderungen und lässt sich nicht von ihnen unterscheiden« (Wundt).

Teil I:
Die physiologische Grundlage der mentalen Phänomene im Nervensystem

Thomas Brown stellt fest: »Das Wahrnehmende ist genauso Teil der Natur wie die wahrgenommenen Objekte, die auf es wirken. Und als Teil der Natur ist es selbst ein Objekt rein physikalischer Erforschung.« Das scheint sich ganz von Schellings Auffassung zu unterscheiden, der Leben als »Prinzip der Individuation« definiert, und ist dennoch nicht unvereinbar mit ihr. Denn wo immer es im Nervenmechanismus Ganglienzellen gibt, finden wir die Grundlage jener Individuation, die den krönenden Höhepunkt des menschlichen Lebens darstellt. Ziehen schreibt in der Einleitung zu seinem Werk Physiologische Psychologie, er akzeptiere fürs Erste die Antithese materieller und psychischer Phänomene in der Hoffnung, später eine Brücke zu entdecken, die die Kluft zwischen den beiden Gegensätzen überspannt. Für uns macht es keinen Unterschied, ob alle psychischen Phänomene mit begleitenden materiellen Prozessen einhergehen oder nicht. Aus unserer physiologischen Sicht kann es jedenfalls keine psychischen Prozesse ohne begleitende neuronale Prozesse geben – denn gäbe es sie, würden sie in den Bereich der Metaphysik gehören. Es existiert eine hinreichende Grundlage für psychische Aktivität im physiologischen Organismus.

Die Evolutionstheorie hat zwei neue Perspektiven entwickelt, aus denen der Organismus zu betrachten ist. Jede wirklich biologische Anschauung muss mit zwei Arten von Anpassung übereinstimmen: (a) »der des Organismus an seine Umwelt« und (b) »der von Organen an Funktionen« (Comte). Wir betrachten jetzt die zweite Anpassung. Die Anpassung des Organismus in der Entwicklung des Nervenmechanismus werden wir später erörtern. Mit zunehmendem Komplexerwerden des Organismus vervollkommnet sich die Spezialisierung der Funktionen. So zeigen z. B. Experimente, dass die kortikalen Zentren voneinander getrennt sind. Und diese Trennung hat ihre Basis in der Gehirnsubstanz.

Der menschliche Körper besteht wie jener der höheren Tiere aus zwei Teilen:

(1) dem Mechanismus des organischen Lebens, der mit dem Blut und mit allem, was das Körpergewebe aufbaut, verbunden ist, wobei das Blut im Kreislauf gehalten und gereinigt wird;

(2) dem Mechanismus des animalischen Lebens, wozu die Muskulatur, das Nervensystem und die Sinnesorgane gehören.

Beide Mechanismen sind wesentlich für die Vollständigkeit des menschlichen Organismus und beide werden eigentlich vom Nervensystem gesteuert, das durch Blut, Atmung, Ernährung und Sekretion seine Stärke zeigt. Bei allen höheren Tieren stellt der Nervenmechanismus das Instrument aller psychischen oder physischen Funktionen des animalischen Lebens dar. Wo immer wir ein bestimmtes Nervensystem vorfinden, finden wir zwei elementare Strukturteile, bestehend aus Nervenstämmen, die sich in verschiedene Teile des Körpers erstrecken, und aus Ganglien, die gelegentlich in kleinen Knoten entlang des Stamms und in anderen Teilen als große zentrale Zellenansammlungen auftreten. Letztere werden durch das Gehirn und das Rückenmark repräsentiert, Erstere durch die Nervenfasern. Im Unterschied zu den Pflanzen besitzen alle Tierarten – mit Ausnahme einiger der allerniedrigsten – ein Nervensystem. Das animalische System stellt einen materiellen Mechanismus dar, dazu entworfen, einen Zweck zu erfüllen. Nervengewebe ist charakteristisch für animalisches Leben. Das Nervengewebe und seine funktionelle Aktivität ähneln sehr stark der Kontraktilität im Muskelgewebe. Es ist – zumindest im Fall der Motoneuronen – durch Endplatten eng mit den Muskeln verbunden. Dennoch gibt es wesentliche Unterschiede zwischen Muskel- und Nervengewebe, denn das Nervengewebe hat, vor allem in Bezug auf das Zentrale Nervensystem, auf das Gehirn und das Rückenmark, ganz eigene Funktionen. Die erste große Funktion des Nervensystems besteht in der harmonischen Vereinigung verschiedener physischer wie psychophysischer Elemente. Ungeachtet ihrer Entfernung voneinander funktionieren die verschiedenen Teile des Systems aufgrund des Nervensystems abhängig und korrelativ. Ebenso ist der gesamte Körpermechanismus mit der Außenwelt verbunden. Mentale Entwicklung ist durch neuronale Gegebenheiten bedingt und unsere Sinnesempfindungen entstehen alle aus dem Nervensystem, durch das wir auch äußere Dinge wahrnehmen. Blutkreislauf, Atmung und alle anderen Körperfunktionen funktionieren durch das Nervensystem. Trifft den Körper ein kalter Zug, nehmen die Nervenzellen ihn auf und transportieren Impulse, die Herz und Lungen verändern und muskuläre Kontraktionen hervorrufen. Auch die Körpersekrete verändern sich und sogar die psychische Balance kann gestört werden. Dies alles vollbringt der Nervenmechanismus mit seinen Endorganen, leitenden Nervenzellen und -zentren. Das Sehen eines Objektes hat bestimmte Gedanken zur Folge, die ihrerseits Muskelaktivität erzeugen, durch die wiederum sämtliche physiologischen Aktivitäten und Beziehungen des Körpers verändert werden.

 

Nervenmechanismus

Wenn wir den Begriff Nervenmechanismus zur Beschreibung der physiologischen Basis mentaler Phänomene verwenden, müssen wir zunächst die primären Elemente des Nervensystems untersuchen, und zwar

(1) in Bezug auf ihre Struktur, Beschaffenheit und Form und

(2) in Bezug auf ihre Funktionen.

Die notwendige strukturelle und funktionelle Basis liefern uns Histologie, Anatomie und Physiologie. Mit ihnen müssen wir beginnen, weil sie das Fundament bilden, auf der die Psychologie aufbaut. Bauen wir ihnen keinen festen Sockel, wird unsere Psychologie ein Luftschloss sein. Der Mensch unterscheidet sich von den Tieren nur in der Entwicklung und dem erweiterten Wirkungsbereich der Nervensystemfunktionen. Wir werden diese Entwicklung, was den Organismus und die Organe in Bezug auf die Anpassung an ihre Funktionen anbelangt, später betrachten, nachdem wir uns mit der grundlegenden Basis in der gegenwärtigen Chemie, Anatomie und Physiologie des Nervensystems beschäftigt haben.

Chemisch wurde das Nervensystem bisher noch nicht verstanden, weil die lebenden Elemente im lebendigen Zustand nicht der Analyse unterworfen werden können. Zahlreiche chemische Substanzen repräsentieren Produkte des Lebens, die sich beim Eintreten des Todes nicht mehr als existent oder zumindest nicht mehr als in der lebenden Form existent bezeichnen lassen. Zudem macht es der komplexe und instabile Charakter der mit dem Nervensystem verknüpften Verbindungen noch schwieriger, den Nervenmechanismus chemisch zu analysieren. Zweifellos finden jedoch bei jeder mentalen Veränderung korrelative Veränderungen im Nervensubstrat statt, sodass alle mentalen Phänomene in Verbindung mit irgendeiner materiellen oder vitalen Veränderung in den Nervenelementen erscheinen. Es steht fest, dass chemische Veränderungen eine wichtige Rolle im Nervenmechanismus spielen. Und in Bezug auf das Nervengewebe wissen wir zumindest so viel, dass es hochkomplexe Bestandteile enthält, die sich leicht zersetzen. Die Elemente bestehen weitestgehend aus Kohlenstoff und Wasserstoff, die einen hohen Verbrennungswert besitzen. Wir kennen zwar nicht den Weg der Synthese, doch wir wissen, dass es im Zusammenhang mit dem Nervengewebe eine solche Synthese gibt. Die vom Blut gelieferte Nahrung bildet eine sehr instabile Kombination an Eiweißverbindungen mit hohem energetischem Wert, der bei ihrer Zersetzung als potenzielle Energie an die Nervensubstanz abgegeben wird. Darin finden wir das, was Coleridge »die innersten Prinzipien seiner Fähigkeit als eine Dampfmaschine« genannt hat. Nervengewebe sind weiß oder fibrös und grau oder vesikulär und differieren in ihrem spezifischen Gewicht. Dainlewski zufolge variiert das spezifische Gewicht der grauen Substanz von 1029 bis 1039, das der weißen von 1039 bis 1043. Der Gewichtsunterschied beruht auf den unterschiedlichen Anteilen an Wasser und festen Bestandteilen. Im Gehirn eines Fötus schwankt der Wassergehalt zwischen 89 und 92 %, Wasser, im Gehirn eines Erwachsenen zwischen 69 und 84 %. Die weiße Substanz enthält etwa 69 %, die graue ungefähr 83 % Wasser. Variationen dieser relativen Beträge lassen sich in den verschiedenen Bereichen des Gehirns und des Rückenmarks feststellen, wobei die lumbale Region des Marks einen größeren Wasseranteil aufweist als die zervikale Region. Bei den Nervenzentren stellen wir fest, dass mehr als 50 % der Feststoffe in der grauen Substanz und ungefähr 25 % der Feststoffe in der weißen Substanz aus eiweißhaltiger Materie bestehen. Solche eiweißhaltigen Zusammensetzungen kommen stets in Verbindung mit den aktiven lebenden Zellen vor, obgleich wir die Beschaffenheit dieser Substanzen nicht kennen. Zusätzlich entdecken wir Cholesterin, Neurokeratin, Zerebrin und Lezithin. Das Cholesterin stellt eine alkoholische Substanz dar, die sich insbesondere in der weißen Substanz der Nervenzellen und der Axis cerebrospinalis feststellen lässt. Das Neurokeratin findet sich in der grauen Substanz der Nervenzentren und in Verbindung mit den myelinisierten, nicht aber mit den nicht-myelinisierten Nervenfasern. Zerebrin ist eine phosphorfreie Substanz, ausgefällt aus in Bariumwasser gekochter Gehirnsubstanz. Man hat angenommen, dass diese Substanzen zusammen mit phosphorhaltigen Fetten aus dem Abbau von Protagon stammen. Diese phosphorhaltigen Fette scheinen mit dem Nervenaufbau zusammenzuhängen. Man findet solche phosphorhaltigen Zusammensetzungen vor allem bei den Nervenzentren, wobei Protagon und Lezithin die Hauptsubstanzen sind. Protagon wurde 1865 von Liebreich entdeckt und so bezeichnet, weil er es für den ersten festgestellten Bestandteil der Hirnsubstanz hielt. Es ist bislang tatsächlich die einzig bekannte phosphorhaltige Verbindung im Gehirn und die einzige chemische Substanz, deren Vorhandensein im Gehirn aufgezeigt werden kann und die Grundlage für physiologische und psychologische Funktionen bildet. Daher betrachtet man Protagon als eines der unmittelbaren Bestandteile des Gehirns. Lezithin bezeichnet eine organische phosphorhaltige Verbindung, die in großen Anteilen im Nervengewebe vorkommt und einen höheren Phosphoranteil besitzt als Protagon. Im Zusammenhang mit dem Abbau von Protagon oder Lezithin entdecken wir Neurin, das Endprodukt von Veränderungen im Gehirn, und im Zusammenhang mit funktioneller Aktivität stellen wir bestimmte Stoffwechselprozesse fest, bei denen es zur Produktion von Milch-, Kreatin- und Harnsäure, Xanthin sowie Ameisen- und Essigsäure kommt. Sie entstehen wie bei einem Muskel in Verbindung mit funktioneller Aktivität, sodass es bei einem Gedankenablauf zu einer Veränderung in der organischen Substanz kommt, die sich auch in energetischen Abbauprozessen beim Denkvorgang zeigt. Die Endprodukte neuronaler Aktivitäten entsprechen einander. Ähnlich ist die Reaktion des Gehirns im Ruhezustand neutral, wird aber während großer Aktivität wie auch unter dem Einfluss von Fäulnisveränderungen nach dem Tod deutlich azide. Im Zusammenhang mit mentaler Aktivität, die mit Gehirnaktivität verbunden ist, kommt es zu einem Nervenzerfall, bei dem Phosphor in Form von Phosphaten über den Urin ausgeschieden wird.

Die Zellkörper sind weitestgehend protoplasmatisch und deshalb sehr reich an eiweißhaltigen Substanzen. Die graue Substanz ist durch weniger phosphorhaltige Verbindungen gekennzeichnet. Schwann’sche weiße Substanz ist sehr reich an phosphorhaltigen Verbindungen und Cholesterin. Über die Beziehung zwischen der chemischen Zusammensetzung des Nervensystems und den Nervenfunktionen und vor allem den mentalen Phänomenen ist nahezu nichts bekannt. Und doch zeigen die äußerst feine Organisation dieses Systems und seine empfindliche Struktur, dass es spezifisch an seine besondere Art von Arbeit angepasst ist. Chemisch gesehen besteht das Nervensystem aus einer Anzahl komplexer, instabiler Verbindungen, die zeigen, dass es eine große Energiekapazität besitzt und reichlich Energie abgibt, sobald die molekularen Bewegungen erregt werden. Sehr leicht durchlaufen diese Substanzen chemische Veränderungen im Zusammenhang mit der Sauerstoffversorgung. Nervenfasern benötigen nur wenig Sauerstoff, Nervenzentren dagegen viel, denn der Sauerstoff ist für die starken molekularen Veränderungen erforderlich, die im Zellinneren stattfinden. Auf diese Weise hängt die Aktivität der Gehirnzellen von der Sauerstoffversorgung ab und bedingt eine starke Vaskularisierung des Zentralen Nervensystems, die dessen große, auf reichhaltigem Sauerstoffangebot basierende Aktivität belegt.

Die Phänomene des Bewusstseins hängen also von der Chemie des Gehirns ab oder vom Sauerstoff, der dem Gehirn in Verbindung mit dem Respirationszentrum in der Medulla, dem vasomotorischen Zentrum und den höheren Gehirnzentren geliefert wird. Sobald wir mehr über die bewussten Sinnesempfindungen wissen, entdecken wir dahinter und als Grundlage all dieser Sinnesempfindungen weitere chemische Phänomene. Was unser Farbempfinden anbelangt, stellen wir fest, dass Farbe etwas Subjektives ist. Die für Farbe zuständigen Fasern sind aller Wahrscheinlichkeit nach mit bestimmten chemischen Prozessen verbunden, die im Zusammenhang mit dem Sehsinn in der Retina stattfinden. Hinsichtlich der Beziehung dieser Prozesse zu den konstanten Phänomenen können wir keine Verbindungen zwischen den rein chemischen Veränderungen und den psychischen Phänomenen ausmachen. Geist repräsentiert nicht die Stoffe, die als Abfall ausgeschieden werden, sondern die Energie, die in Verbindung mit der Bildung dieser Produkte der Nervenaktivität entfacht wird. Sobald eine Funktion aktiv ist, findet ein Verbrauch an Materie statt. Ob die verbrauchte Materie direkt durch das Blut geliefert wird oder ein Teil der Zellsubstanz ist, lässt sich nicht genau feststellen. Allerdings scheint es so, dass die Zellsubstanz in gewisser Weise aufgebraucht wird, denn Aktivität führt zu Erschöpfung, und wo Aktivität in Form von Funktion stattfindet, kommt es zu einer Festlegung der Zellsubstanz, die die Basis für die zukünftige Ausführung derselben Funktion bildet. Die im Gehirn vorhandenen großen Mengen an Lezithin, Protagon usf. scheinen darauf hinzuweisen, dass diese Substanzen nicht einfach mit dem Blutstrom dorthin transportiert werden, sondern mit den aktuellen Zerfallsprozessen innerhalb der Nervenzellen im Gehirn zusammenhängen. Es mag einen beständigen strukturellen Teil in der Zelle geben, sicherlich existieren aber eine Anzahl instabiler Verbindungen, die im Verlauf der Gehirnprozesse ständig zersetzt und wieder aufgebaut werden. Das aus dem Blut in die Zelle Integrierte wird Teil der Zellsubstanz und beim teilweisen Abgeben der Substanz im Zuge der Zellaktivität werden die chemischen Verbindungen aufgespalten.

Was die Struktur des Nervensystems anbelangt, wirft die Anatomie viel Licht auf die Psychologie. Man unterstellt allgemein, dass die Nervenfasern und Ganglien das Nervensystem repräsentieren, übersieht dabei jedoch die Tatsache, dass die aus den Gliazellen gebildete Neuroglia – die eigentlich kein Bindegewebe, sondern in gewisser Weise Nervengewebe repäsentiert – einen beachtlichen Einfluss auf die Nervenfunktion ausüben kann. Henle zufolge unterscheidet sie sich vom Bindegewebe durch ihre chemischen Eigenschaften und hat so gesehen eine wichtige chemische Beziehung zur Nervenaktivität. Die Nervenfasern stellen Impulsbahnen dar. Die Nervenzellen umfassen:

(1) Ganglionzellen, die unregelmäßige Massen an Protoplasma mit einem Nukleus und mehreren Nukleoli mit einem oder mehreren Fortsätzen bilden,

(2) unregelmäßig geformte korpuskuläre Körper, die entweder nur aus Nuklei oder aus Nuklei mit einen geringen Protoplasma-Anteil bestehen und vermutlich sich entwickelnde Ganglionzellen darstellen,

(3) Neuroglia aus granulärer Materie, welche die Zwischenräume zwischen den Fasern und Zellkörpern füllt.

(1) und (2) stellen Nervenzellen dar, die Neuroglia das Stützgewebe.

Es gibt zwei Arten von Nervenfasern: weißlich myelinisierte, die zum Zentralen Nervensysten gehören und deshalb für die Psychologie von Interesse sind, und die nicht-myelinisierten, grauen, die hauptsächlich im Vegetativen Nervensystem vorkommen und als Bindeglied zwischen Emotionen und physiologischen Zuständen unsere Aufmerksamkeit erwecken.

Bei den myelinisierten Fasern finden wir die primitive Schwann’sche Scheide bzw. die äußere Membran mit Nukleoli, die weiße Schwann’sche Substanz, eine im lebendigen Zustand halbflüssige innere Schicht granulärer weißer Materie, und den Achsenzylinder, ein zylinderähnliches Band aus eiweißhaltiger fibriler Substanz. Man nimmt an, dass er die eigentliche Nervenstruktur bildet, da viele Nervenzellen nur aus dem Achsenzylinder bestehen, wenn man der Hülle hauptsächlich Schutz- und Ernährungsfunktion zuschreibt. Die nicht-myelinisierten Fasern besitzen keine Myelinhülle, sind wie gesagt grau und weisen auf ihrer Oberfläche in bestimmten Abständen flache Nukleoli auf. Die Größe der Nervenfasern im Körper variiert, wobei die nicht-myelinisierten im Allgemeinen kleiner als die myelinisierten Fasern sind. Ebenso schwankt die Anzahl der Nervenfasern innerhalb einer Nervenbahn: Man hat bei einem gewöhnlichen motorischen Nerv 5.000, aber auch schon 10.000 unterschieden.

 

Nach den Nervenfasern betrachten wir nun die Nervenzellen, die gewisse allgemeine Charakteristika aufweisen, obgleich sie beachtlich variieren. Sie stellen unregelmäßige protoplasmische Massen mit einem genau definierten Kern und einem oder mehreren Fortsätzen dar. In der grauen Substanz des Gehirns und des Rückenmarks sind sie in die Neuroglia eingebettet, in anderen Teilen des Nervensystems wie etwa den Ganglien sind sie mit Bindegewebe verbunden. Wir können bei der Zelle Folgendes unterscheiden:

(1) eine fibrillenartig geformte Hülle, die die Fibrillen des Achsenzylinders fortsetzt;

(2) eine feine graue granuläre Masse Protoplasma mit einem Nukleus, der einen oder mehrere Nukleoli enthält.

Nervenzellen können, je nach den sich verzweigenden Fortsätzen bestimmt in Größe, Form und Verzweigungsart (uni-, bi- oder multipolar), stark variieren. Die Form charakterisiert verschiedene Anteile des Nervensystems. Beispielsweise sind die motorischen Zellen groß, unregelmäßige Zellen gibt es in den Vorderhörnern der grauen Substanz des Rückenmarks, pyramidenförmige im Cortex cerebri und eiförmige in der grauen Substanz des Zerebellums. Ranvier versuchte, Ganglienzellen als primitiven Typ der Nervenzelle zu klassifizieren. Man sagt, dass all diese Zellen Fortsätze besitzen und dass er diese als einfache, hauptsächlich aus Nervenzellensubstanz bestehende Ausläufer der Zellkörper betrachtete, wobei die Ausläufer eine Brücke zwischen den verschiedenen Zellkörpern und zwischen ihnen und den Muskelfasern in den Endorganen bilden. Dendriten repräsentieren demnach lediglich Verlängerungen der Zellkörper – eine Annahme, zu der man inzwischen mehr neigt als früher. Man vermutet, dass einer dieser Zellfortsätze in irgendeiner Form eine Weiterführung der Dendriten in Verbindung mit dem Achsenzylinder ist und das Axon bildet.

So weit zu den beiden Grundelementen des Nervensystems. Jetzt müssen wir uns ansehen, welche Funktionen sie ausführen können. Das ist wichtig, stellen diese Funktionen doch die zugrunde liegenden Bausteine in der Physiologie und Psychologie des menschlichen Systems dar – nämlich die zu Nervenbahnen gesammelten Nervenfasern und die zu Ganglien gesammelten Nervenzellen. Diese Kombinationen liefern die gesamte neuronale Basis der psychischen Phänomene und ähneln sich in bestimmten allgemeinen Funktionen. Nervenfasern und Nervenzellen stimmen in ihrer molekularen Aktivität überein, die sich zur muskulären Aktivität klar abgrenzt. Ist diese Aktivität vorhanden, kann sie von beiden innerhalb der neuronalen Struktur von Ort zu Ort übertragen werden. Mit anderen Worten: Nervenfasern und Zellkörper sind reizbar und leitfähig – Eigenschaften, die das Nervensystem auszeichnen. Das ist die primäre Funktion beider Nervenelemente und bildet die Grundlage jeder Nervenaktivität. Sie umfasst Entstehung, Übertragung, Veränderung und Verteilung des Nervenimpulses. Dass der höchste und vollkommenste Ausdruck neuronaler Aktivität das Hervorbringen und Leiten psychischer Einflüsse ist, stimmt nicht, denn wir haben es mit der physiologischen Basis in einer materiellen Nervenstruktur zu tun, die aus bestimmten Molekülen besonderer Art besteht und sich durch neuronale Erregung und Leitung als charakteristische Funktion der Nervenstruktur auszeichnet. Zwei verschiedene Teile bilden hier demnach eine einzige Funktion: Erregbarkeit und Leitungsfähigkeit.

Obgleich mit den Teilen der Nervensystems Phänomene verbunden sind, werden diese nicht selbstverursachend oder spontan generiert. Bestimmte Stimuli außerhalb oder innerhalb des Nervensystems – etwa Veränderungen im Blut aufgrund des Fehlens oder Vorhandenseins von Sauerstoff und Kohlendioxid – lassen eine neuronale Erregung an einem beliebigen Punkt im Nervensystem entstehen. Reagiert eine Nervenzelle auf externe Stimulation, sagt man, sie zeigt Irritabilität. Ruft dagegen die Stimulation keine weitere Reaktion hervor, sagt man, sie hat ihre Irritabilität verloren. Ist der Stimulus intern auf die neuronale molekulare Verbindung bezogen, spricht man von einem erregten Nervensystem.

Sind gewisse Elemente des Nervensystems miteinander verbunden, verändert sich ihre innere Erregbarkeit und äußere Irritierbarkeit und bewirkt Funktionsveränderungen. Die Nervenzellen fungieren als Leitungen und die Endorgane oder die zentralen Organe führen korrelierende Funktionen aus. Im Zentralen Nervensystem werden viele Zellen nur durch andere Nervenzellen stimuliert. Stimuli von außen können auf ein Endorgan ausgeübt werden, wobei eine Irritation hervorgerufen wird, die mit der Beschaffenheit und Funktion des Organs am Ende der Nervenbahn übereinstimmt. Die afferenten Nervenzellen werden von diesen Endorganen stimuliert und übertragen die Stimulation zum Zentralen Nervensystem. Dagegen leiten efferente Nervenzellen den Impuls an bestimmte Muskeln, Drüsen usf. weiter, sobald sie von zentralen Organen erregt werden.

Während die Nervenfasern die Aufgabe haben, zu leiten, ist jene der Zellkörper nicht so einfach zu beschreiben, weil diese

(1) sowohl Impulsleiter sind und zugleich

(2) als Empfänger, Wandler und Verteiler der Impulse fungieren.

Die Hauptfunktion einer Nervenzelle besteht im Weiterleiten der Impulse. Dabei können sie die Impulse klassifizieren und sogar bündeln oder neu anordnen und teilen. Man vermutet, dass die mit den Zellen verbundenen speziellen Funktionen dreifacher Art sind:

(1) Automatisch. Damit wird auf den Ursprung der sogenannten vitalen Impulse Bezug genommen, die unabhängig von irgendwelchen äußeren Stimuli sind. Dieser automatische Vorgang entsteht innen, wobei die Genese noch ungeklärt ist. Eckhard zufolge ist der Automatismus zweifach und besteht aus einem regelmäßigen automatischen Vorgang in Verbindung mit den rhythmischen Bewegungen von Herz und Lungen und aus einem unregelmäßigen automatischen, den Muskeltonus steuernden Vorgang. Wie diese beiden Automatismen entstehen, ist bisher ungeklärt.

(2) Reflektorisch. Erreichen Impulse die zentralen Zellen, werden sie auf efferenten Bahnen zurückgespiegelt, wobei diese Rückspiegelung auch Veränderungen mit einschließt, die durch Modifizieren und Weiterverteilen der Impulse entstanden sind. Dies impliziert eine bestimmte Zellaktivität und einen bestimmten Stoffwechsel der Zellsubstanz während des Umwandelns eines afferenten in einen efferenten Impuls. Der Reflex stellt den einfachsten neuronalen Vorgang dar, unterscheidet sich aber Ferrier zufolge nicht grundlegend vom höchsten intellektuellen Vorgang. In diesem Sinn wird behauptet, dass sich Reflexvorgänge im Zusammenhang mit bestimmten Stimuli so modifizieren und verbessern lassen, dass sie automatisch werden. Ziehen zufolge wird diese Entwicklung durch natürliche Selektion bewirkt.

(3) Inhibitorisch. Wundt ist der Ansicht, dass bestimmte in die Zelle eintretenden Impulse dort gebremst werden. Das soll eine Erklärung für die Länge der Zeit liefern, die für die Reise entlang der Nervenbahnen erforderlich ist. Zweifellos sind die Nervenzellen fähig, die Kraft der Impulse zu verstärken oder zu vermindern, sobald diese von der Zelle empfangen worden sind. Treten afferente Impulse während der Zellaktivität in die Zelle ein, hemmen oder verstärken sie deren Aktivität. Durch tetanisches Stimulieren eines Muskels hat man herausgefunden, dass die Anzahl der Schocks mit der Anzahl der Muskelschwingungen korreliert, was zeigt, dass die Nervenzellen die Impulse in Verbindung mit den Muskeln steuern, wobei diese Steuerung von den Veränderungen der Nervenzellen abhängt. Das bildet die Basis der hemmenden Wirkung des Zentralen Nervensystems.